Es wäre nicht notwendig gewesen, dem Schiffbrüchigen den Kiefer aufzureißen, um nachzusehen, ob er eine Zunge hat. Seine Schreie machten klar, Elias Plim hatte einiges durchgemacht, und er besaß eine Zunge.
Seit seiner Rettung waren acht Tage vergangen, und nachdem der Kapitän mit dem unaussprechlichen Namen dem Teufel ein Büschel Haare für guten Wind geopfert hatte, kam die Seestern bei klarem Wetter und guter Brise von achtern beinahe über das ganze große Weltmeer. Plim, ein junger Mann mit weichen, fast weiblichen Gesichtszügen, sandfarbenen Locken und feingliedrigen Händen, lag die ganze Zeit in einer Art Verschlag und fieberte. Weder hatte man ihn an den Ohren angenagelt, noch ihm Kakerlaken in den Hals gestopft. Wir haben also nichts Wesentliches versäumt. Gefangener oder Passagier? War er wach, schlang er Suppe, Brot, Bier und was man ihm sonst kredenzte hinunter. In Ruhe gelassen werden, liegen und schlafen, das war alles, was er wollte.
— Verstehst du meine Sprache? Begreifst du, was ich sage?, wurde er oft gefragt, doch Plim blieb stumm, ließ das Anlegen der Senfwickel über sich ergehen und starrte auf die Rippen des Schiffsbauches. Sobald er die Augen schloss, lag er wieder auf der Tür mitten im Meer, wo er von Eintöpfen und Fischsuppe geträumt hatte, bis die ganze See zu einer einzigen Fischsuppe geworden war und es ihm irgendwann nichts mehr ausmachte, ob er gerettet wurde oder nicht, sich die zwanzig Jahre seines Lebens anfühlten wie der Flügelschlag einer Libelle, die in einer Bouillabaisse ums Überleben kämpfte.
Die Besatzung hatte sich für ihn nicht interessiert, und auch der Kapitän, zuerst begierig, die Umstände seines Schiffbruchs zu erfahren, war bald nur noch mit Navigation beschäftigt, las in den Ephemeriden … komplizierte Tabellen …, studierte Karten oder hantierte mit dem Astrolabium. Er konnte jeden Mann gebrauchen, und wenn es nur war, während eines Gefechts die Richtkeile der Kanonen einzustellen oder Sägespäne auf dem Kanonendeck auszustreuen. Das Gewerbe der Freibeuterei litt unter akuter Personalnot.
Kapitäne waren sonderbare Käuze, manchen von ihnen sagte man einen Bund mit dunklen Mächten nach. Dieser hier, der Unaussprechliche mit der langen Narbe, war ein besonderes Exemplar, der erfolgloseste Pirat aller Zeiten. Obwohl er sich Gedanken machte, mit welchen Grausamkeiten er seinen zungenbrecherischen Namen in den Geschichtsbüchern verankern könnte, fehlte ihm dazu nicht nur jede Gelegenheit, sondern auch der starke Magen. Seinen Gegnern die Testikel abschneiden und brüllen, »Du wirst der Welt von mir verkünden!«? Oder seine Gefangenen in appetitliche Häppchen hacken und dann in siedendem Öl braten? Schon beim bloßen Gedanken an solche Höflichkeiten wurde ihm übel. Er war Franzose! Ästhet! Wenn schon eine Grausamkeit, dann eine formvollendete.
Bei einer Schlacht, nahm er sich vor, wollte er sich brennende, mit Salpeter und Kalkmilch präparierte Hanfschnüre ins Haar stecken, um besonders furchterregend auszusehen. Es kam aber zu keiner Schlacht, weil kein spanisches Schiff in Sicht war. Das Meer war leergefegt, der sanfte Rhythmus des gegen die Bordwand schlagenden Wassers wurde nie von dem Ruf »Spanier!« gestört.
— Rahsegel am Großmast setzen, Klüver einholen und andere Kommandos rollten über das Deck. Es roch nach Bilgewasser, verfaultem Fleisch, Branntwein, Pech und Schwefel. Dennoch war alles voller Ungeziefer.
— Elender Haufen Süßwassermatrosen, schimpfte der Quartiermeister. Verdammte Landratten! Seine Schreie drangen bis ins Zwischendeck und vermischten sich mit Plims Tagträumen, die hin und her wogten wie die Gezeiten.
