April liegt auf dem Bett in der Marilyn-Monroe-Honeymoon-Suite; hier haben Tony Curtis und Jack Lemmon als Josephine und Daphne um Sugar alias Kane Kowalczyk gestritten. Sie fragt sich, ob das nicht eine Nummer zu groß für sie ist, in diesem Zimmer zu frühstücken, wo Marilyn ihre Fußnägel lackiert und Filmgeschichte gemacht hatte. Die Marilyn-Monroe-Honeymoon-Suite, direkt am Meer, ist Ludwigs Hochzeitsgeschenk gewesen, und April hat es nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, wie sehr sie das ganze amerikanische Theater einschüchtert. Frühmorgens läuft sie allein durch den feinen weißen kalifornischen Sand und wünscht sich, in dem Spalt zwischen Wasser und Horizont zu verschwinden. Ihr Bauch wölbt sich unter dem Kleid, sie übt ein kurzes amerikanisches Auflachen.
April ist wütend, weil sie es nicht schafft, easy going zu sein, und verabscheut sich gleichzeitig dafür, es sein zu wollen. Easy going, sagt Ludwig zu ihr – dann sei du ein russischer Bauer, antwortet sie. Missverständnisse, weil sie aus dem Osten kommt? Oder umgekehrt? Ludwig betrachtet sie amüsiert, wenn er ihre Unsicherheiten bemerkt, als hätte April sie sich für ihn ausgedacht. Sie kann kein Englisch und lässt Ludwig das Essen bestellen. Sie fragt sich, ob ihr Hunger in Amerika noch größer geworden ist. In den vergangenen Tagen hat sie etliche XL-Burger gegessen. Während Ludwig nach dem Frühstück duscht, isst sie die Reste von seinem Teller. Sie hat darauf bestanden, nur auf dem Zimmer oder unterwegs zu essen. Im Restaurant kommt sie sich vor wie eine Promenadenmischung zwischen Königspudeln. Die Amerikanerinnen mit ihren schönen weißen Zähnen, die so selbstsicher die Gabeln zum Mund führen, völlig gelassen ihre Cola light bestellen, kauen, reden und gleichzeitig trinken, sind für sie Gestalten aus einer anderen Welt.
Sie fahren in einem Mietwagen in Richtung Sierra Nevada. April verschläft die ganze Fahrt; als sie aufwacht, ist es bereits Abend. Ludwig parkt das Auto, sie steigt aus und hat das Gefühl von schwindelerregender Orientierungslosigkeit – dann erblickt sie die Wüste. Die Stille reicht bis zu den roten Rändern des Himmels.
Sie reisen weiter nach New York. Die Fluggesellschaft hat eine mexikanische Woche ausgerufen, während des Fluges isst sie Käse-Enchiladas, Tortillas und Chili-Burritos. Überwältigt von ihrem Hunger, nimmt sie das Essen gleichmütig lächelnd zu sich. Als sie in New York landen, kann April sich kaum mehr bewegen. Es überrascht sie, wie straff ihr Kleid über den Hüften sitzt. Sie spürt einen Brechreiz, und als Ludwig nach einem Taxi ruft, übergibt sie sich auf der Straße Richtung Downtown.
Nach ihrer Rückkehr besuchen sie zum ersten Mal seine Eltern. April sieht aus dem Autofenster, links und rechts verschneite Siedlungshäuser. Dort, sagt Ludwig und zeigt auf den Kastanienbaum, von dem habe ich dir erzählt. Die Gegend kommt ihr wie eingeschlafen vor und die Schneewehen auf der Straße wirken, als wären sie jemandem vor langer Zeit aus der Hand gefallen. Er hält vor einem frei stehenden Haus. Sie spürt Ludwigs Nervosität, streicht ihm tröstend über die Wange, sie ahnt doch längst, dass seine Mutter keine langen weißen Kleider trägt.
Ludwig versucht, mannhaft zu sein, und ist doch nur ein Junge. Sogar seine Stimme wird höher. Ist sie nicht hübsch, fragt er und weist auf April wie vorher auf den Kastanienbaum.
Ja, sagt seine Mutter.
Es ist, als würde er sich dem kleinen, engen Haus anpassen, dem Klima seiner Kindheit. April beobachtet die jahrelang erprobte Annäherungsroutine von Mutter und Sohn, ein regressives Spiel, das Ludwig mag.
Du hättest anrufen sollen, sagt seine Mutter.
April sieht ihn als Kind durch die Räume streifen, in Erwartung, irgendetwas Schreckliches, etwas Großes würde passieren, ein Sturm, der ihn davontrug. Das Profil seiner Mutter könnte auf einer Münze sein, mit dem Wust von blondierten Haar, hochgetürmt zu einem seltsamen Nest.
