Ludwig bringt ihr Lieblingskleid ins Krankenhaus, doch es passt nicht mal über ihre Schultern. April ist entgangen, wie sehr sich ihr Körper verändert hat. Die ersten Tage und Nächte mit Sam kommen dem Glück sehr nahe. Sam ähnelt einem Husarensohn, lange schwarze Koteletten, dunkler Flaum auf dem Rücken – wenn ihr Vater ihn doch sehen könnte. Das wünscht sie sich: Großvater und Großmutter, ein Gedanke, der zu nichts führt, dennoch füllt er ihre kalten Hohlräume mit Wärme. Sie umstehen das Körbchen, in dem Sam liegt, und lauschen seinen Atemzügen; Ludwig, Julius, April – eine Familie.
Sie glaubt, dass es nun vorbei ist mit den kleinen Streitereien, dass es nicht mehr wichtig ist, wer recht hat und wer nicht. Doch der Alltag mit seinen Erschütterungen trudelt wieder ein. Die magischen Stunden lösen sich auf, die Geister kehren zurück. In den nächsten Wochen schiebt sie den Kinderwagen durch die Straßen und versucht etwas vom Glück der vergangenen Tage zu retten. April trägt kurze Hosen, Bauarbeiter pfeifen ihr hinterher. Sie kommt sich heiß vor, begehrenswert – bis die Verkäuferin im Fleischerladen fragt, wann es so weit ist, und auf ihren Bauch deutet. Im Spiegel sieht April eine Frau, die ihr gefällt: stramme Schenkel, Lenden aus Fleisch; endlich ist sie nicht mehr dünn. Die Waage zeigt nun statt fünfzig siebzig Kilo an. Sie fühlt sich zum ersten Mal wohl in ihrer Haut, doch unter den Blicken der anderen beginnt sie, die Schwere ihres Körpers zu spüren. Trotzdem lässt ihr Hunger nicht nach. Selbst Faye kommentiert ihre Leibesfülle: Du weißt, dass Völlerei eine Todsünde ist?
Nach dem Abendessen setzt sich Ludwig vor den Computer. Er sagt, er müsse arbeiten. Einmal, spätabends, bleibt sie im Türrahmen stehen und beobachtet, wie er Flugzeuge vom Himmel holt, Bomben abwirft. Nach einer Weile dreht er sich um, sieht April an, als würde er sie nicht erkennen.
Sam schläft sofort ein, wenn sie ihm nachts die Brust gibt, aber sobald sie ihn ins Bett bringen will, wacht er auf. Müdigkeit macht ihre Gedanken schwer wie Blei, wenn sie versucht zu schreiben; die großen Themen erscheinen ihr weit weg, sie ist besetzt von ihrer kleinen Welt, stillen, Windeln wechseln, Nahrung zubereiten, die richtigen und falschen Blicke von Ludwig unterscheiden. Sie diskutiert mit Faye und Rosemarie, wertet mit ihnen die Tage aus, nie sind sie zufrieden mit ihr.
Deck abends nicht den Tisch, geh es locker an, rasier dir die Beine, sagt Faye.
Rosemarie hält dagegen: Sei so, wie du bist.
Doch so zu sein, wie sie ist, bedeutet, von nichts eine Ahnung zu haben. Nicht zu wissen, dass der Mann, wenn er von der Arbeit kommt, seine Ruhe braucht. Er will kein Essen loben, vor allem will er nicht die Erwartung in den Augen seiner Frau sehen. Er will – scheiß drauf – am Computer sitzen, Mezzo Mix trinken, Zigaretten rauchen und seine Feinde vom Himmel holen.
Sogar Riff Raff äußert sich: Das ist ja wie in den Fünfzigern, zieh dir doch gleich einen Petticoat an.
Das weiß ich selbst, entgegnet April. Ludwig geht einmal durch die Wohnung und hinterlässt Chaos.
Besorg dir eine Putzfrau, sagt Faye.
Sie pflanzt Blumen auf dem Balkon, eine Taube hockt zwischen zwei Drahtspitzen, zerfleddert, mit gewölbter Brust. April klatscht in die Hände, sieht die Flügel der Taube im Licht aufblitzen, doch der Vogel kehrt stets zurück, als wolle er ihr etwas mitteilen.
