Funkelndes

April spürt die Anwesenheit der Geister stärker als ihre eigene. Sie sitzt mit Rosemarie am Küchentisch, Riff Raff schnarcht, Faye blättert in einer Zeitschrift. Licht fängt sich im Staub, der vom Boden aufsteigt. Der Nachmittag beginnt an den Rändern auszufransen. Sie kann nicht fassen, wie langsam die Stunden vergehen. Wann wird es endlich Abend, fragt sie.

Was soll dir die Dunkelheit bringen, erwidert Faye und lacht laut.

April wünscht sich andere Geister. Richtige Geister. Den Geist ihrer Großmutter? Eine zarte, nachgiebige Frau, die nach Mottenpulver roch. Sie behielt April in ihrer Obhut, teilte mit ihr das Bett, bis sie fünf war – und eines Morgens tot, schon kalt, als das Kind neben ihr erwachte. Lange Zeit hatte April versucht, eine Art Liebe für sie zu empfinden, hängte das Foto von ihr in jeder Wohnung auf, bis ihr klar wurde, dass sie das Gefühl für ihre Großmutter nur benutzte, um sich überhaupt einem Menschen nahe zu fühlen.

Ihren

Hab ich da was falsch verstanden, fragt Faye.

April zuckt die Achseln.

Er hat deine Mutter verprügelt, gewürgt, bis sie keine Luft mehr bekam und blau anlief. Oder irre ich mich da?

Er hatte grünblau gesprenkelte Augen, entgegnet April, leuchtend vor Energie.

Er hat gesoffen wie ein Loch, sagt Faye.

Ihr Bruder hatte April erzählt, dass ihr Vater kurz vor seinem Tod keine normal große Schnapsflasche mehr halten konnte, so musste er seinen geliebten Stonsdorfer in Miniaturausgaben kaufen. Als Alex nach der Beerdigung in die Wohnung ihres Vaters kam, war der ganze Boden mit den kleinen Flaschen übersät, viele zu Mustern geordnet. In ihrer Vorstellung hatte ihr Vater stundenlang auf dem Boden gesessen und nach Lösungen gesucht. Je mehr er trank, desto überzeugter war er, sich auch aus dieser Situation wieder herausmanövrieren zu können. Wenn alle Stricke rissen, würde er eben mit dem Rauchen aufhören, aber vorerst wollte er die alten Gewohnheiten nicht aufgeben. Sein Feilschen hatte ihm nichts gebracht, er starb an seinem Krebs.

Selbst ihre Mutter hat die Rolle einer Toten inne. Sie muss immer sterben, wenn April eine Ausrede benötigt.

Warum gibt sie sich überhaupt mit Geistern ab? Ist es so anstrengend, sich mit den Lebenden auseinander zusetzen? Es fällt ihr schwer, Julius zu lieben. Er hat die Augen zusammengekniffen, wenn er sie ansieht, als sei er kurzsichtig. April macht sich nicht die Mühe, seine Wut und Melancholie zu ergründen, sie reagiert nur. Es ist, als müsste sie jedes Mal eine verschlossene Tür aufbrechen, um sich ihm nahe zu fühlen. Sie war zwölf, als ihre Mutter noch ein Kind bekam. Einen Sohn, Elvis. April kümmerte sich um den Säugling, gab ihm die Flasche, wickelte ihn, doch dann kam sie ins Kinderheim. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass sie nicht mehr schlafen, nicht mehr essen konnte, überall sah sie sein kleines Gesicht. Diese heftige, schmerzhafte Liebe überdeckte jedes andere Gefühl. April riss aus, um ihren Bruder zu sehen, trampte und lief die fünfzig Kilometer zu Fuß, fuhr schwarz mit dem Zug. Der Heimleiter drohte ihr mit der Einweisung in den Jugendwerkhof. Wenn die Sehnsucht kam, stellte sie sich das Gesicht ihrer Mutter vor oder ihre rechte schlagkräftige Hand.

Mit Sam wurde die Tür wieder geöffnet, und nicht nur einen Spaltbreit, wie es ihr bei Julius ab und zu gelingt.

Sie mag Stendhals Bild von der Kristallisation. In einer Salzmine liegt ein Zweig ohne Blätter, nach zwei, drei Monaten haben sich an dem nackten Holz Kristalle gebildet, eine Unendlichkeit an Diamanten, der Zweig ist nicht wiederzuerkennen. Doch das ist Dichtung – im Leben funkelt niemand auf Dauer. Wenn Ludwig sagt: Ich liebe dich, hört sie den einsamen Beschwörungston in seinen Worten; sie begreift, dass auch er ein Geist ist, und das hätte sie verbinden können. April ist ein gefräßiger Geist, sie will sich seine Liebe in den Mund stopfen, aber ihr Hunger ist unstillbar.

Selbst in den Monaten leidenschaftlicher Verliebtheit hat Ludwig nie ihr Geschlecht angefasst. Er berührt Menschen, schneidet sie auf, ihr Inneres liegt offen vor seinen Augen, seine Hände sind Instrumente, fähig, komplizierteste Operationen durchzuführen, doch bei ihr versagen sie. April empfindet zu große Scham, ihn darauf anzusprechen. Als wäre sie es, mit der etwas nicht stimmt. Sie weiß nicht einmal, wie sie ihr Geschlecht nennen soll. Vulva? Muschi? Vagina kommt aus dem Etruskischen; sie könnte auch fragen: Warum haben wir keinen Sex mehr? Stattdessen liegt jeder auf seiner Seite des Bettes und tut so, als wäre es normal, kein Begehren mehr zu verspüren.

Sie

Wenn Ludwig an einem Vortrag arbeitet, sind diese Stunden ein Ausnahmezustand. Obwohl er die Arbeit aufschiebt, schafft er es, sich atmosphärisch einzurichten. April ist gerührt, mit welch kindlicher Verve er sich seine Stimulanzen aussucht; schreibt er an einem Vortrag über die Hypochondrie von Winston Churchill, trinkt er Whisky und versucht sich an einer Zigarre. Er trinkt auch Kräutertee, wenn es sein muss, verteilt Räucherstäbchen in seinem Zimmer, verspürt Lust auf ein Reisgericht, weil sein Protagonist es liebt. Er weckt sie mitten in der Nacht und liest ihr den fertigen Text vor. Sie weiß nicht, ob ihm ihre Meinung wichtig ist oder ob er sie als Publikum braucht.