Ante

Ludwig liegt seit Stunden im Bett. Ein früher Nachmittag, das Zimmer abgedunkelt, die Nachtischlampe an. Er möchte, dass April und Sam sich zu ihm setzen. Vor ihm liegt ein Märchenbuch. Ich möchte euch vorlesen, sagt er.

Sam nickt, meint aber weder ja noch nein. Ludwig schaut erwartungsvoll und beginnt aus »Hans im Glück« zu lesen. Sie sitzen da und lauschen der Geschichte. Aber Ludwig ist nicht bei der Sache. Obwohl er sich Mühe gibt, es zu verbergen, spürt sie seine Nervosität.

Geht es dir gut, fragt April.

Er nickt, mit einem ihr unvertrauten Lächeln, sieht akkurat über sie hinweg, fixiert einen Punkt an der Wand.

Sie steht auf und zieht den Vorhang zurück.

Was ist? Ludwig blinzelt ins Sonnenlicht.

Ich weiß es nicht. Sag du es mir.

Er

Sie weiß es in dem Moment, als er es ausspricht; sie weiß, dass etwas endgültig zu Ende geht.

Ich habe nachgedacht, sagt er, du solltest mir deinen Anteil der Wohnung überschreiben, und ich zahle dich aus.

Warum jetzt, fragt sie.

Was Ludwig ihr nun zu erklären versucht, hört sich falsch an.

Sam lacht, peinlich berührt. Ein Äderchen pulsiert auf seiner Stirn, er steht auf und geht hinaus.

Du willst dich von mir trennen, sagt April.

Was für ein verrückter Gedanke. Vertrau mir, sagt er, seine Stimme hat den Beschwörungston angenommen.

Bist du deshalb zurückgekommen? Sie spürt den Eispfropfen in der Brust, der sich löst, ihr seine Kristalle in die Kniekehlen jagt. Sie hat dieses Empfindungsgewitter mit All analysiert, doch sie kann sich noch immer nicht davor schützen. Ihr Atem wird flach. Warum machst du das, fragt sie.

Du musst mir vertrauen, sagt Ludwig und kneift die Augen zusammen, als käme eine Migräneattacke auf ihn zu, aufsteigende Tränen ersticken seine Stimme. Es fällt mir nicht leicht, sagt er, aber es muss sein.

April schlägt mit der Faust gegen die Wand, so heftig, dass ihre Fingerknöchel anschwellen.

Eine helle Explosion, die Ludwig erlöst. Er geht.

Splitters

Ein Frau, um die sechzig, die ergrauten Haare kurz geschnitten, Yin-Yang-Ohrstecker, knallrote Lippen. Nichts deutet darauf hin, dass sie vorhatte, sich umzubringen. Aus dem Leben kommst du nicht lebend raus ist ihr Motto. Sie habe nicht vor, sich zu Tode zu fürchten – dann lieber gleich weg! Besser tot als das ganze Leben Winterschlaf. Ihre Stimme ist fest, als sie von ihrer Angst erzählt, kein Arzt hatte ihr helfen können, und die Tabletten waren eine ewige Betäubung. Ihre Tochter hatte sie gefunden, als sie mit einer Plastiktüte über dem Kopf auf ihre Wiedergeburt wartete.

Als was wollten Sie wiedergeboren werden, fragt Splitter.

Ich würde gern ein Mensch sein, antwortet die Frau.

Sie träumt den Traum seit Jahren. Kinder, acht-, neunjährig, Mädchen und Jungen, werden von Uniformierten aufgefordert, sich auf eine Bühne zu stellen, um dort eine Erschießung zu spielen. Die Kinder lassen sich von den Erwachsenen überzeugen und gehen frohgemut nach vorn. Sie summen und stellen sich nebeneinander. Die Männer beginnen zu schießen – es sind echte Patronen, die Kinder werden getroffen, knicken ein, fallen zu Boden. Aber sie richten sich wieder auf,