Ludwig öffnet den Kühlschrank. Ich habe Hunger, sagt er und fasst sich an den Bauch.
Verhangenes Licht füllt das Wohnzimmer aus. Neben einem roten Ledersofa stehen zwei große Holzengel, April versucht sich vorzustellen, wie Ludwig sie als Kind betrachtet hat.
Sie trinken Mezzo Mix und essen Kartoffelsalat, Ludwigs Mutter erzählt, lacht und seufzt; das Seufzen klingt vergnügt und abgeklärt. Sie erzählt von ihrer reichen Freundin aus Moskau, ihrem Fitnessklub, den Mühen des Alltags. Sie deutet stolz auf das Sofa: Schau, April, hab ich aus dem Sperrmüll.
Hör auf, sagt Ludwig, doch er sagt es so, als würde es ihm gefallen.
Ist doch lustig, antwortet sie.
Ein grauhaariger Mann betritt das Zimmer. Er steht reglos da, blassblaue Augen, er sieht weder alt noch jung aus; da bist du ja endlich, sagt Ludwigs Mutter.
Sein Vater gibt April die Hand, begrüßt seinen Sohn und nimmt neben ihm Platz. Ludwigs Mutter setzt das Geplänkel fort, erzählt von ihren Schnäppchenjagden, fragt, ob es ein Junge oder Mädchen wird, warum Ludwig vorher nichts von der Heirat erzählt hat. In ihrer Stimme liegt kein Vorwurf, eher hat sie etwas Mäanderndes, als ginge es nur darum, nicht zu schweigen. Die Bereitschaft des Vaters, sich am Gespräch zu beteiligen, scheint gering zu sein. Als seine Frau vorwurfsvoll sagt: Mein Mann interessiert sich nicht für mich, nie begleitet er mich in den Fitnessklub, lieber sitzt er auf dem Dachboden, weiß Gott, was er da treibt, schließt er die Augen, als würde ihn eine besänftigende Dunkelheit erwarten.
Ludwig wirft ihr einen Blick zu, der wohl bedeutet: Siehst du, Familie!
Doch dann lacht sein Vater, es ist ein verlegenes Lachen, er tut ihr leid.
Sie denkt, so werden wir nie.
Ludwig zeigt ihr sein Zimmer, es ist winzig, auf dem Bett ein Zierkissen mit seinem Namen. Das Schlimmste war die Langeweile, sagt er.
Nach der Tagesschau gehen sie auf den Dachboden. Ludwigs Vater sitzt vor seinem Schreibtisch wie ein Veteran, der seine Tätigkeit bis zum Tod nicht mehr unterbrechen wird. Sie versucht sich vorzustellen, was ihm einmal Freude bereitet haben könnte. Wie ist er zu dem betrübten Menschen geworden, der sich in diesen Ort zurückgezogen hat? Er beantwortet Ludwigs Fragen entschieden, freundlich und selbstbewusst. Er will von seinem Sohn ernst genommen werden. Dann stellt er das Radio an, ein Hörspiel wird gesendet.
Hamburg. Die Wohnung liegt im vierten Stock an einer großen Kreuzung und riecht nach Büro. Der winzige Balkon ist mit einem Taubenschutz abgedeckt. Sie verschweigt Ludwig, dass sie die Wohnung nicht mag, drei Wochen nach der Besichtigung ziehen sie ein.
Julius ist wütend. Seine Mutter hat über ihn verfügt, als wäre er ein Ding. Ach, hör schon auf, sagt April, mach die Augen zu und stell dir vor, du bist in Berlin. Julius sieht sie an, als wäre sie völlig abgedreht. Er bekommt ein größeres Kinderzimmer, ein neues Fahrrad, doch er ignoriert Ludwigs halbherzige Freundschaftsversuche. Er ist in der Pubertät, ohne dass April den Übergang bemerkt hat; für ihn scheint sie plötzlich vom Mars zu kommen oder sich nur als seine Mutter auszugeben.
Aprils Hormone spielen verrückt, schon morgens vorm Spiegel fährt sie sich mit wütenden Bürstenstrichen durchs Haar, beißt sich in die Hände, wenn niemand es sieht. Auch ihre zweite Schwangerschaft ist nicht so, wie April es sich erträumt hat. Sie will anmutig sein, Babysachen stricken, voller Elan arbeiten und vor allem noch mehr Fett ansetzen. In ihren Augen ist sie noch immer viel zu dünn.