Ein Hüne, der einer keltischen Sage entsprungen schien, versorgte ihn mit abgestandenem Bier, stinkender Fischsuppe, kaltem Pökelfleisch und Schiffszwieback, auf dem sich dicke Mehlwürmer tummelten. Der Riese trug einen schwarzen Morion, einen offenen Helm, unter dem sich ein rothaariger Lockenkopf verbarg.
— Bin ich Gouvernante, oder was? Ohne feindliche Schiffe bleibt nichts anderes zu tun, als Emilie in Schuss zu halten und darauf zu achten, dass das Pulver trocken bleibt. Und du schau nicht so, sagte er zu Plim, sonst endest du als Fischfutter. Ist dein Bug leck, oder was? Ruben Christian, so hieß der Hüne, fluchte ständig in einem schwerverständlichen Kauderwelsch. Manche Verben veränderte er mit einem kindergeheimsprachlichen »an«, so sagte er etwa sanuchen statt suchen oder lanesen statt lesen. Einmal blieb er stehen, stellte den Teller mit eingesalzenen Fettknorpeln ab, holte Luft und stieß einen Schrei aus, der das ganze Schiff erzittern ließ. Sein Gesicht färbte sich puterrot, und die Adern am Hals wurden zu dicken Strängen.
— Macht er immer, wenn er Heimweh hat, sagte der Schiffsjunge zu dem verstört dreinblickenden Plim.
Normalerweise war Ruben umgänglich, sprach mit dem stummen Elias wie mit einem Haustier.
— Die Mannschaft will dich über die Planke janagen, Monsieur, den Haien zum Lunch servieren, aber der Kapitän hält dich für ein Geldbäumchen, ein reiches Bürschchen, für das man Lösegeld an Land zieht. Jawohl, Monsieur. Er zwickte Elias in die Wange, betrachtete seine weichen, an Semmelteig erinnernden Hände … na, du Lösegeld … und sah Abschürfungen an den Gelenken. Ein Sklave?
— Algier, murmelte Elias, und Ruben klatschte in die Hände. Es war das erste Wort des Schiffbrüchigen.
— Gier? Wieso? Hast du nicht stets deine Ration bekommen? Gut, manchmal habe ich davon genascht, aber nie so viel, dass man mich gierig nennen darf. Ruben sah ihn verächtlich an. Ihm war, als hätte ein Toter gesprochen.
— Algier, wiederholte Plim.
— Algier? Heilige Makrele. Dann manusst du tot sein, weil von dort entkommt man nicht, Monsieur. Algier ist ein Räubernest. Die Scheichs dort vergnügen sich mit dem Pökeln der Köpfe ihrer Feinde. Algier? Tsstss. Glaubt, er kann mich nanarren. Erst tagelang den Mund nicht aufbringen und dann gleich Seemannsgarn oder was. Er packte den Schiffbrüchigen und fixierte ihn. Wie willst du entkommen sein?
— Ich war dort monatelang bei einer bösen Zauberin, Herr Ruben Christian, hauchte Elias.
— So? Bei einer bösen Zauberin? Und morgen regnet es Hammelfleisch? … Da sind wir ja in eine schöne Untiefe geraten. Ruben umfasste Elias’ Backen, drückte zu.
— Woher kennst du meinen Namen, Monsieur Plim? Rede!
— Muss ich … im Schlaf gehört haben. Elias wollte nicht zugeben, dass er alles bereits erlebt hatte — die Rettung, Senfwickel, den Rothaarigen … alles das hatte er in Visionen gesehen. Ob sich auch seine anderen Traumbilder bewahrheiteten? Gott bewahre! Um sich selbst und den Matrosen abzulenken, fragte er:
— Wer ist Emilie?
— Meine Braut, die Kanone. Ich bin erster Kanonier an Bord, Monsieur. Und Zauberinnen gibt es nicht.
— In Algier schon. In einen Esel hat sie mich verwandelt.
— So siehst du aus. Und jetzt bist du ein Frosch? Heilige Makrele! Der Rotschopf erwartete, dass sein phantasierender Patient wieder ins Koma fallen würde, aber dem war nicht so. Man konnte Elias Plim ansehen, wie er nachdachte, die Erinnerung zurückkam.