April wünscht sich, der Traum wäre endlich ausgeträumt. Sie zieht die Gardinen zurück, graues Dämmerlicht erfüllt das Zimmer. Es ist früher Morgen, schlaftrunken weckt sie Sam, der tausend Jahre weiterschlafen möchte. Beim Frühstück bleibt er wie immer wortkarg, trinkt nur seinen Tee; morgens scheint ihm sein Zuhause ein öder Ort zu sein. Als Sam sich verabschiedet hat, trägt April den Dackel nach unten und lässt ihn im Gebüsch verschwinden. Dann geht sie in die Bäckerei, und während sie ihren Kaffee trinkt, erfährt sie von der Verkäuferin, was so los ist im Viertel. Aber das ist ein Vorgeplänkel zu ihrem eigentlichen Thema: Fußball. Einmal nur hat April den Unionsschal aus der Altkleidersammlung getragen, seitdem weiß sie über den Verein Bescheid, kennt die Eigenarten des Trainers und natürlich jedes Spielergebnis; die Verkäuferin besitzt Autogramme sämtlicher Spieler.

Doch heute möchte April nicht sprechen, sie fühlt sich wie unter Wasser. Vor zwei Monaten ist Ludwig ausgezogen. Er hat am Vorabend angerufen, um über die Aufteilung der Wohnung zu sprechen. April will ein Satz nicht aus dem Kopf gehen: Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn mein Glanz nicht mehr auf dich abstrahlt. Nach einem kurzen Auflachen wurde ihr klar, dass er es ernst meint.

Mit

Splitter verschluckt sich vor Lachen, all ihre Kollegen lachen schallend. April hat etwas gesagt, was den Lachanfall ausgelöst hat, aber sie hat keine Ahnung, was daran lustig sein soll – das passiert ihr immer öfter.

Splitter will in seiner nächsten Sendung Frauen vorstellen, die Verbrecher lieben. Der Vorschlag kam von seinem Assistenten, und sie sieht ihm an, wie stolz er darauf ist. Ein guter Vorschlag, findet auch sie, doch April weiß nur allzu gut, dass Splitter es vermasseln wird.

Eine Frau kommt zur Vorbesprechung. Sie heißt Monique, eine alt gewordene Häsin, große ramponierte Ohren; wenn sie redet, zuckt ihre Nase mümmelnd. Sie

Mehrere, fragt Splitter.

Zwei oder drei, antwortet Monique.

Als sie gegangen ist, reißt Splitter den Daumen nach oben, die hab ich im Kasten, sagt er, fixiert die Wand hinter April. Was sagst du?

Sie zuckt mit den Schultern. Eine ehrliche Antwort würde nur einen weiteren Lachanfall auslösen: Etwas an der alten Häsin erinnert sie an sich selbst. An die Sehnsucht, eine Öse im Korsett zu lockern, ein wenig zu verkommen – und dafür war nicht einmal ein Mann im Gefängnis nötig, der sie brauchen und ihr doch nicht zu nahe kommen würde.

April hat die Scheidung eingereicht. Sam wird dreizehn. Daggi schenkt ihm einen Zauberkasten. Das ist seine Lieblingsbeschäftigung dieses Sommers gewesen: Zaubern. April hat den Eindruck, als wolle Daggi mit dem Geschenk an eine Zeit anknüpfen, die bereits vorbei ist, obwohl sie nur wenige Wochen zurückliegt. Sams Freunde poltern durch die Räume, ihre Rufe und Schreie übertönen sogar die laute Musik. Hugo ist außer sich, springt bellend in die Luft, als würde er rohes Fleisch riechen. Plötzlich steht Ludwig im Raum, ohne dass

Ludwig vermittelt ihr ein Gefühl von Verbundenheit. Die Scheidung erwähnt er mit keinem Wort, er berichtet ihr stattdessen von einer blöden Sache. Ludwig hat sich in einer Fachzeitschrift negativ über die Wirksamkeit eines Medikaments geäußert und ist damit einem Kollegen in den Rücken gefallen.

Ich dachte, ihr seid befreundet, sagt April.

Es könnte mir das Genick brechen, sagt er. Ich hätte es nicht öffentlich machen sollen, zumal die Langzeitstudien noch nicht ausgewertet sind. Ich bin zu weit gegangen. Was soll ich tun?

Deswegen hast du es getan, sagt April, weil es dir das Genick brechen könnte.

