Was

Sie trifft Ludwig in einem Café und macht ihm ein Angebot. Er kann sie mit einer Summe auszahlen, wenn er nicht in Revision geht. April nennt die Summe. Ludwig sieht sie an, als wäre sie ein ganz und gar anbetungswürdiger Mensch. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Das würdest du tun, sagt er, du bist mein Goldstück, mein allerliebstes Goldstück.

Sie spürt Argwohn, Erleichterung, Scham. Sie kann sich nicht zurückhalten, ihn zu fragen, warum sie immer noch zu seinem Konto Zugang hat. Da siehst du mal, wie sehr ich dir vertraue, sagt er und beteuert aufs Neue seine Ergebenheit: Du bist mein Goldstück und wirst es immer bleiben.

April muss sich zusammenreißen, um nicht böse aufzulachen.

Sam

April weiß auf einfachste Fragen keine Antworten. Sie geht die Straßen entlang, ist gerührt von singenden Vögeln in den Bäumen, um gleich darauf knisternde Rachegedanken zu haben. Der Boden unter ihr ist brüchiger geworden. Die Luft riecht nach Gefahr. Was, wenn sie den Prozess nicht gewonnen hätte? Ludwig hatte ein ganzes Heer von Zeugen aufgefahren, die wissen mussten, dass er log, oder denen es egal war. Manche der Zeugen sind ihr nach wie vor unbekannt, sie ist ihnen nie begegnet. April spürt nichts außer Kälte, ihr Herz ein Loch, durch das der Wind pfeift. Sie entwickelt Marotten, Ticks, beißt in Chilischoten, um den einen Schmerz mit dem anderen zu vertreiben, sie hat immer eine Handvoll Schoten dabei. Sie wünscht sich Ruhe, Geborgenheit, eine Zuflucht und beschließt, einen zweiten Hund zu kaufen, einen Welpen, der sie braucht, um den sie sich kümmern kann.

Sie meldet sich auf eine Zeitungsannonce. In einer Neubausiedlung im zwölften Stock folgt sie einer mürrisch aussehenden Frau in die Küche. Der beißende Geruch nimmt ihr den Atem, Wellensittiche fliegen umher, ein schwangerer Teenager sitzt rauchend am Fenster.

Das

Am liebsten möchte April verschwinden, ohne den Welpen, doch sie bringt es nicht fertig. Sie nennt die kleine Hündin Penny. Eine schwarz-weiße Promenadenmischung mit leichtem Silberblick, die sich knurrend ihren Annäherungsversuchen entzieht. April denkt, dass sie dem Hund ähnelt, der ängstlich nach ihrer Hand schnappt und niemandem vertraut.

April streift mit All durch die versteckten Winkel ihrer Kindheit; sie wünscht sich, ihre Brüder zu sehen. Ihr Bruder Elvis reagiert zuerst auf ihren Brief. Er steht unangemeldet vor ihrer Wohnungstür, ein junger Mann, blondierte Haare, ein Goldkettchen auf der glatten Brust. Er geht durch ihre Wohnung, nimmt aufgeschlagene Bücher in die Hand, legt sie zurück, öffnet einen Schrank – sein Auftritt kommt ihr vor wie ein feindlicher Einmarsch. Er ist Immobilienmakler, kinderlos und redet ohne Unterlass. Er stellt ihr keine Fragen. Das ist also ihr kleiner Bruder, denkt sie, seinetwegen ist sie aus dem Kinderheim abgehauen, nach ihm hat sie sich vor Sehnsucht verzehrt.

Sie telefoniert mit ihrem Bruder Alex. Er hat einen Sohn, drei Jahre jünger als Sam. Sie verabreden eine gemeinsame Reise mit ihren Kindern. Als der Zug in Verona

Na, Schwester, sagt Alex, lange nicht gesehen.

Na, Bruder, antwortet sie.

Sam begrüßt seinen Cousin, sie geben sich die Hand wie zwei Erwachsene.

April und Alex fragen sich, wie lange ihre letzte Begegnung her ist. Obwohl sie es genau weiß, tut April so, als rechne sie nach. Zehn Jahre, sagt sie, zwanzig, dreißig.