An den Wochenenden setzen Ludwig und April ihre Spiele fort, die sie in Berlin begonnen haben. Sie rufen mit verstellten Stimmen Kollegen an, den Leiter der Chirurgie, Assistenzärzte, stellen Gehaltserhöhungen und Auszeichnungen in Aussicht; Ludwig kündigt einem Unfallchirurgen die Ankunft eines berühmten amerikanischen Kollegen an, der mit seiner Familie im Wohnwagen anreisen wird. Sie stiften Verwirrung, selbst ihr Trauzeuge Max fällt darauf herein, ihre Stimmenimitationen sind perfekt. April kann sogar die Stimmen von unbekannten Personen nachahmen, die Ludwig ihr beschreibt. Diese Spiele sind ein Zufluchtsort, an dem sie unbekümmert sein können, kindlich ausgelassene Komplizen. Es fällt April schwer, diesen Ort wieder zu verlassen, sie findet nicht zurück. Ein Gefühl großer Leere bleibt, während Ludwig sich am Computer ins Kriegsgetümmel stürzt. Wichtig für die Feinmotorik, sagt er, zeigt seine Hände und spreizt die Finger.
April kommt sich wie eine Gefangene vor – doch wer hat sie eingesperrt?
Warum schreibst du nicht, fragt Rosemarie.
Das Frauchen ist auf Krach aus, sagt Faye, braucht einen Grund zum Abhauen.
Sie hat recht. April ist selbst erschrocken über die Härte ihrer Worte, wenn sie die Streitigkeiten mit Drohungen beendet: Es ist aus. Endgültig aus. Ich haue ab. Sie wirft Ludwig vor, dass sie nicht zum Schreiben kommt, doch das ist ein Vorwand. April fühlt sich nicht zu Hause. Als sie Ludwig geheiratet hat, hatte sie diffuse Vorstellungen von einem Familienleben, helle Räume, in denen Geschirr klappert, die Sonne fällt auf den gedeckten Frühstückstisch, Personen reden miteinander, lachen, tauschen sich über die Welt aus, doch wenn sie sich die Szenen genauer betrachtet, sind die Menschen darin Marionetten. Dies hier ist real: Ludwig verbringt seine Zeit vorm Computer, und sie denkt, wenn sie ihn gewähren lässt, wird er sie lieben, so wie am Anfang. Sie fragt ihn nach seinen Vorstellungen, er öffnet beide Hände und sagt: Hier sitzt du drin.
Als sie mit Keller telefoniert, versucht er ihr zu erklären, dass sie es nicht schafft, ein lebendiges Leben zu führen. Ob das nicht ihre eigenen Worte gewesen seien: Ich schäme mich, auf der Welt zu sein.
Ja, antwortet sie.
Sie erwarten zum ersten Mal Besuch. Ludwig hat seinen Chef und ein paar Arbeitskollegen eingeladen. April blättert durch verschiedene Kochbücher und entscheidet sich dann doch für Spaghetti Arrabiata, ein Gericht, das ihr bisher Lob eingebracht hat. Julius hilft ihr bei den Vorbereitungen. Er wird heute bei einem Freund übernachten, und am liebsten würde er sofort abhauen.
Kannst du dich noch an die erste Begegnung mit Ludwig erinnern, fragt April, er wollte alles von dir wissen.
Julius nickt, blickt zum Fenster hinaus.
Du hast Bob Dylan gehört und warst stolz auf deinen Walkman.
Ja. Er schweigt, sagt dann: Hast du es vorher gewusst?
Was?
Dass er so ist? Er deutete auf Ludwigs Arbeitszimmer, aus dem laute Bombenexplosionen zu hören sind.
Nein, antwortet sie. Du kannst gehen.
Was ist denn los?
Nichts, sagt sie, du wolltest sowieso gehen.
Als Ludwig in die Küche kommt, sitzt sie zwischen den Kochtöpfen und heult. Er tröstet sie halbherzig; ich hätte dir helfen sollen, sagt er und küsst ihre Stirn.