— Es war ein wunderbarer Neujahrstag, hauchte er … der erste Weihnachtstag 1537 — damals fiel in Spanien Neujahr auf den 25. Dezember —, die Sonne schien, die Luft war klar, Vögel trällerten, und es war der Tag, an dem ich den Teufel kennenlernen sollte. Waren Sie schon einmal in Sevilla? Da bin ich aufgewachsen, habe in den Auen des Guadalquivir gespielt. In Salamanca hätte ich Medizin oder Jurisprudenz studieren sollen, doch dann geschah etwas, das mein Leben auf den Kopf stellte.
— Du bist auf Grund gelaufen? Ruben blickte ihn fragend an.
— Sevilla, Neujahrstag. Meine Eltern hatten, wie es Brauch ist, zwölf Trauben für ein glückliches Jahr gegessen, und ich lernte die Falschheit kennen, ging Betrügern auf den Leim. Plim spürte, wie seine Zunge am Gaumen klebte, die Wörter nur widerwillig herauswollten. Zwei dreckige Halunken haben mich geprellt, mir alles geraubt, was ich besaß. Die Schande war zu groß, ich konnte mich zuhause nicht mehr blicken lassen … Obwohl ich von der Seefahrerei nichts verstehe, habe ich als Leichtmatrose auf einem Kauffahrer angeheuert.
— Sprotten werden überall gebraucht.
— Noch zwei Tage zuvor war ich in der Kathedrale, habe dem brodelnden Powidl-Powidl-Gesang des Chors und dem lispelnden Bischof gelauscht, und jetzt war ich auf dem Unglückskahn. Plim richtete sich auf, erhob sich und machte unsichere Schritte wie ein frischgeborenes Kalb.
— Setz dich wieder, Monsieur. Wirf Anker. Ruben gab ihm einen Krug mit Bier. Elias trank und erzählte weiter:
— Ich stand am Pier, weil nachhause konnte ich nicht mehr. Da hat einer gefragt, ob ich Heuer suche. Die Brigg war in erbärmlichem Zustand und der Kapitän ein versoffenes Subjekt, doch mir war alles recht.
— Was hast du angestellt, Monsieur?
— Später. Elias winkte ab. Und hör mit dem Monsieur auf, das erinnert mich an meine Cousine, die man, wenn sie schlimm gewesen war, Madame nannte. Wir hatten Getreide für Portugal geladen, und meine Aufgabe lautete, Ladung kontrollieren, Ratten jagen, dem Tuchmacher beim Segelflicken helfen, dem Kalfaterer Werg und Eisen reichen. Außerdem musste ich dem Koch zur Hand gehen, dem Kapitän den Branntwein bringen … Hauptsache, ich kam von Sevilla weg.
Die Fahrt war ruhig, und ich begann mich an das Leben auf See zu gewöhnen. Die Luft, das Meer — herrlich. Den Wind im Haar, auf der Haut das Salz und am Horizont flirrendes Glitzern. Ich hatte meine Schmach schon fast vergessen, als uns kurz vor Lissabon eine Galeere vor den Bug kam. Genueser Flagge, Stückpforten geschlossen. Der Kapitän und die Matrosen waren mit anderem beschäftigt, ich wusste, was passieren würde, vertraute meinen Ahnungen aber nicht. Als wir auf gleicher Höhe segelten, kam uns das Schiff seltsam vor — die Ruderhäuser, die dreieckigen Segel und die Geschützhütten. Was war das für ein Kahn? Da wurde die Flagge eingeholt, und die Galeere gab sich als Algerier zu erkennen. Piraten aus den Barbareskenstaaten!
— Keine Süßwassersegler.
— Der Tuchmacher stach sich in den Finger, der Koch warf sein Essen über Bord, und der Kapitän verschluckte sich am Branntwein. Die Flagge mit dem Krummsäbel wurde aufgezogen. Schreie! Bevor wir wussten, was geschah, hatten diese Hunde schon eine Breitseite abgefeuert. Ein Höllenlärm mit Pulverdampf. Die hatten Engelsmunition, gespaltene Kanonenkugeln mit kurzen Ketten, die die Masten umrissen wie Hühnerknöchelchen. Enterhaken flogen herüber, und Kahlgeschorene mit Zöpfen tauchten auf: schreckliche Fratzen mit goldenen Ohrringen — maurische Piraten, die brüllten, als hätten sie ein Minarett im Arsch.
— Halleluja.
— Einen Moment lang herrschte Schweigen. Da setzte sich der Kapitän eine Flasche an die Lippen und eine Pistole an die Stirn: »Señoritas, das bedeutet Sklaverei oder Tod.« Dann pustete er sich aus.
