— Diebe!
— Das sind Piraten!
— Mörder! Aufhängen, das Gesindel! Macht sie fertig! Die mit Zaunlatten, Mistgabeln und Pistolen bewaffneten Bürger Havannas, in der Mehrzahl gottesfürchtige Leute, brüllten Höflichkeiten. Bigotte Frauen wollten Ruben und Elias am nächsten Ast baumeln sehen, selbst der Priester Francisco hatte Speicheltropfen an der Oberlippe. Die Luft war dick wie gestocktes Fett.
Hinter Elias’ Ohren pochte es, und er fühlte das Verlangen, sich in Nichts aufzulösen oder per Astralwanderung in einen anderen Körper einzuziehen.
— Heilige Makrele! Ruben sagte was von »borgen« und legte die gestohlenen Kleidungsstücke auf den Boden. Die Menge grölte. Seit Algerien hatte Elias keine solche Aggression erlebt. Menschlichkeit in ihrer niedrigsten, gemeinsten Form. Zwei fürchterliche Fratzen taten sich hervor, stoppelbärtige Gesichter mit löchrigen Gebissen, fettigem Haar. Plims Verstand zog sich in seinen hintersten Raum zurück, darin stand eine Kommode, und in der untersten Lade lag unter einem Berg unwichtiger Dinge die schreckliche Erkenntnis, er kannte sie — Cinquecento und Bastardo. Jetzt hatten sie nichts von Paul Newman und Robert Redford. Die beiden waren ein Kübel eiskaltes Wasser ins Gesicht. Diesem Gaunerpärchen verdankte Plim sein Schicksal, sie hatten ihn einst in das wilde Viertel Sevillas gelockt und ihm dort den Diamantenring abgeluchst.
Gedanken an den größten Fehler seines Lebens blitzten auf. Kaum über der Brücke, hatten sie bei einem Wandererzähler Halt gemacht. Der stand an einer Bildertafel und erzählte von der abenteuerlichen Reise eines Eroberers, von Eingeborenen, blutigen Kämpfen, Gold und Perlen. Der Held dieser Erzählung war so verwegen und unverwundbar, dass man munkelte, er treibe es mit dem Teufel. Wenn andere zum Rückzug riefen, schrie er »Angriff!«, wenn andere vor wilden Tieren zurückschreckten, schritt er voran. Elias war fasziniert. Doch bevor der Wandererzähler dazu kam, seine Wundertinktur feilzubieten, drängten Bastardo und Cinquecento zum Aufbruch.
— Bei unserem Kroner bekommst du mehr für deinen Klunker, hatten sie gemeint, und ihn durch das von Nutten, Landstreichern und Tagelöhnern bevölkerte Triana gelotst. Da waren Kinder mit verdreckten Mündern, streunende Katzen und zwielichtige Gestalten, Seiler, Gerber, Seifensieder, sogar eine Besengarde, wie die Straßenkehrer hießen, alle waren sie da, nur nicht der Händler. Also, weil nur wer warten kann, gewinnt, ging man in eine Schenke, wo Knoblauchzöpfe und geräucherte Schweinekeulen von der Decke hingen und ein Henker gerade seine Gesellenprüfung feierte. Der Scharfrichter erzählte, wie er das Enthaupten an Kürbissen, Rhabarberstängeln und Hunden geübt hatte. Ein anderer brüstete sich, mit einem Streich zwei Verurteilte enthauptet zu haben.
— Man muss die Füße in die richtige Position bringen, den Nacken des armen Sünders mit dem Blick fixierten, sich konzentrieren, so richtig ausholen und dann den Schlag locker durchschwingen … Hole-in-one … Zünftige Gesellen waren das, gediegene Handwerksburschen in karierten Hemden, die nur für den Feierabend lebten. Die Henker und ihre Büttel hatten sich einen Affen gekauft, waren also sturzbetrunken, als sie anfingen, von der Kapelle zu erzählen, wie sie die Folterkammer nannten. Da fielen Begriffe wie der Polnische Bock, die Schlesische Mütze, das Englische Hemd, der Andalusische Hund. Und jetzt mussten sie mit dem Gesindel feiern, weil Henker genauso ein schändlicher Beruf war wie Bader, Bettler, Färber, Abdecker, Kastrierer, Schauspieler, Zöllner.