Von ihrem Fenster sieht sie, wie sich im Altersheim gesichtslose Menschen im Neonlicht bewegen. Manchmal meint sie in der Stille ihres Zimmers die Geräusche der Alten zu hören. Vom Wohnzimmer tritt sie auf den winzigen Balkon, mit Blick auf die große, vierspurige Kreuzung. April ist eine andere in dieser Wohnung, in dieser Stadt. Sie ist eine jener Frauen, die sie nicht mag, eine Frau, die nach ihrem Mann Ausschau hält. Selbst wenn Ludwig nach einer Not-OP mitternachts nach Hause kommt, ist der Abendbrottisch gedeckt.
Sie hat sich nie für Horrorfilme interessiert, doch seit Ludwig täglich neue VHS-Kassetten aus der Videothek mitbringt, freut sich April schon morgens auf das abendliche Gruseln; so kann sie sich von Ludwig beschützen lassen, ohne seinen Schutz einfordern zu müssen. Einer seiner Lieblingsfilme ist »Frankensteins Höllenmonster«, an seinem geöffneten Schädel versucht er, April die Funktionsweisen des Gehirns zu erklären. Sie seufzt schockiert, stößt kleine Schreie aus, und Ludwig nimmt sie tröstend in die Arme. Sie essen Chips und Lakritze. Lakritze besteht aus Pferdeblut hat es in ihrer Kindheit geheißen.
Eines Tages erscheinen die nächtlichen Filmgeister April schon gegen Mittag. Riff Raff sitzt müde lächelnd am Frühstückstisch, und Laura Mars tritt ihr aus dem Spiegel entgegen. Was für ein tadelloses Wetter, sagt sie und deutet auf das geöffnete Fenster, hinter dem der Regen zu hören ist.
April erinnert sich, wie Laura Mars in ihrem Film den Mörder tötete und der Geliebte mit ihm starb. Du hättest den Mörder zähmen sollen, sagt sie zu ihr.
Ach was. Laura Mars nimmt ihr langes Haar, steckt es lässig hoch und sieht in den Spiegel. Verdammte Augenringe, hast du einen Abdeckstift?
Wer bist du? Laura Mars oder Faye Dunaway?
Was macht das für einen Unterschied?
April deutet auf Riff Raff. Der da ist gefährlich, sagt sie.
Männer, antwortet Faye. Wenn es darauf ankommt, schlafen sie.
Sie reden über alles Mögliche. Erst als Julius klingelt, verschwinden ihre Gäste, geisterhaft, wie es sich gehört. April versucht, in der Traumblase zu verharren, doch die zarte Membran zerreißt in dem Augenblick, als sie mit ihrem Sohn zu reden beginnt. Wie war die Schule? Hast du Hunger? Dann beginnt sie zu weinen, Sturzbäche fließen über ihr klägliches Leben; sie erzählt ihm von ihrer Einsamkeit, am liebsten würde sie sich aufhängen, jeden Tag, ihr Körper würde sich wie ein Stein anfühlen, schwer und kalt. Sie meint seine unausgesprochenen Fragen zu hören: Dafür haben wir Berlin verlassen? Damit du hier rumheulst?
Bis zum Abend wird sie wieder normal sein, das heißt Normalität imitieren können. Doch was ist schon normal, außer einer Körpertemperatur von 37 Grad? Seit sie in Hamburg wohnen, fühlt sich April ungeliebt. Doch Ludwig ihre Bedürftigkeit zu zeigen, käme ihr wie eine Schmach vor. Sie vermisst Berlin. April ist in einer Art Nacht-und-Nebel-Aktion verschwunden, ist einfach abgehauen, hat das Leben in Berlin wie eine alte Haut abgestreift und weiß nun nicht, wohin mit ihrer Sehnsucht. Berlin war ihr Zuhause, in dem sie einen Alltag mit Freunden hatte, das scheint ihr hier unmöglich – Ludwig hat kein Interesse an ihren Freunden, und sie setzt sich nicht darüber hinweg, weil sie ihn schonen will, und versinkt lieber in ihrem Friedhofsgefühl.
Sie kennt niemanden in Hamburg und verspürt auch nicht das Bedürfnis, irgendwen kennenzulernen. Noch immer übergibt sie sich nach dem Aufstehen, danach isst sie Aufbaunahrung aus der Apotheke, verschlingt Schokolade, gezuckerte Pfirsiche, stopft sich mit Chips voll, trinkt Sahne, literweise Fanta und Cola. Sie hortet Lebensmittel, als stehe ein Krieg kurz bevor. Sie kauft Mandarinen und Blutorangen wegen der dünnen bedruckten Papiere, die um die Schale gewickelt sind, und legt sie in ein Buch. Sie zeigt die Orangenpapiere Julius.
Warum machst du das, fragt er.
Für später, sagt April, die werden mal was wert sein.
