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Viele Freunde

„Silver! Nein!“ Tom rannte los, rutschte aus und schlitterte auf den Knien zu Silver.

Er packte den Wolf am Schwanz, gerade als dieser abhob. Dann schleppte Tom ihn zu Storm und wickelte den Zügel um Silvers Bein. Der graue Wolf winselte unbehaglich.

„Keine Sorge, mein Freund“, beruhigte ihn Tom. „So bist du in Sicherheit und es ist auch nicht für lange.“ Jedenfalls hoffte er das.

Währenddessen wirbelten die kleinen Hyänen durch die Luft. Sie strampelten heftig und winselten. Verzweifelt stießen sie Feuerwölkchen aus, dann begannen sie sich gegenseitig zu beißen und zu kratzen. Dabei flogen sie beständig höher. Tom konnte kaum hinsehen.

„Die Armen“, murmelte Elenna. „Sie haben Angst.“

Schließlich wurden die Jungtiere von dem Portal verschluckt und verschwanden. Rachak musste zusehen, wie die Kleinen aufgesaugt wurden. Sie heulte leidvoll und vergaß für kurze Zeit ihren Kampf. Doch dann biss sie die Zähne zusammen und drehte sich um. Ihre Augen glühten vor Wut. Sie wollte Rache und die Einzigen in der Nähe waren Tom und seine Freunde.

„Wir müssen das beenden“, stellte Tom klar.

„Ich weiß“, meinte Elenna und spannte einen neuen Eispfeil in ihre Armbrust.

Damit zielte sie auf den linken Flügel des Biests. Der Pfeil traf ihn genau in der Mitte und Rachak schrie vor Schmerz. Fauliger Atem traf Tom und er musste würgen.

Das Biest konnte nicht mehr richtig fliegen. Wild schlug es mit den Flügeln um sich, doch es stürzte immer weiter ab und landete schließlich krachend auf dem Eis. Sofort rutschte Tom zu Rachak hinüber. Mit dem Speer schubste er sich zusätzlich vorwärts. Neben dem Biest angekommen, kletterte er auf die Hyäne hoch und hielt die Speerspitze direkt an ihren Hals. Sie starrte ihn an. Rachak war ihm ausgeliefert.

„Ich könnte dich töten“, sagte Tom, obwohl er nicht wusste, ob das Biest ihn verstand.

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Das Portal übte immer noch seinen Sog aus. Tom sprang von Rachak herunter, die nun vom Boden abhob. Plötzlich schwebte sie hoch in die Luft. Schneller und schneller flog sie auf das Portal zu, durchbrach tief hängende Wolken und raste dem hässlichen schwarzen Loch am Himmel entgegen. Dann verschwand das Biest darin und der Riss schloss sich.

„Sie ist weg!“, rief Elenna. „Ich hoffe, sie ist wieder zu Hause und findet dort ihre Jungen.“

„Das Portal ist auch weg“, sagte Tom und seufzte erleichtert. Der schreckliche Sog verschwand. Es fühlte sich gut an, endlich wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen. „Das war das letzte Biest. Jetzt ist Tavania wieder sicher.“

Doch warum war er dann nicht glücklicher?

Auf einmal fing die Luft an zu schimmern. Nebel wirbelte um Tom und Elenna. Als er verschwand, standen die Freunde am Rand eines Waldes. Durch die Bäume hindurch konnten sie die Mauern der Hauptstadt und das Schloss erkennen. Vom höchsten Turm wehte noch immer Malvels schwarze Flagge bedrohlich im Wind.

„Wir sind nicht mehr im Eisland“, stellte Elenna fest. Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn an einen Ast.

Tom begann in seinem dicken Pelzmantel zu schwitzen. Die Luft fühlte sich nach der eisigen Kälte im Norden sehr warm an. Er zog ebenfalls den Mantel aus und hängte ihn neben den von Elenna.

Storm kam zu Tom getrottet und Silver sprang an Elenna hoch. Die Freunde sahen entspannt und ruhig aus. Tom bemerkte, dass die Brandwunden, die Rachak ihm zugefügt hatte, gar nicht mehr schmerzten.

„Wie sind wir hierhergekommen?“, fragte Elenna. Sie sah sich erstaunt um und streichelte Silvers Fell.

Bevor Tom antworten konnte, erschien plötzlich der Zauberer Oradu vor ihnen. Tom machte große Augen, als ihm klar wurde, dass es diesmal keine Vision war. Dort stand der echte Oradu! Der gute Magier trug Umhang und Hut und hatte seinen Zauberstab in der Hand. Sein Kessel befand sich neben ihm und der zahme Falke des Zauberers saß auf seiner Schulter. In der anderen Hand hielt Oradu ein dickes, in Leder gebundenes Buch mit geheimnisvollen Zeichen darauf. „Ich habe mein Zauberbuch zurück“, verkündete er lächelnd. „Das war der letzte Gegenstand, den Malvel mir weggenommen hatte. Meine Zauberkraft ist nun wieder so stark wie früher. Und das habe ich nur euch zu verdanken!“

Neue Kraft erfüllte Tom beim Anblick des Zauberers.