— Und was ist mit dem Händler? Sollten wir nicht nachsehen, ob er …
— Später. Bastardo und Cinquecento hatten Spaß, die Gabler, wie sie zu den Henkern sagten, auszufragen. Was empfanden sie, wenn sie Gliedmaßen an den Galgen nagelten, Augen ausstachen oder Gotteslästerern die Zungenspitze abschnitten? Wie ging es ihnen, wenn sie Kindesmörderinnen ertränkten?
— Wie soll es einem gehen? Die Scharfrichter lachten. Man ist stolz, wenn man sein Handwerk richtig macht. Man hat ja Ehr im Leib … Nicht jeder bringts zur Meisterschaft. Man braucht tadellose, nämlich eheliche Herkunft, standesgemäße Verwandtschaft, einen makellosen Werdegang …
Irgendwann war die Schenke voll mit kleinen Ganoven, die Hühnerbein, Schneck, Achtfinger, Rüssel oder ähnlich hießen. Ein Carnifex erzählte, dass sich eine Hebamme geweigert hatte, sein Haus zu betreten, weil es unrein war, woraufhin seine Frau eine Totgeburt bekam. Ein anderer regte sich auf, weil er als Scharfrichter auch für das Bordell und die Müllentsorgung verantwortlich war. Der Nächste berichtete von einer Bahrprobe, bei der die Leiche zu bluten anfing, als sich ihr Mörder näherte. Der Pöbel johlte.
— Sollten wir jetzt nicht zum Händler gehen? Elias wurde unruhig.
Da kamen Zigeunerinnen mit Rosen zwischen den Zähnen, die Flamenco tanzten. Angestrengte, konzentrierte Gesichter. Tanzgemüse. An den dünnen Stangenselleriehälsen wölbten sich die spargeldicken Adern. Ihre kleinen Kohlsprossenbrüste wippten. Sie trieben ein Spiel mit Tüchern und Schleifen, und ihre tomatenroten Schuhe hackten in den Boden wie ein Gemüsemesser beim Schnittlauchschneiden — eine Art Urstepptanz, bei dem Fred Astaire mit der Zunge geschnalzt hätte. Betrunkene klapperten mit Kastagnetten, schlugen Tamburine, und der Aal bestellte Branntwein, der Elias schnell zu Kopf stieg. Plötzlich waren seine Sinne wie in eine Gemüsesuppe gefallen, kam die Theke auf ihn zu und hatte sich der Schankwirt verdoppelt, auch Cinquecento und Bastardo waren nun zu viert, zwei Aale und zwei Ratten, die, wie war das möglich, Portugiesisch sprachen, während die Schenke selbst vibrierte wie ein Walfischmagen. Die Tänzerinnen wirbelten … Aiaiaijaijai … durch den Raum, Vegetarier in einer Fleischerei, und selbst wenn die Musik verzerrt war, trommelten ihre Füße auf den Boden, als würden sie nach Kakerlaken treten.
— Ich werde nach Malasanca gehen und Zedimin mustieren, lallte Elias, der nun überhaupt nicht mehr an Ring und Händler dachte. Und wenn ich dann als Doktor zurückkomme, werde ich euch gratis behandeln. Alle! Ich werde dafür sorgen, dass niemand mehr behauptet, Triana sei gefährlich. Der Arzt Elias Plim wird Seuchen bekämpfen und Miasmen und Biberfäulen und … Große Münder kamen auf ihn zu, die Röcke der Tänzerinnen waren Kreisel, die Kastagnetten verwandelten sich in Klapperschlangen, während die Schinken an der Decke nackte Frauenleiber waren. Elias umarmte Bastardo und Cinquecento, der jetzt Portugiesisch redete … »kannst mich Gino nennen, Gino, der Aal« …, küsste ihre Wangen, Schleifpapier grob, auch sie waren nun hübsch wie junge Mädchen …
— Wirt! Mehr Getränk!
