Trotz ihrer Unruhe fällt ihr der Mann auf, der sich einige Stuhlreihen vor ihr umgedreht hat und sie anstarrt, er beschirmt sogar die Augen mit der Hand. April tut so, als bemerke sie ihn nicht, sie hält ihn für den Hausverwalter, sein Anzug wirkt schäbig, er dreht einen Schlüsselbund auf dem Zeigefinger. Vielleicht ist er ein Dichter, keine Ahnung. Weit auseinanderliegende Augen in einem Kindergesicht – er sieht einfach nicht weg. April betrachtet ihre gebräunten Beine, zu dünn, überlegt sie, und was sie hier macht und wie sie hier wieder rauskommt, an diesem schönen Tag. Sie stellt sich vor, sie säße in einem Garten. Stattdessen ist sie in einer großen Galerie auf der Reeperbahn und soll Texte aus ihrer Untergrundmappe vorlesen. Das Motto des heutigen Abends: Kunst als Medizin. Sie ist die Jüngste unter den Vortragenden, es kostet sie Mühe, sich ihre Schüchternheit nicht anmerken zu lassen. Neben ihr Julius, gerade elf geworden, der mit geschlossenen Augen Bob Dylan auf seinem neuen Walkman hört. Nachdem April gelesen hat, fragt ein älterer Herr, warum sie, hübsch und jung, so schreckliche Sachen schreibe. Der Hausverwalter mit dem Kindergesicht steht auf und weist ihn barsch zurecht.
Als sie später das Restaurant nebenan betritt, sitzt er schon neben ihrem Sohn und hat seine Kopfhörer auf. Sie geht zu einem anderen Tisch, trinkt ein Glas Wein, verliert ihre Schüchternheit, redet mit einem Assistenzarzt, der sie an eine Romanfigur erinnert, aber welche, fällt ihr nicht ein. Doch dann kommt der Mann mit dem Kindergesicht, fordert ihren Gesprächspartner mit einer Handbewegung auf, sich zu erheben, und nimmt wie selbstverständlich dessen Platz ein. Was für ein aufgeblasener Fatzke, denkt sie, während er sich vorstellt – Ludwig, Chirurg – und beginnt, Fragen zu stellen. Verärgert von seinem Auftreten, antwortet sie knapp und mit unterdrücktem Groll: Ihr Lieblingsschriftsteller sei Beckett.
Herr im Himmel, sagt Ludwig, Beckett sei auch sein Liebling, er habe ihn erst kürzlich besucht und könne, wann immer April wolle, ein Treffen für sie arrangieren.
Beckett ist keine Touristenattraktion, antwortet sie, unsicher, ob er es ernst meint oder nur einen Scherz mit ihr macht.
Ludwig scheint vorsichtiger zu werden, wägt seine Worte ab, fragt sie nach ihrer Arbeit, bewundert ihren Mut, das sei doch sicher schwierig gewesen, sagt er, Untergrundmappen in der DDR herauszugeben. Sie erklärt ihm, dass es eher Langeweile war als ein politisches Gewissen, selbst ihre Ausreise vor ein paar Jahren war der klappernden Öde geschuldet. Er bewundert sie erneut, diesmal für ihre Bescheidenheit. Er zeigt sich erstaunt über die Auswahl der Bücher, die sie gelesen hat, teilt ihre Begeisterung für Sizilien, die brandenburgischen Landschaften, überhaupt mag er den ganzen Osten. Sein rostrotes Haar ist am Ansatz gelichtet, die Sommersprossen auf seiner linken Hand ähneln einem Fischschwarm, er trägt einen Siegelring am kleinen Finger. Als sie sich verabschieden, hat sie seine Adresse, Telefonnummer und die Einladung angenommen, am nächsten Nachmittag mit ihm im Café Einstein einen Espresso zu trinken, er sei ohnehin in Berlin.
Anderntags ruft ihr Freund an, der sie unbedingt treffen will. Sie vergisst, Ludwig abzusagen. Mit ihrem Freund ist das so eine Sache – April weiß, dass die Beziehung am Ende ist, schafft es aber nicht, ihn zu verlassen.
Monate später fällt die Mauer und Beckett ist tot. Sie schreibt Ludwig eine Karte und fragt ihn nach Becketts Todesstunde.