— Tja, brummte Ruben, diese muselmanischen Herrschaften verstehen ihr Geschäft. Von denen könnten wir uns eine Scheibe abschneiden. Wenn ich an unseren Unaussprechlichen denke, dem schon übel wird, wenn der Koch sich in den Finger schaneidet.
— Nachdem der tote Kapitän über die Brücke auf das Deck gefallen war, herrschte Chaos. »Töten und verschlingen! Sie werden uns töten und verschlingen«, kreischte ein Grünschnabel. »Blödsinn«, beruhigte der Bootsmann, »sie bringen uns nach Algier auf den Sklavenmarkt.« Fürchterlich aussehende Gesellen mit Knebelbärten, türkischen Hosen und Krummsäbeln sprangen auf unser Schiff, fuchtelten mit ihren Waffen, schrien und zerschnitten unsere Takelage. Zwei wurden einfach so, um sich Respekt zu verschaffen, aufgeschlitzt. Plim nahm einen Schluck Bier, und man sah, wie ihm der Schrecken nochmals in die Glieder fuhr.
— Ihr Anführer, der Raïs, man erkannte ihn am größten Turban, war ein jähzorniger Brüllaffe. Sie schleppten uns auf ihr Schiff, kreischend rissen sie uns die Kleider vom Leib, und plärrend stellten sie uns Fragen, die sie mit Schlägen selbst beantworteten. Dann hieß es Hände zeigen. Bei meinen, als sie sahen, dass ich keine Schwielen hatte, grinsten sie. »Die glauben«, flüsterte ein Matrose, »du bringst Lösegeld.« Ich? Wie es der Bootsmann prophezeit hatte, ging es Richtung Afrika. Uns wurden Halseisen angelegt, und wir mussten rudern, bis sich die Haut von unseren Händen schälte. Rudern, nichts als rudern.
— Klingt nach einer steifen Brise. Ruben kratzte sich am Ohr.
— Wir durften den Platz am Riemen nicht verlassen, unsere Notdurft wurde mit Eimern weggespült, und fiel einer in Ohnmacht, wurde er wachgepeitscht. Ich verstand nicht, wie der Mensch einem Menschen so etwas antun konnte. Noch wenige Tage zuvor hatte ich ein Zuhause, wo es nach Zimt und Milchreis roch, eine warmherzige Mutter und einen strengen, aber gutmütigen Vater. Ich liebte Rittergeschichten und das Herumstreifen in den Auen. Man hatte mich Algebra und Grammatik gelehrt, Konversation, Geschichte und die Namen der letzten Päpste, aber niemand hatte mir gezeigt, wie man sich unter maurischen Piraten zu verhalten habe. Plim stockte und holte Luft, ehe er fortfuhr.
— Wir kamen nicht in Algier an, sondern in einem Kaff namens Mostaganem, was Senfstadt heißt, aber von Senf war keine Rede, nur Palmen, dürre Sträucher, rote Erde, Sand. Die Leute johlten und bespuckten uns. Noch nie hatte ich eine solche Feindseligkeit erlebt. Man schmiedete uns Eisenringe um die Knöchel und übergab uns Sklaventreibern, die wie Stoffballen auf Kamelen saßen. Riesige Tiere mit mahlenden Kiefern waren das — Wüstenschiffe. Wir Gefangenen mussten zu Fuß nach Algier gehen. Anfangs zuckten wir, wenn wir auf spitze Steine traten, doch bald gewöhnten wir uns an den Schmerz. Und dann der Sand! Schnell war er in den Ohren, Nasen, ja, in jeder Pore. Sandkörner in den Augen, zwischen den Zähnen, Beinen, überall. Da niemand mit uns sprach, vermuteten wir die Stadt hinter jedem Hügel. Weit konnte Algier ja nicht sein. Unsere Wächter hatten Proviant, aber für uns gab es Disteln und verdorrte Sträucher, manchmal Schnecken, Eidechsen oder angeschwemmte Seeigel, die wir aus der Schale saugten. Eine nach europäischen Maßstäben völlig indiskutable Verpflegung. Obwohl wir immer wieder, wenn die zerklüfteten Felsen es zuließen, am Meer entlanggingen, litten wir Durst. Zu trinken gab es brackiges Wasser, das wir unter Büschen freigraben mussten. Natürlich führte das zu Bauchfluss. Austreten? Nein. Unten lief die Soße, oben waren wir vertrocknet, platzte der Schädel, und in der Mitte brannten Striemen von den Hieben. Nur wenn sie beteten, fünfmal am Tag, gaben die Schinder Ruhe. Plim hatte einen Kloß im Hals, aber Ruben deutete ihm fortzufahren.