Irgendwann saß eine Tänzerin auf seinem Schoß, und gemeinsam sangen sie Lieder, Aiaiaijaijai, das Glamourgirl mit rauchiger Stimme, er hell und quietschend wie ein Ertrinkender. Texte, die er nicht kannte. Lusitanische Seefahrerlieder? Dann zerkugelte er sich über ein simples Wortspiel mit »Waffe laden« und »Waffelladen«, Teekesselwörter, seine Augenlider waren längst auf Halbmast, jemand sagte was von Trockenschnarchen, und alle lachten, als der Wirt Grunzlaute imitierte. Elias war noch nie so glücklich gewesen. Selbst als er spürte, dass etwas zum Aufbruch drängte, seine Beine ihn nicht mehr trugen und ihm der Branntwein hochkam, ging es ihm noch blendend. Sogar, als er Wörter wie »völlig weggetreten« und »beblubbert« hörte. Aiaiaijaijai.
Als er am nächsten Morgen auf dem Kopfsteinpflaster vor der Schenke erwachte, war es zu spät. Er konnte nicht geradeaus sehen, und sein Kopf war wie unter einem Schmiedehammer, der unerbittlich zuschlug. Doink. Doink. Doink. Nein, das war sein Pulsschlag. Das Tageslicht schmerzte die Augen, der Straßenlärm tat in den Ohren weh, und die ersten Schritte fühlten sich an wie nach einer Hüftoperation, bei welcher der Chirurg statt eines künstlichen Gelenks eine Knoblauchpresse eingebaut hatte. Das Schlimmste aber war, der Ring war weg und auch die Gauner. »Gino! Bastardo!« Er suchte nach dem Lederbeutel, durchwühlte seine Taschen — nichts. Panik! Entsetzen! Als er verzweifelt gegen die verriegelte Tür der Schenke klopfte und »Aufmachen!« brüllte, kam ihm der Inhalt eines Nachttopfes entgegen. Alles vorbei. Aus Scham wagte er sich nicht nachhause, ging stattdessen zum Hafen und heuerte auf einem Kauffahrer an.
Und nun standen diese Gauner hier auf Kuba in der grölenden Menge und forderten seinen Kopf. Gino und Bastardo! Wie kamen die hierher? Zum Glück erkannten sie ihn nicht. Damals war Elias ein feistes Bürschchen mit fettig glänzenden Wangen, einem leichten Doppelkinn und langen Locken gewesen. Jetzt, nach Algier und den Wochen auf dem Piratenschiff, war er abgemagert, gebräunt und hatte kurzes Haar.
— Schnappt euch die Verbrecher, knüpft sie auf. Und als lynchmobige Hände nach ihnen griffen, Elias voller Panik war, hob Ruben die dicken angelsächsischen Arme und sprach mit fester Stimme:
— Wartet! Monsieurs! Ja, es stimmt, wir waren bei den Piraten. Aber warum, glaubt ihr, sind wir jetzt hier?
— Weil man euch vergessen hat, Verbrecher, schrie einer. Wahrscheinlich wart ihr so besoffen, dass ihr euer Schiff verpasst habt.
— Weil wir danesertiert sind.
— Ihr seid was?
— Desertiert, er meint desertiert.
Ruben legte seinen Zeigefinger an die Lippen und sagte leise:
— Wir sind keine Piraten, seht uns an. Wir waren Sklaven in Algerien, sind geflohen, kamen auf ein Schiff, das geriet in einen Sturm, der Schweinevogel bekam ein Leck und sank … Piraten haben uns herausgefischt … Glaubt uns, wir sind ehrliche Leute, Monsieurs, die hier auf anständige Art ihr Brot verdienen wollen.
— Stimmt das? Du da, forderte einer Elias auf, wenn ihr wirklich gute Christen seid, sag mir, aus welchem Geschlecht Papst Clemens der Siebte stammt.
— Er ist oder vielmehr war ein Medici, kam es wie aus der Pistole geschossen. Er ist seit vier Jahren tot. Sein Nachfolger nennt sich Paul der Dritte und kommt aus dem Geschlecht der Farnese, allerdings bin ich bei den Päpsten nicht so auf dem Laufenden, und in Algier wurden ihre Namen nur verwendet, um zu fluchen.