Sie schaut stundenlang hinüber ins Altersheim. Telefoniert ab und an mit Keller, will ihn besuchen. Doch schon eine Stunde später sagt sie ihm wieder ab; sie zerknallt dabei kleine Blasen in einer Luftpolsterfolie.
Was machst du da, fragt Keller.
Nichts, antwortet sie.
Das weiß ich, sagt er. Du würdest ein gutes Fossil abgeben.
Aus welcher Zeit, fragt sie.
Nachdem sie »Rosemaries Baby« gesehen haben, sitzt Rosemarie anderntags in ihrer Küche. Riff Raff schläft wie üblich, den Kopf auf der Tischplatte, davor sein Laserschwert. Faye ist schon da, die beiden Frauen tragen denselben roten Lippenstift, gähnen synchron – zwei sehr ansehnliche Geschosse. Rosemarie streicht sich über den Bauch und fragt: Wann ist es so weit?
In drei Wochen.
Junge oder Mädchen?
Junge.
Warum richtest du die Wohnung nicht schöner ein, fragt sie.
Dann kannst du dich besser verstecken, wenn du abends auf deinen Mann wartest. Faye kichert und schaut sie herausfordernd an.
Ich warte aus Liebe, sagt April.
Mein Gott, wie scheinheilig. Faye verdreht die Augen.
Geht es euch nie so, fragt April. Ihr wisst, es ist falsch, und könnt doch nicht anders?
Du musst nicht so viel erwarten. Rosemarie wiegt sich träge hin und her. Es ist doch ein zauberhafter Tag.
Ja, ein zauberhafter Tag. Was stellen wir mit ihm an? Faye läuft durch die Küche. Einen Drink? Sie sieht in ihre Richtung, greift sich ins Haar, hält plötzlich ein Cocktailglas in der Hand. Wie ist dein Mann so?
Ein guter Mensch, sagte April.
Ich dachte, er ist Chirurg, erwidert Faye.
An einem dieser Nachmittage wie aus Zement, die nie in den Abend übergehen, beginnen die Wehen. Die Hand gegen den Rücken gepresst, starrt April aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Ihr fällt ein, dass sie als Kind geglaubt hat, die Babys kämen aus dem Arsch, dass man vom Küssen schwanger wird, dass Gott alles sieht. Die Wehen werden heftiger, sie ruft Ludwig an.
Im Taxi streichelt er sie, flüstert zärtliche Worte, überprüft die Abstände zwischen den Wehen. Er verspricht ihr, der Mann zu sein, den sie sich wünscht. Ich werde ein russischer Bauer sein, sagt er, eine Kolchose mit dir gründen, ich mache alles, was du willst.
Der Kreißsaal kommt April vor wie ein schaukelndes Schiff. Sie sitzt in einer Wanne mit lauwarmem Wasser, atmet, wie die Hebamme es ihr vormacht; nein, sie war in keinem Schwangerschaftskurs, antwortet sie mit gequälter Stimme. Noch ist der Schmerz ein langsamer Tanz. Sie taucht mit dem Kopf unter Wasser, kommt hoch, taucht wieder unter. Stunden später fährt ihr der Schmerz rücklings in die Eingeweide. Die Luft bekommt den unverkennbaren Geruch von Metall, und noch während sie versucht, eine gute Gebärende zu sein, schlagen ihre Schreie Haken durch das Zimmer. Riff Raff berührt sie mit seinem Laserschwert. Rosemarie schaut mitfühlend. Der Schmerz ist das Auge eines Zyklopen, April ist der Zyklop, sie ist sein Auge, ihr Vater singt mit betrunkener Stimme. Nach dem Ende einer Wehe sieht sie kurz klar: Ludwigs Kindergesicht uralt vor Sorge, Ärzte um sie herum, die Hebamme scheint ihr etwas zuzurufen. In der nächsten Wehe ist April der Schmerz, schreit wie in einem Horrorfilm tief aus sich heraus: Mutter, du hattest recht. Faye sprüht ihr Zitronenparfüm ins Gesicht. Ludwig wird ohnmächtig. Das Baby kommt mit einem Schluckauf zur Welt und einem wunderschönen Horn, es ist eine Zangengeburt.
Sie nennen ihn Samuel. Im frühen Tageslicht schiebt eine gütige Macht die Wände zur Seite. Sie sitzen auf einer Wiese, Sam zwischen sich, nur wenige Stunden alt. Ludwig sagt: Stell dir vor, meine Kollegen würden erfahren, dass ich ohnmächtig geworden bin.
Sie hören zu, wie Sam atmet, versprechen sich, ihn zu hegen und zu pflegen. Sie wollen leicht bleiben, sich unerschrocken lieben.