— Über vierzig Leguas waren es bis Algier … mehr als hundert Meilen. Drei haben diesen Gewaltmarsch nicht überlebt. Wir haben sie beneidet, obwohl ihre Körper von den Sklaventreibern noch stundenlang geprügelt worden sind. Die Kerle fürchteten den Vorwurf, Sklaven auf eigene Rechnung zu verkaufen. Also hackten sie den Toten kurzerhand die Köpfe ab und befahlen uns, sie mitzuschleppen. Bald waren diese Schädel stinkende, von Fliegenschwärmen umwölkte Kürbisse, denen die Haut samt dem Haar herunterrutschte. Wie ein Zerrbild der Heiligen Drei Könige haben die Träger ausgesehen, nur dass sie nicht Gold, Weihrauch und Myrrhe brachten, sondern wurmstichige Totenschädel.
— Gütiger Neptun. Ruben nahm das Bier und trank.
— Nach zwei Wochen Fußmarsch erreichten wir halbtot Tipasa, wo wir in römischen Ruinen schliefen. Tags darauf trafen wir Janitscharen, die mit Kanonen auf eine Pyramide schossen, das Grabmal der Tochter Kleopatras. Die Kanonenkugeln richteten nichts aus. Der Kommandant, ein Tschorbadschi-Baschi, hielt zornig seine Suppenlöffel — Rangabzeichen bei den Janitscharen — in die Höhe, brüllte. Als der Schiffskoch lachte, wurde er kurzerhand vor den Kanonenlauf gebunden. Wir dachten, sie wollten ihm Angst einjagen, aber Augenblicke später hatte er ein Loch im Bauch. Einfach eine Kugel durchgejagt. Plim stockte. Es sah aus, als wäre er in einen Lochstanzer geraten, dann purzelten die Gedärme heraus. Seinen Blick, wie er an sich hinabgesehen hat, werde ich nie vergessen. »So schlecht war mein Essen nicht«, jammerte der Koch. Da sahen die Sklaventreiber ein, dass es besser war, sofort zu verschwinden. Zwei Tage später lichtete sich der Dunstschleier am Horizont, und nun sahen wir verschwommen eine kristalline Stadt — Algier.
— Da würde ich gern einmal auf Reede gehen. Ruben schnalzte mit der Zunge. Einen Harem mit zweitausend Konkubinen soll es geben, Bäder …
— Nicht für Sklaven, die werden mit Kameldung beworfen und mit Dreckwasser beschüttet. Andere verspotteten unsere Religion, unsere Hautfarbe, unsere ausgemergelten Körper. Alle schrien »Kuffar! Billa oa rosole« — gottlose Ketzer. Dieses Arabisch hört sich an wie Gewinsel, wenn ein Kamel auf Hundepfoten steht. Wir waren nackt, die Haut schälte sich ab, das Haar war Gips, und an den Beinen klebten Schlieren. Wir empfanden nicht einmal Verzweiflung; die Verzweiflung empfand uns.
— Heilige Makrele! Aber Algier ist doch märchenhaft?
— Ein schmutziger, beengender Moloch … als Latrinen missbrauchte Stadtmauern … verschachtelte Häuser mit breiten Erkern … und Heimat einer bösen Zauberin.
Tatsächlich war Algier, das heute mit seinen azurblauen Fensterläden und Balkonen an ein heruntergekommenes Nizza erinnert, damals die mächtigste Stadt Nordafrikas. Im 16. Jahrhundert war sie unter dem Korsaren Khair ad-Din, den die Christen Barbarossa nannten, groß geworden und stand unter dem Schutz des türkischen Großsultans.
— Auf der Galeere, wo wir nur verschrumpelte Oliven, alte Datteln und die Peitsche bekommen hatten, waren wir voller Hoffnung. Noch beim Marsch entlang der Küste hatten wir uns Mut zugesprochen, geglaubt, vielleicht als Erzieher bei einem Sultan zu landen oder als Dolmetscher bei einem Kaufmann. Nur manche ahnten, dass es christlichen Sklaven unter Moslems kaum besser ging als Moslems unter Christen. Sie behandelten uns wie Hunde, die es dort nicht gab — unreine Tiere. In Algier wurden wir in einen Schweinestall gesperrt.