— Und was bedeutet »De möbilus nihil risibisi bene«, du Klugscheißer?
— Sie meinen wahrscheinlich »De mortuis nil nisi bene«, was bedeutet, man solle die Toten nicht mit Dreck bewerfen, sagte Elias ohne zu zögern.
— Besagt gar nichts, schrien welche.
— So etwas weiß kein Pirat, widersprachen andere.
— Ein Gottesurteil, forderten die Nächsten, oder:
— Werft sie gefesselt ins Meer. Unter der Folter werden sie reden.
— Wenn du ein Christ bist, musst du die Geschichte von den ersten Menschen kennen … erzähl sie uns.
— Na gut. Elias sprach mit ruhiger Stimme. Am Anfang war das Wort, und wenig später kam die Stimme, dann der Mund. Gott erschuf die Erde, die zu Beginn von riesigen Drachen bevölkert war, weil Gott gesagt hatte, es werde Licht — dabei wurde es Feuer. Da waren große flammenspeiende Ungetüme und kleine, die sich vom Dreck in den Zehennägeln der Riesen ernährten. In einer dampfend brodelnden Drachenscheiße entstand schließlich der erste Mensch, der Adam hieß. Dieser Adam war ein Jude, und das Erste, was er machte, war, Gott einen Tauschhandel anzubieten: Rippe gegen Frau. Gott wollte zwei Rippen, aber der Jude konnte feilschen, schlug noch Zinsen drauf, die Kinder. Dafür bekam Gott das Präputium.
— Wasn das?, kreischte einer.
— Vorhäutchen, flüsterte Francisco.
— Anfangs dachte Adam, er hätte ein Mordsgeschäft gemacht, als diese Eva aber anfing, ihn zu nerven, kamen ihm Zweifel. Rückgaberecht existierte nicht, und der Markt für Frauen und Rippen war im Paradies beschränkt, quasi göttlich monopolisiert. Und dann gab es da diesen Apfelbaum, auf dem eine Schlange wohnte, die Eva an die Birnen wollte.
— Blödsinn, schrien welche. Ahnungsloser Ketzer. Ein Tumult entstand.
— Herrschaften, Monsieurs, hob Ruben seine Hände wie Moses, als er das Meer teilte. Was unterscheidet einen Piraten von einem rechtschaffenen Bürger? — So begann er zu reden, zunächst stockend, ängstlich, bald freier. — Ist ihr Blut dicker? Oder hanaben sie ein Teufelsmal? Sind sie mehr behaart, oder schmatzen sie beim Essen? Gerade euch auf eurer schönen Insel muss es um Werte gehen, um eine Gemeinschaft, in der man anständig leben kann und nicht betrogen wird. Da könnt ihr nicht auf alles schießen, was euch vor den Bug kommt. Vor allem aber bin ich der Meinung, dass die euch überfallen habenden Piraten Franzosen waren. Und sind wir etwa Franzosen, Monsieurs? Sehen wir wie Schneckenfresser aus? Wächst uns aus der Nase Käse? Oder was? Dieser Fischkopf hier, mein Beiboot, stanammt aus Sevilla, während ich meinerseits Venezianer bin, eigentlich Österreicher, Nachkomme der berühmten Margarethe mit dem großen Maul. Beide sind wir gute Christen.
Da kamen Zweifel in den Lynchmob, begann man zu diskutieren, ob jetzt nur die Franzosen Piraten waren oder auch alle anderen, und weshalb der Rothaarige dauernd Monsieur und Wörter wie hanaben oder stanammen sagte. Jedenfalls ließ man die beiden einfach stehen. Die Menge zerstreute sich, und obwohl sich einige um das Vergnügen einer saftigen Lynchjustiz gebracht sahen, waren sie nun ganz in ihre Streitgespräche vertieft. Auch Cinquecento und Bastardo, die in Elias Erinnerungen an den schwärzesten Tag seines Lebens geweckt hatten, verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren, und diskutierten Möglichkeiten, der Glocke an die Innereien zu kommen. Die beiden Senkgrubengesichter waren keineswegs so furchterregend, wie Elias sie empfand. Bastardo hatte sich Schweinefett ins dunkle Haar gestrichen, und Cinquecentos weizenblonde Locken waren frisch gewaschen. Ihre Jacken waren zwar geflickt, doch die Schuhe auf Hochglanz poliert … eigentlich coole Typen …, sie wollten zu den leichten Mädchen, die sie Gleit- und Wonneberge nannten.