Vierzig? Alex lacht schallend.

Das Eis ist gebrochen, sie nehmen ein Taxi, fahren zu dem Haus am Gardasee, das April für drei Tage gemietet hat. Alex hat langes Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Naht am Hemdkragen hat sich gelöst, seine Fingernägel sind bis auf die Haut abgebissen. Noch im Auto will er von ihrer Mutter erzählen. Kein Wort über unsere Mutter, sagt sie.

Ich hasse sie auch, sagt Alex.

Nein, sagt sie, darum geht es nicht. Sie streckt die Hand aus dem geöffneten Fenster, atmet so, wie All es ihr beigebracht hat.

Alex starrt nach vorn, durch die Windschutzscheibe.

Im Rückspiegel betrachtet sie Moritz. Er ähnelt seinem Vater, so wie Sam ihr ähnelt. Obwohl Moritz jünger

 

Im Haus angekommen, entdeckt Alex auf dem Garderobentisch sofort die Weinflasche neben dem Obstkorb. Mit der Flasche in der Hand nimmt er das Haus in Augenschein. Tolle Bude, ruft er.

Ja, sagt April und folgt ihm. Das Haus ist alt, keine Vorhänge an den Fenstern, grellweißes Licht gibt den Räumen etwas Kulissenhaftes. Sie öffnet ein Fenster, quer durch den großen, verwilderten Garten verläuft ein Stück rostiger Schienen, die Luft flirrt vor Hitze. Unkraut, Weizen, Glockenblumen, Margeriten, wie auf einem stillgelegten Bahnhof.

Hier möchte ich leben, sagt April, in so einem Garten.

Du hast das halbe Leben noch vor dir, sagt Alex.

Sie stellt sich ihr halbes Leben wie einen geteilten Apfel vor und muss lachen. Du kannst die Flasche öffnen, sagt sie, ich nehme auch ein Glas, und geht in die Küche. Über dem Herd hängt ein Stierschädel.

Gruselig, sagt Alex und greift sich mit beiden Händen an den Kopf, als wolle er ihn zurechtrücken.

April gießt sich Wein ein und sagt: Weißt du, was ich mir vorstelle, wenn ich an den Tod denke? All die Insekten, Spinnen, Fliegen, Mücken, die ich getötet habe, werden mich erwarten.

Auch gruselig, sagt Alex.

Sie weiß plötzlich nicht, worüber sie mit ihrem Bruder

Er beginnt zu singen, Lieder aus der Schule, das Vietnam-Siegeslied, und April stimmt ein.

Spät in der Nacht ist der Tisch gesäumt von leeren Weinflaschen und sie singen noch immer. Sam und Moritz haben sich verzogen, beobachten sie aus sicherer Entfernung. April prostet dem Mond zu, er trägt die Züge ihres Vaters, kurz darauf die einer vietnamesischen Freiheitskämpferin.

 

Am nächsten Morgen fühlt sich ihr Kopf an wie ein riesiger Ballon. Die Sonne hat alles in glühendes Orange getaucht. Als sie in die Küche kommt, sitzt Alex bereits am Tisch.

Guten Morgen, sagt sie, bist du auch so verkatert?

Aspirin oder weitertrinken, sagt Alex, ohne den Blick zu heben.

Aspirin habe ich schon, antwortet sie.

Na, dann trinken, sagt Alex.

April ist sich sicher, heute keinen Schluck herunterzubekommen.

Wenig später hält Alex ein Bier in der Hand. Stützbier, sagt er.

April will baden gehen, ihr Bruder im Haus bleiben. Ich halte die Stellung, sagt er.

Nach dem Schwimmen liegt sie mit Sam und Moritz im Sand. Das hat gutgetan, sagt sie. Ich bin dem Kater davongeschwommen.

Moritz

Die von Störtebeker?

Ja, genau die, und dass wir von einem ungarischen Husaren abstammen würden.

Schade, sagt Moritz, ich hätte meinen Opa gerne kennengelernt.

Er war Trinker, sagt Sam.

Ja, aber auch ein Künstler, er hat Segelschiffe gemalt.

Vielleicht werde ich Maler, sagt Sam.