— Lüg mich nicht an, Monsieur! Ruben machte ein ernstes Gesicht. Weiß doch jedes Kind, dass Muslime keine Schweine essen.
— Palastschweine, Elias ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Mit deren Fett werden die Stukkaturen in den Palästen eingelassen. Aber im Schweinekoben waren wir nicht lange, bald kamen wir in ein feuchtes, dreißig Fuß tiefes Erdloch. Ein Gestank wie in einem Plumpsklo. Tagelang ging es uns schrecklich, wir waren überzeugt, in dem Drecksloch zu verfaulen oder von Nagern verspeist zu werden, die nachts auf uns spazieren gingen. Sind Sie schon einmal aufgewacht, weil Ihnen ein Rattenschwanz durch das Gesicht gefahren ist? … Es war die Hölle, bis man eines Tages unsere Rationen erhöhte, wir Eidotter mit Brot bekamen, an die frische Luft durften. Warum? Damit wir am Sklavenmarkt Eindruck machten. Als es so weit war, hat man uns gewaschen und geölt, sahen wir aus wie polierte Ostereier.
— Und dann kamst du zur Zauberin?
— Später.
— Algier ist ein Juwel, eine Stadt wie ein Kreideberg mit Palästen, Befestigungsanlagen und dem uneinnehmbaren Hafen. Ruben geriet ins Schwärmen. Und die Frauen! Es heißt, ihre Ankerklüsen sind glatt wie Pflaumen und süß wie Feigen. Da kannst du abbrassen und aufentern.
— Ich wurde am nach Kamelpisse stinkenden Sklavenmarkt ausgeschrien. Plim rollte mit den Augen. Überall Ausrufer, die etwas brüllten wie: »Seht euch diesen kräftigen Burschen an, für jede Arbeit geeignet. Schaut diesen Knaben, für jede Lustbarkeit zu haben.« Männer im Kaftan strichen um uns rum. Der Sklavenmarkt, wo wir uns splitternackt zeigen mussten, war die schlimmste Demütigung, ärger als die Ratten im Gesicht. Die Kaftanmänner zogen uns die Zunge aus dem Mund, steckten uns Finger in die Ohren, sahen nach, ob wir Zähne hatten, weil, wer nicht essen kann, kann auch nicht arbeiten. Sie zogen uns die Arschbacken auseinander, um nachzusehen, ob wir Arschgewächse hatten, weil, wer nicht scheißen kann, kann auch nicht arbeiten. Ein Eunuch kostete vierzig Dukaten und ein Dromedar fünfzig, während ein gesunder Arbeiter keine zwanzig wert war, das Zehntel einer Bisamkatze. Da waren haselnussbraune Zwerge aus Guinea, pechschwarze Riesen, bestimmt fünf Fuß groß, mit zugespitzten Zähnen von der Elfenbeinküste, manche mit Narben an den Wangen. Frauen aus dem Kongo mit Hinterteilen so groß wie Predigtkanzeln, welche mit Ringen um die Hälse, durchbohrten Nasen, Tellerlippen. Bucklige, Ausgemergelte, andere waren schön und stolz. Und alle wurden sie verkauft wie Vieh.
— Fischmarkt, oder was. Ruben rülpste.
— Ich war bei den Billigangeboten. Man machte sich über meine Ärmchen lustig, feilschte. Schließlich erwarb mich …
— Die Zauberin?
— … ein gewisser Abdelmalek Faïd, der mir Ketten um die Knöchel schmieden ließ. Trotzdem war ich guten Mutes. Faïd hatte ein freundliches Gesicht und schmunzelte, als er in meiner Sprache sagte, wir Menschen seien alle aus demselben Teig gemacht. Ein guter Mensch? Ich jubilierte. Da fügte er laut hinzu, so dass ihn alle hören konnten, er hasse Christen: gottloses Geschmeiß.
— Da warst du platt vor dem Wind. Ruben kratzte seinen roten Bart.
— Zuversichtlich, fast stolz ging ich neben meinem Herrn, und als ich sein Haus in der Kasbah sah, war ich beglückt. Kein Palast, aber weitläufig mit vielen gekachelten Räumen, Dachterrassen, Möbeln mit Intarsien. Alles hier war fein ziseliert und voller Schnörkel, Arabesken. Überall hatten Menschenhände viel Mühe investiert, um all die Verzierungen anzubringen. In der Küche werkten verschleierte Frauen, die mich misstrauisch beäugten, doch bekam ich Ziegenmilch. Man zeigte mir die Wohn- und Schlafräume, sogar die Tür zur Kammer von Faïds Lieblingsfrau. Außerdem bläute man mir ein, dass Männer den oberen der zwei Türklopfer benutzen mussten, damit die Frauen drinnen wussten, sie hatten sich zu verschleiern.