„Tavania ist gerettet. Du bist zurück und kannst dich Malvel stellen“, sagte er hoffnungsvoll.

„Ja, bald. Wir dürfen keine Zeit verlieren“, erwiderte Oradu. „Ich habe euch hierher in den Wald gebracht, um euch zu Tavanias Kämpfern zu führen, die die Stadt zurückerobern wollen. Folgt mir, aber seid vorsichtig. Malvels Männer können überall lauern.“

Der Zauberer führte sie tiefer in den Wald. Sie waren noch nicht sehr lange gelaufen, als Tom Stimmen hörte, die von irgendwo weiter vorne kamen. Im Unterholz raschelte es bedrohlich und Zweige knackten.

Toms Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ob Malvels Soldaten in der Nähe waren?

Einen Augenblick später waren Tom und Elenna von bewaffneten Männern und Frauen umzingelt. Aber es waren nicht Malvels grimmige Soldaten in schwarzen Uniformen. Diese Leute hatten statt Rüstungen Lederwämser an. Bewaffnet waren sie mit Sensen, Fischspeeren, Schwertern und Bogen.

Unter ihnen war auch König Henri. In seinem Schwertgriff war ein Rubin eingefasst. Er sah Tom nicht in die Augen. Beschämt darüber, sein Königreich verloren zu haben, senkte er den Kopf.

„Das ist die Rebellenarmee, die Freya zusammengetrommelt hat“, sagte Oradu.

Die bewaffneten Männer und Frauen drängten sich um Tom und Elenna, schüttelten ihnen die Hände und riefen Begrüßungsworte.

„Willkommen zurück!“

„Ihr habt das letzte Biest besiegt!“

Ein Mann deutete mit glänzenden Augen zum Himmel.

„Seht nur – keine Portale mehr!“

„Tavania schuldet euch Dank!“

Nur langsam konnten sich die Freunde durch die Menge bewegen, in der Tom auf einmal ein bekanntes Gesicht entdeckte. „Sieh mal, Elenna“, rief er. „Da ist Ludor!“

„Er scheint sich zu freuen, uns zu sehen“, meinte Elenna und winkte dem Jungen zu.

Obwohl alle lächelten, war die Entschlossenheit in den Augen der Leute nicht zu übersehen. Sie waren bereit, für Tavanias Frieden zu kämpfen.

„Tom! Tom!“

Er drehte sich um und sah seine Mutter, die sich durch die Menge drängte. Fest schloss sie ihn in ihre Arme.

„Ich bin so froh, dich zu sehen“, sagte sie glücklich.

Tom wurde warm ums Herz vor Freude, bei seiner Mutter zu sein. „Ich auch“, antwortete er. „Ist alles in Ordnung bei euch?“

Freya strahlte ihren Sohn an. „Alles ist gut. Du wirst Dalaton nicht wiedererkennen, wenn du ihn siehst.“

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„Doch, das werde ich“, meinte Tom grinsend. „Ich habe ein Bild von ihm gesehen. Tavania hat einen neuen Herrn der Biester.“

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, kam ein großer Mann auf Tom zu, für den die Soldaten Platz machten. Dalaton trug eine glänzende Rüstung und schritt wie ein stolzer Krieger einher.

„Dank deiner Mutter habe ich meine Bestimmung gefunden“, sagte er.

Dalatons dicker Bauch und seine krumme Haltung waren verschwunden. Sein Körper war muskulös und er stand kerzengerade.

Zwei Soldaten waren Dalaton gefolgt und er bat sie nun nach vorn. Einer trug Toms Schwert und Schild und der andere Elennas Bogen und Pfeilköcher. Sie verbeugten sich und überreichten die Waffen ihren Besitzern.

„Eure Waffen zurückzuholen war meine letzte Tat als Wachmann im Palast“, erzählte Dalaton.

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„Vielen Dank!“, sagte Tom.

Zuversicht durchströmte ihn, als er den Schild über den Arm schob und den Schwertgriff packte. Elenna hängte sich mit leuchtenden Augen den Köcher über die Schulter und prüfte den Bogen.

„Wir haben Tausende Rebellen versammelt, um das Königreich zurückzuerobern“, berichtete Freya. „Wir haben uns in den Höhlen in Malvels Wald versteckt. Aber seine Armee ist immer noch größer und seine Soldaten sind schwer bewaffnet und hinter den Mauern geschützt.“

Tom trat neben seine Mutter. „Wir haben Ehre und Gerechtigkeit auf unserer Seite!“, rief er der Menge zu. Er reckte sein Schwert hoch in die Luft. „Wir werden den Kampf gewinnen!“