Als die Gäste eintreffen, hat sie das ganze Essen bereits auf den Tisch gestellt. Vorspeise, Hauptgericht, Dessert. Sie hat darüber nachgedacht, wie sie sich verhalten soll, und sich dann abwartend an den Tisch gesetzt, während Ludwig die Gäste hereinbittet. Nachdem alle Platz genommen und sie begrüßt haben, spricht sie wenig, beantwortet die Fragen einsilbig. Sie wünscht sich, Ludwigs Selbstsicherheit würde für sie beide reichen. Statt den Gesprächen zu folgen, überlegt sie, welche Überzeugungen sie hat, ob sie sich positionieren kann, und verwirft den Gedanken, aufzustehen und eine Ernst-Busch-Platte aufzulegen. Nach einem Glas Wein verlässt sie das Zimmer, kommt mit Sam im Arm zurück, und noch während die Männer pflichtbewusst Komplimente abgeben, denkt sie: Warum mach ich das nur, warum nur, warum? Die Spaghetti Arrabiata scheinen zu scharf zu sein, Ludwigs Chef hustet und schiebt den Teller von sich. April versucht aufmerksamer zuzuhören, vielleicht fällt ihr ja eine kluge Bemerkung ein. Sie hat kürzlich über eine Polarexpedition gelesen, aber wie soll sie das Gespräch darauf bringen? Dann erinnert sie sich an eine Geschichte, die auch Ludwig noch nicht kennt.
Sie fasst sie für sich kurz zusammen und wartet auf den richtigen Zeitpunkt – doch der kommt nicht. Sie sieht zu Ludwig und fragt: Schon mal Austern gegessen?
Sie muss die Frage wiederholen. Sie kann den Blick, den Ludwig ihr zuwirft, nicht deuten.
Also, beginnt sie, es war kurz nach dem Mauerfall, eine Freundin aus dem Osten wurde von einem Westdeutschen in ein Nobelrestaurant eingeladen. Er bestellte für sich ein Steak und für sie eine Portion Austern. Meine Freundin hatte noch nie Austern gegessen, und es war ihr peinlich, das zuzugeben. April stockt kurz, schaut in die Gesichter der Männer. Sie scheinen ihr aufmerksam zuzuhören, was Ludwig denkt, kann sie nicht einschätzen. Sie fährt fort: Nachdem die Austern gekommen waren, bestellte meine Freundin ein Getränk nach dem anderen und sagte zu ihrem Begleiter, sie würde später essen. Es dauerte ewig, bis er endlich einmal zur Toilette ging und sie die gesamte Portion Austern in ihrer Handtasche verschwinden lassen konnte. Ihr Begleiter kam zurück, sie wies lächelnd auf den leeren Teller und sagte, dass sie alles aufgegessen habe. Ich glaube, sie strich sich sogar über den Bauch.
Ludwig lacht laut, sein Chef fällt ein, sagt: Verrückte Geschichte.
Als die Gäste gegangen sind, hält Ludwig sie lange im Arm. Deswegen liebe ich dich, sagt er, weil du so bist, wie du bist.
Obwohl Ludwig oft erschöpft nach Hause kommt, beneidet sie ihn um seine Arbeit. Wenn sie seinen Nacken massiert, will sie hören, was er erlebt hat, doch er erzählt nicht wie früher von einem Tumor, der sich herauslösen ließ wie die Erbse aus der Schote, oder von einer oberschlauen Assistenzärztin; er ist müde, sagt: Routine, nichts als Routine. Schade, sagt sie, doch da sitzt er schon vor dem Computer, zeigt ihr seinen abweisenden Rücken.
April trinkt Kaffee mit ihren Geistern, putzt die Wohnung, macht Essen, kümmert sich um die Wäsche, und ihr Herz klopft da, wo es nicht hingehört, sie wünscht sich, tot zu sein. Nachmittags geht sie mit Sam auf den Spielplatz – er ist dabei, seine ersten Schritte zu lernen – und lässt dort den immer gleichen Film in ihrem Kopf ablaufen, mit einer Maschinengewehrsalve streckt sie Eltern und Kinder nieder, grüßt lächelnd die Toten.