— Ich verstehe nicht, wieso du nicht die Batzen vom Klöppel genommen hast? Dafür könnte ich dich flosseln. Bastardo spuckte aus.
— Ich war in Galle. Cinquecento zuckte mit den Achseln. Habe gegen den Läutling gepocht, doch von dir kam kein Respons.
— War bewusstlos. Mich hat ein Brettling am Kabas erwischt.
— Ich wäre fast erstickt. Finsterig war’s, wie es für einen rechtschaffenen Menschen nicht auszuhalten ist. Wenn du nicht zu Verstand gekommen wärst, würde ich jetzt mit den Engeln pfeifen.
Elias und Ruben atmeten tief durch und schlüpften in das immer noch am Boden liegende Gewand — im Tumult hatte man darauf vergessen.
— Was sollen wir jetzt machen? In Havanna bleiben?
— Warum nicht? Zuallererst müssen wir Geld verdienen, Monsieur Plim, und hier werden Arbeiter für den Wiederaufbau gesucht. Maurer, Zimmerleute …
— Davon verstehe ich nichts. Und so wie ich dich einschätze, soll ich arbeiten, während du nur auf der faulen Haut liegst.
— Vielleicht kannst du Kinder unterrichten? Der Rothaarige machte ein nachdenkliches Gesicht. Oder Straßenmusiker?
— Lass uns zurück ins Wäldchen gehen.
— Zu den Platanen, deren Rinde an Leprakranke erinnert? Affen und Wurzeln fressen? Daraus wird nichts, Monsieur Plim. Ich habe genug vom Unterdeck. Wir müssen nach Havanna. Ruben legte den schweren Arm um Elias’ Schulter und drängte ihn vorwärts.
Sie sahen Ochsenkarren, schwarze Sklaven und eine noble Kutsche, in der Isabella und Porcallo saßen. Da kam ihnen eine hagere Gestalt entgegen. Holländischer Spitzhut, aber weiß. Eine Kniebundhose von derselben Farbe, gelbe Stutzen, rote Schuhe und ein bunt gestreiftes Hemd samt Halstuch. Eine auf Ibisbeinen wandelnde Geburtstagstorte? Der Mensch sah so lächerlich aus, dass sie nicht anders konnten, als ihn anzustarren.
— Ist etwas, meine Herren, sagte die Witzfigur mit deutschem Akzent. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Wilhelm Friedrich Erasmus Müggenpflug, genannt Gunkel, Kunsthändler aus dem Schwarzwald, wo das Göschle gaht und s Ärschle blaht.
— Müggenpflug?
— Für Sie Herr Gunkel. Eine triste Gegend ist das hier, lauter Ungebildete, die man erziehen muss … Stellen Sie sich vor, den Leuten hier sagt Vesper nichts, die kennen keine Herrgottsbschissli, keine Spätzle, nicht einmal Flädlesupp. Als auch Ruben und Elias ihre Namen nennen wollten, fiel er ihnen ins Wort: Im Deutschen muss man höflich sein und den anderen aussprechen lassen, weil das Verb immer erst ganz zum Schluss kommt. Verstehen Sie? Im Deutschen sorgt die Grammatik für Höflichkeit.
— Sind Sie Lutheraner, Monsieur Gunkel? Haben Sie diesen deutschen Ketzer ausgeflaggt? Ruben fragte direkt.