— Segel setzen.
— So würde ich also, war ich überzeugt, als Haussklave meine Tage fristen, in einem Land, in dem es dreimal im Jahr Orangenernte gibt. Ich sah die zubereiteten Speisen — Couscous mit roter Sauce, grüne Suppe mit Koriander, geschmortes Fleisch, Fladenbrot … Und als ich mich schon auf die Annehmlichkeiten des Orients freute, erschien ein Bärtiger mit Tischdecke auf dem Kopf und Gebetsteppich unter der Achsel. Der Kerl sah mich böse an, setzte ein furchteinflößendes Grinsen auf und begann mit gezwungener Freundlichkeit zu sprechen: »Na, was haben wir da für ein Milchbrötchen, das glaubt, sich hier einnisten zu können?« Gleich darauf fing er an zu brüllen und mich zu schlagen. Dann schleifte er mich auf ein Feld, wo ich an einer Winde die anderen, wie Ochsen schuftenden Sklaven sah. Zu früh gefreut! Von wegen Erzieher oder Dolmetscher, ich war ein Nutztier und sonst nichts. Das schlechtestmögliche aller Lose. Wieder steckte man mich in ein Erdloch. Es roch nach Moder, Kot und Schweiß. Dagegen ist die Hölle ein Biergarten. Kinder bewarfen uns mit Steinen, und boshafte Menschen schütteten stinkendes Wasser in das Loch.
— Da bist du im Unterdeck gelandet.
— Morgens wurden wir Sklaven aus dem Erdloch herausgezogen, bekamen Milch, Fladenbrot, das für die Ziegen zu hart war, und mussten an das Mühlenrad. Der Bärtige, selbst ein Konvertit, brüllte unentwegt — er würde uns das Bild, das wir von uns selbst hatten, schon austreiben. Wenn er mit uns fertig wäre, hätten wir nur noch Essig im Kopf … Mustafa Müller rief er sich, und auf mich hatte er es abgesehen … Wie Ochsen sind wir bei der größten Hitze im Kreis gelaufen, bis sich die Haut in Fetzen löste. Nichts als schieben, gehen, schwitzen. Von morgens bis abends, Tag für Tag.
— Ein Leben an der Ankerwinde.
— Dazu kamen Ausschläge, Fieber, Brechdurchfälle, doch am schlimmsten war diese Jallajalla-Sprache, von deren gurgelndem Singsang ich nichts verstand. Jallajalla von den Minaretten, Jallajalla vom Aufseher, von überall. Ich konnte hören, was gesagt wurde, aber die Bedeutung nicht verstehen. Ohne Sprache ist man verloren … Eines Tages erschien Faïd. Er hatte ein gutmütiges Gesicht. Ich, weiß Gott, welcher Teufel mich ritt, schrie ihm zu, das Drehen der Spule könnte auch der Wind erledigen. »Idiot«, zischten mir die anderen Sklaven zu. Faïd hob die Hände, ließ die Arbeit stoppen. Ich wurde herausgezogen aus der schwitzenden, stöhnenden Sklavenmasse, und obwohl Mustafa Müller mich prügelte, zeichnete ich ein Windrad in den Sand und blickte hoffnungsvoll zu meinem Herrn.
— So eine Mechanik, sagte ich, ist ein epochaler Fortschritt. Vergleichbar mit der Erfindung der Schrift durch die Assyrer, der Verwandlung vergorener Früchte in Alkohol …
Faïd lächelte, überlegte … da flüsterte ihm Müller was ins Ohr, änderte mein Herr seinen Gesichtsausdruck, brüllte »Jallajalla … aufwieglerischer Bursche!« und prügelte auf mich ein. Sah er die Arbeitserleichterung nicht? Den Fortschritt? Wollte er von solchen Problemen die Finger lassen, weil sie ihm zu ungemütlich waren? Er zerstörte meine Zeichnung, schüttelte den Kopf.
— Volle Breitseite, murmelte Ruben, der an Elias’ Lippen hing.