Sam wird krank, er schreit, sie kann ihn nicht beruhigen. Ludwig ist auf einer Dienstreise, er diagnostiziert am Telefon eine Mittelohrentzündung, die Kinderärztin bestätigt seine Diagnose und verschreibt ein Antibiotikum. In den Nächten liegt Sam neben ihr, und während sie seinen Atem lauscht, stellt sich April vor, wie sie Heldentaten vollbringt. Einmal befreit sie ein KZ, indem sie ihr Leben gegen das der Häftlinge eintauscht, nur weiß sie nicht, was ihr Leben so wertvoll macht, dass die SS-Schergen überhaupt einen Tausch in Betracht ziehen würden.
Silvester verbringen sie auf dem Sofa und lesen; Julius ist bei seinem Vater, und Sam schläft. Es ist lange her, dass sie zu zweit einen Abend verbracht haben. Sie hören ein Klavierkonzert von Keith Jarrett, während draußen die Böller knallend die Luft zerfetzen. Die CD ist das Geschenk einer Patientin. In der Speisekammer stapeln sich Pralinen, Weinflaschen, sogar Stofftaschentücher und selbst gestrickte Socken hat Ludwig geschenkt bekommen. Ein Scheich ließ ihm zum Dank einen wertvollen Krummdolch von zwei Bediensteten überreichen, dabei hatte Ludwig ihm nur den Blinddarm entfernt. Sie kann sich nicht auf ihr Buch konzentrieren. Ihr ist zumute, als säße sie in einer nie enden wollenden Unterrichtsstunde. In einem Fach, das sie nicht kennt.
Ludwigs Chefarzt gibt ein Fest. Die Gäste sitzen an langen Tafeln in einem Raum, von dem sie sich nicht vorstellen kann, dass dort tagsüber eine Familie lebt. Während sie ihrem Tischnachbarn zuhört, versucht sie ihren Bauch einzuziehen und sich gleichzeitig darauf zu konzentrieren, das Besteck richtig zu halten. Sie findet es sehr freundlich, dass ihr Nachbar trotz ihrer kargen Antworten das Gespräch nicht aufgibt. Die Frauen sind herausgeputzt, Pagenschnitte und Perlenketten; Tussis, denkt sie, und manche Männerblicke machen April wütend: als wäre sie verfügbar, bloß weil sie nicht dazugehört. Wehmütig betrachtet sie Ludwig, der, wie immer von seinen Kollegen umringt, gerade in ein lautes Lachen ausbricht.
Sie versucht Englisch zu lernen, hört Sprachkassetten, doch sie kann sich kein einziges Wort merken. Ihr Gedächtnis ist wie ein Sieb, und ständig gehen ihr unwichtige Sachen durch den Kopf; ein Vogel klopfte an ihre Schädelwand, tick, tick, tick, sein Nest musste sich in einem Hohlraum befinden, irgendwo zwischen den Hirnhemisphären.
Faye sagt: Mach kein Drama draus, das geht uns allen so.
Nein, erwidert April, sogar Tussis können Englisch.
Du schaffst es schon, entgegnet Faye, hartnäckig gut gelaunt.
Wusstest du, dass die menschliche Seele in der Zirbeldrüse sitzt, fragt sie Ludwig.
Nach Descartes, sagt er.
Und deine?
Ach hör auf, antwortet er, die Seele ist nichts weiter als ein Geschnatter von Nervenzellen.
Um sich selbst zu verstehen, beginnt sie wieder, psychologische Bücher zu lesen. Als sie auf Kernberg stößt, fällt April auf, dass sie seine Sätze früher, achtzehnjährig, in ihr Heft übertragen hat. Begriffe wie »frei flottierende Angst« sind ihr bekannt. Die Angst ist längst ein Teil von ihr. Und das Gesicht der Angst ist wandelbar, hat sie sich an eines gewöhnt, kommt es ihr mit einem anderen entgegen. Erwartet April die Angst an der Haustür, tritt sie durch den Keller ein. Sie kann sich nicht erinnern, jemals frei von Angst gewesen zu sein. April schreibt in ihr Tagebuch: Glück ist die Abwesenheit von Angst.
Seit Sams Geburt haben sie keinen Sex mehr gehabt. Hingabe ist für April mit Scham verbunden; in ihrer Seele sitzt ein Orchester aus beschädigten Spielern, die nur auf ihren Einsatz warten.