— Aber wer wird denn? Ich? Wo denken Sie hin? Lutheraner? Affadaggl! Sehen Sie, die Spanier pflanzen kreuz und quer, dagegen wir Schwaben, da ist eine Allee schnurgerade, können Sie als Lineal verwenden. Und trotzdem bin ich ein Papist. Die Spanier wollen nur Gold und Perlen, ich aber suche Artefakte, Tonfiguren, Masken … Dinge, die man mir an den Fürstenhöfen aus den Händen reißen wird. Die adeligen Schnösel sind ganz wild auf Kuriositäten aus der Neuen Welt. Und jetzt, da Desoto angekommen ist, bin ich entschlossen, mich seiner Expedition anzuschließen.
— Was für ein Otto?
— Desoto! Männer werden gesucht, und es heißt, dieses Florida ist ein reiches Land, es heißt, da trinkt man aus goldenen Bechern und verwendet silbernes Nachtgeschirr. Dabei so nah. Gunkel blickte nach Norden und schwenkte seinen Hut.
— Eldorado, mach dich bereit! Wilhelm Friedrich Erasmus Müggenpflug kommt. Ich möge tot umfallen, wenn da nicht das Glück zu machen ist.
Genau in dem Moment fiel zzzzzzck etwas vom Himmel, streifte den Deutschen am Kopf, der sofort zu Boden ging und sich nicht mehr rührte. Tot umgefallen?
Elias und Ruben zuckten zusammen und hielten schützend ihre Arme über den Kopf. Jetzt sahen sie, was da angeflogen gekommen war.
— Eine hölzerne Kanonenkugel?
— Eine Kokosnuss! Ruben griff sich das Ding, schälte die braunen Blätter ab und brachte eine behaarte Holzkugel zum Vorschein.
— Sieht aus wie das Ei eines Orang-Utans.
— Eine Nuss. Ruben schlug sie auf, trank die darin schwappende Milch und reichte Elias ein Stück Mark, das trocken und faserig schmeckte wie gepresstes Heu.
Inzwischen hatte sich Gunkel wieder aufgerappelt, klopfte auf die Kokosnuss und begann deutsche Zungenbrecher von sich zu geben.
— Eine schwäbische Schwalbe schwebt beschwingt verschwenderisch ins schwulstige Schweden … Jetzt fühl ich mich ein wenig stärrig. Dann brabbelte er etwas von lustigen Indianerstämmen, die sich ihre Gesichter rot bemalten »wie zu Fastnacht«, und dass er jetzt wohl aussähe wie ein Schluck Wasser in der Kurve.
— Können Se ma vielleischt ein bitzle Öl auf de Stirn tupfe, aber nischt das Haar berühre … Man verstand etwas von einem weißen Indianer und einem Hinterhalt. Schaffe, schaffe, Häusle baue … Beddbronzr. Kein Zweifel, der Deutsche mit der Gehirnerschütterung hatte den Verstand verloren, hinter seiner Stirn war alles im Bodensee versunken, alles Schwarzwald. Dann schüttelte er den Kopf und verlangte Falz.
— Falz?
— Na, das weiße Zeug, das man aufs Essen heult.
— Salz?
— Un poco sol por verwirr. Hanoi.
— Dem ist da drin etwas durchgeglüht. Der hat jetzt einen Webfehler. Ruben drehte einen Finger neben seiner Stirn.
— Und eine Treffermühle, sagte der Schwabe. Ich bin ein Buttermensch …
Ruben und Elias ließen ihn stehen, gingen weiter, kamen zu den Stadttoren und sahen einen Aushang, auf dem Sklaven angeboten wurden: Frau aus Kongo gibt Milch. Mann von Guinea mit zwei gesunden Armen … Daneben eine Vermisstenanzeige, eine vermögende alte Dame namens Filiberta Budenholzer suchte ihren Sohn, der bei den Gewürzinseln verlorengegangen, aber angeblich in Westindien gesichtet worden sei. Sie versprach ihm ein angenehmes Leben und ein stattliches Erbe, wenn er nur nachhause käme. Der Gesuchte sei von hagerer Statur, besitze ein wohlgeformtes Gesicht und glattes braunes Haar mit weißen Tupfen.
— Soll ich da auf Heuer gehen? Ruben kratzte seinen roten Bart. Ich könnte mich als Filibuster Budenholzer ausgeben …
— Du entsprichst auch genau dieser Beschreibung. Elias lächelte.