Dann fragt Moritz: Was ist groß und weiß und rollt den Berg hinauf?

Als Sam nicht antwortet, sagt er: Eine Lawine, die Heimweh hat.

 

Abends hat Alex gekocht, der Tisch ist gedeckt; gebratener Fisch mit Rosmarinkartoffeln. Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst, sagt April.

Oh, du weißt ’ne Menge nicht. Sein Atem riecht nach Alkohol. Moritz und Sam vergleichen ihre Körperbräune, Moritz hat einen Sonnenbrand. April zieht sich einen Pullover über, obwohl das Thermometer über dreißig Grad zeigt.

Nach dem Essen will Alex noch in den Ort. Da gibt es eine Bar, sagt er. Jungs, ihr kommt ohne uns klar? Moritz und Sam nicken überaus rhythmisch, scheinen erfreut.

In der Bar bestellt Alex sofort zwei doppelte Wodka. April hat die Arme vor der Brust verschränkt. Sie fragt sich, warum sie hier sitzt. Hat sie nicht genug mit sich selbst

Die anderen Gäste reagieren nicht, und sie bestellt ein Glas Wein, er den nächsten Wodka.

Hältst du mich für schlecht, bloß weil ich trinke?

Was soll sie sagen? Ihr Kopf ist leer. Sie nimmt das Glas vom Barkeeper entgegen, sieht Alex an: Auf was wollen wir trinken?

Auf uns, sagt er und beginnt nun doch von ihrer Mutter zu erzählen. Er hat sie vor einem Jahr besucht. Sie ist sonderbar geworden, sagt er, steht hinterm Zaun, beschimpft die Nachbarskinder. Weißt du noch, wie sie uns erschreckt hat?

April zuckt die Achseln, zündet sich eine Zigarette an.

Wie sie nachts mit einem Nylonstrumpf über dem Kopf in unser Zimmer gekommen ist?

Nein, sagt sie, obwohl sie sich genau erinnert: das Gesicht ihrer Mutter eine Fratze, das Tränen lachte über die Angst ihrer Kinder.

So gruselig war das, sagt er.

Die Nacht endet mit einem Spaziergang. Auf der Straße schleudert Alex betrunkene Worte in Richtung Himmel. Dann springt er unvermittelt eine Böschung hinunter und brüllt: Du liebst mich nicht! Sie wartet, bis er wieder hochkommt. Er rennt eine Weile vor ihr her, springt noch mal die Böschung hinunter: Aber ich liebe dich. Das ist die Wahrheit, ruft er. Der Morgen zieht

 

Eine Woche später, als sie in der S-Bahn sitzt, denkt sie, er hat recht gehabt: Sie liebt ihren Bruder nicht. Selbst wenn sie ihn lieben könnte, es wäre immer zu wenig. Sie spürt Mitleid mit ihm und sich selbst. Zu ihren Füßen sitzen Penny und Hugo, sie kommt aus dem Grunewald. Ihr gegenüber hält eine ältere Frau einen Mops auf dem Schoß, der Anblick hat etwas Intimes und gleichzeitig Abstoßendes. Die Hündin, die Pfoten von sich gestreckt, fiept ungeduldig, während die Frau versucht, das Tier zu beruhigen, indem sie den Bauch der Hündin und ihr Geschlecht streichelt. Sie wird Alex nicht mehr treffen, er erinnert sie zu sehr an ein Leben, von dem sie hofft, es hinter sich gelassen zu haben. Ist das überhaupt möglich? Bei Tieren nennt man es Prägung, denkt sie und beobachtet, wie die Hündin das Gesicht der Frau ableckt. Sie spürt Tränen aufsteigen, versucht nicht losheulen und knetet ihre Hände. Der Himmel hat sich verdunkelt, Regentropfen schlagen an die Fensterscheiben; kurz streift sie der Gedanke, sie wäre Gott – sie würde die ganze Welt einregnen mit ihren Tränen, dann Donnerschläge hinterherschicken. Sie muss nun doch losheulen. Die Frau lächelt sie an, und April wünscht sich, sie würde es nicht tun. Sie reicht ihr ein Taschentuch und sagt: Es geht vorbei, glauben Sie mir, es geht immer vorbei.