— Die Lektion war klar: Wir waren nicht zum Denken da. Die anderen Sklaven hielten mich für einen Besserwisser und Einschmeichler. Zum Glück waren sie zu schwach, den Albtraum, den sie mir wünschten, zu verwirklichen. Als ich nach Tagen der Demütigung nur noch sterben wollte, kam die Rettung. Ich durfte raus. Plötzlich hieß es Boden schrubben, kehren, Hühner und Ziegen füttern, an Festtagen das Haus mit Kalk und Milch streichen — alles besser als das Mühlenrad. Mustafa Müller zeigte mir, wie man Oliven von den Bäumen schlug und wie oft die Salzlake, in die sie gelegt wurden, gewechselt werden musste.
— Warum bist du aufgestiegen, Monsieur?
— Obwohl ich mich bemühte, Elias überging die Frage, meinem Herrn nützlich zu sein, und mich mit Wörtern wie hamssa, shukran, habibi, salamaleikum herumschlug, hoffte, mich eines Tages freikaufen zu können, wurde ich mit Prügelsuppen überschüttet. Schlugen mich nicht Faïd und Mustafa Müller, so waren es die Frauen. Ein Hundeleben. Nachts wurde mir eine Kette um den Hals gelegt, und zu essen gab es Küchenabfälle.
Eines Tages kam Abdelmalek Faïd, zog mich zu dem Mühlenrad und zeigte mir freudig klatschend die Windflügel, die er getreu meiner Zeichnung hatte bauen lassen. Das Werk funktionierte einwandfrei.
— So schnell dreht sich der Wind.
— Damit ich mir nichts einbildete, gab es Schläge. Die anderen Sklaven waren bald verkauft, ich wurde als Haussklave behalten, setzte alles daran, mich als nützlich zu erweisen. Ich konstruierte eine Wasserrinne, zeigte meinem Herrn, wie man Schablonen zur Wandbemalung nutzen konnte, erklärte ihm, wie Spinnräder mit Fußpedalen funktionierten, und noch so allerlei. Doch wurde mein Leben besser? Keine Spur. Mustafa Müller machte mir die Tage schwer. Der Kerl mit dem Bart am Hals kam aus Pommern, Schlesien oder der Ukraine, jedenfalls aus Deutschland, betete mehr als ein Prophet, rührte keinen Alkohol an und zitierte ständig den Koran. Meist war er hundsgemein, nur wenn er an seine Heimat dachte, redete er von der guten alten Zeit und wurde traurig.
— Und du stammst aus Sevilla? Der Monsieur ist ein Sevillano?
— Mein Vater ist dort … Elias machte eine Pause, als ob er überlegte … Totengräber. Die Inquisition hat ihn reich gemacht, weil ihn die Angehörigen der Opfer bestechen, damit der geschundene Leib nicht unter der Kirchentraufe oder auf einem Acker verscharrt werden muss. Seit sich die Leute Särge leisten, weil sie nicht mehr unter ungelöschtem Kalk vermodern wollen, blüht das Geschäft. Daneben hat mein alter Herr Leichen an Medizinstudenten verhökert, Leute, die Tote aufschneiden, um dieser neuen, aus Padua kommenden Lehre zu frönen, die sich Anatomie nennt.
— Anna-Toni?
— Meine Zukunft war ein Diamantenring. Den hätte ich bei einem Juden hinter der Kathedrale versetzen sollen … gib gut darauf Acht, hatte Vater mich gewarnt … doch am Weg traf ich den Teufel, gleich in zweifacher Gestalt: Bastardo und Cinquecento … der eine sah aus wie eine Ratte, der andere hatte etwas Fischiges … Die beiden haben mich bezirzt, über die Brücke des Guadalquivir gelockt, gesagt, drüben in Triana würde ich für meinen Ring viel mehr erhalten … viel, viel mehr … »Sei kein Holzkopf, nur Strohbohrer gehen zum Jud …« Und ich habe es geglaubt, weil ich gierig war. Anstatt zum Juden bin ich mit den beiden mit. Der größte Fehler meines Lebens. Plim seufzte. Mein Vater hätte mich umgebracht, wenn er es erfahren hätte. Ich könnte jetzt in Salamanca sitzen und mir Vorlesungen über Trigonometrie oder die Viersäftelehre anhören, aber nein, ich musste diesen Gaunern folgen, die Trittling statt Schuh sagten, Kleebiss für Pferd, schwarze Luft statt Nacht.