Sie hat längst begriffen, Ludwig muss den Grund unter sich in einen brodelnden Abgrund verwandeln und das Gefühl haben, der Sturz sei unausweichlich, wie ein Spieler, der blufft, obwohl alles verloren ist. Eine letzte Gemeinsamkeit, die sie teilen. Auch April muss die Seile kappen, auf denen sie sich wie eine Seiltänzerin bewegt, ohne nach unten zu schauen, sie muss alles zerstören, sodass es kein Zurück mehr gibt und sie sich im vertrauten Elend einrichten kann. Bisher ist Ludwig immer davongekommen, und seine Einsätze werden höher.

April ist trotzdem verwundert über seinen Anruf Tage später. Er beschimpft sie, außer sich vor Wut. Er ist stillschweigend davon ausgegangen, dass sie den Scheidungsantrag zurückgezogen habe. Deine Schonzeit ist nun abgelaufen, sagt er. Ich werde dich zertreten wie einen Parasiten.

Hallo, möchte ihm April zurufen. Ich bin es. Kennst du mich nicht mehr? So klingt seine Stimme nur, wenn er über einen Feind spricht.

Du wirst mir sogar die ganze Wohnung überschreiben, sagt er, dann kannst du deine Scheidung haben.

Ich werde gar nichts tun, sagt sie.

Sieh dich vor, sagt er. Ich werde dich vernichten.

Du kannst mich mal, sagt April trotzig und fühlt ihre Knochen schwer werden vor Zorn.

Ich werde dir Sam wegnehmen.

Du wirst was?

Du hast richtig gehört.

Wie willst du das tun?

Ich mach ihm klar, wer du wirklich bist.

Kurz

Ich werde mir dabei nicht selbst die Finger schmutzig machen.

April legt den Hörer auf.

Zuerst ist sie ungläubig. Dann kehrt ihr Zorn zurück und sie ist wütend über ihre Fassungslosigkeit. Wie oft hat sie sich gesagt: Sieh den Menschen ganz. Was Ludwig seinen Feinden antut, kann er auch seinen Freunden antun, er muss sie nur zu seinen Feinden erklären.

 

Bei ihrer letzten Begegnung hatte Ludwig sie kalt und distanziert angesehen, wie verwundert, sie gekannt zu haben. Nur noch Verachtung für sie übrig. Doch auch April betrachtet Ludwig anders. Ungläubig, ohne Rührung, sie muss an Keller denken – warum hat sie betont, dass Ludwig ein guter Mensch sei?

Als Splitter sie in der Redaktionskonferenz anspricht, hört sie weder seine Worte noch die Stille danach. Erst durch sein Fingerschnippen taucht sie auf, beantwortet seine Frage, als wäre nichts geschehen.

 

Sam wird von einem Jungen aus der Schule schikaniert. April ruft die Mutter des Jungen an und bekommt zu hören, dass sie sich da raushalten solle. Sam verschanzt sich in seinem Zimmer, ist wütend, dass sie sich einmischt – will die Angelegenheit selbst regeln. April aber hält den Schmerz ihres Sohnes nicht aus. Sie wird panisch, als wäre sie die Leidtragende, fühlt sich immer noch als das verstoßene Kind; doch ihre Unfähigkeit multipliziert

Er entgleitet ihr, doch wenn er Fußweh hat – Wachstumsschmerzen, sagt die Ärztin –, weckt er seine Mutter, und sie massiert seine Füße, singt ihn leise in den Schlaf.

Ludwig hat in die Scheidung eingewilligt. Sie einigen sich schriftlich darauf, dass er die Bilder und Grafiken behält und sie die Möbel und alles andere aus der Berliner Wohnung. Er holt die Sachen ab, als sie nicht da ist. In einem weiteren Brief beansprucht er ein altes Tintenfass.

Ab und an sitzt sie in der Kneipe von Daggis Eltern, redet mit Daggis Vater, der hinter dem Tresen steht. Seine Cocktails heißen »Harmonie«, »Engel«, »Eintracht«. Sie bestellt immer einen »Erlöser«, der woanders »Daiquiri« heißt.

Sie spürt die Kälte nicht, tanzt in Sommerkleidern bis zum Morgengrauen, wechselt Frisuren und Haarfarben. Doch es gelingt ihr nicht, Freude zu empfinden. Sie kommt sich vor wie früher als Kind, als auf Freude stets Ernüchterung, dann Strafe folgte.