— Das Leben verläuft nicht immer glatt, Monsieur Plim, nicht jedes Geschäft geht aus, wie es geplant ist, nicht jeder Klippfisch landet auf dem Teller.
— Das ist wohl wahr, sagte Elias versonnen und dachte an den Diamantenring. Die Gauner!
— Ich bin überzeugt, die Alte ist halbblind, taub und ohne Erinnerung. Aber Holz vor der Bude. Bestimmt eine alte Vettel mit blauen Äderchen auf der Nase und spinnfadendünnem grauen Haar. Die nimmt jeden, der sich ihr als Sohn anbietet.
— Wenn du mit einer Blinden, die ihr Wasser nicht mehr halten kann, leben willst … in einem Haus voller Spinnweben, wo das graue Haar der Alten alles überwuchert … sie dich mit Erinnerungen einstrickt?
— Die hat bestimmt Diener, Köche … und wenn nicht, habe ich dich. Er legte seine mit hellem Flaum bewachsene Pranke auf Elias’ Hals und drückte etwas zu.
— Blödsinn. Ob wir uns dieser Expedition anschließen sollen? Diesem Otto?
— Ja! Wenn nichts dazwischenkommt, werden wir reich.
— Was soll dazwischenkommen?
— Man könnte uns töten. Es wäre möglich, dass wir am Fieber sterben, ein Krokodil könnte uns zum Nachtisch verzehren. Vielleicht gibt es dort Eingeborene mit sechs Händen oder Menschen mit nur einem Auge an der Stirn? Ruben zog eine Grimasse, doch Elias wusste, sie würden in dieses unbekannte Land gehen. In Träumen hatte er es gesehen.
— Vielleicht finden wir die Quelle ewiger Jugend? Dieses sagenhafte Wasser, von dem die Indianer erzählen? Der Hüne kratzte sich am roten Bart, was dem Geräusch einer Käseraspel glich. Aber ich weiß nicht recht, Ponce de León, der diesem Florida den Namen gegeben hat, weil er es an einem Ostersonntag erblickt hat …
— Was hat Florida mit Ostern zu tun?
— Vielleicht war es Fronleichnam? Nein, Palmsonntag war’s … jedenfalls ist er beim Versuch, es zu erobern, auf so heftigen Widerstand gestoßen, dass sich zehn Jahre lang niemand mehr hinwagte. Die nächste Expedition war die des Pamphilius von Narváez mit vierhundert Mann und zweihundert Pferden, von der nur vier zurückgekehrt sind … Männer! Von den Pferden keines. Jetzt beeilt man sich, weil die Franzosen schon an der Kabeljau-Küste sind. Es heißt, Vizekönig Mendoza will auch eine Expedition entsenden. Alle wollen zu den sagenhaften sieben Städten aus Gold. Dabei weiß niemand, wie groß dieses Florida ist. Wenn du mich fragst, Monsieur, ist das eine Schnapsidee.
— Überhaupt nicht, widersprach Gunkel, der ihnen gefolgt war. De Vaca, der Grasfresserkopf … einer der vier Überlebenden, hat die Fehler des Pamphilius aufgezählt. Er hat zu wenige Handwerker mitgenommen, der Proviant verdarb, man hatte nicht genügend Tauschwaren für die Ithaka. Nennt man die Einwohner in Hinterindien so? Ithaka? Lauter Fehler, die Desoto nicht machen wird. Ihr werdet sehen, die Teilnehmer dieser Exekution werden genauso reich wie die Begleiter von Cortés und Cinzano … wenn nur mein Kopf nicht glühen würde, wie mit einem Schwurhaken verbrannt …
— Kann ich auch mit?, fragte eine helle Stimme.
Sie drehten sich um und sahen Jonas, der auf einer hölzernen Prothese angehumpelt kam. Der Junge lebte? Und er hatte es geschafft, vom Piratenschiff an Land zu kommen! Jonas zeigte seinen Beinstumpf, aus dem Nähte schauten, und grinste:
— Sehen die nicht aus wie die Schnurrbarthaare einer Maus?