Schon während der Taufe hatte heftiger Regen die Stimmung verdorben. Wenig später kamen die Mücken. Añasco schimpfte: »Was fällt euch ein? Wir sind Spanier!« … So hatten sie sich dieses Land nicht vorgestellt. Auch Porcallo fluchte. Bedauerte er, sich der Expedition angeschlossen zu haben und nun mit einer unzivilisierten Horde durch Marschland zu ziehen, anstatt mit Isabella zu dinieren? Jedenfalls stritt er mit seinem Sohn, einem halben Indianer, der sich bemühte, besonders spanisch zu erscheinen, in den Augen seines Vaters aber ein Bastard war.
— Was sollen diese Beschriftungen? Desoto zeigte in Richtung eines Pferdes, auf dessen Hinterbacke »Pferd« stand. Auf einem Schwein stand »Schwein« und auf einem Kanonenrohr »Kanone«. Einer deiner Scherze? Der große Eroberer blickte zu Stummel.
— Nein, ich weiß nicht, ehrlich … Rodrigo zuckte mit den Achseln.
Den Soldaten waren die Beschriftungen egal. Sie litten unter ihren gepolsterten Helmen, Brustpanzern, Beinschienen und Kettenhemden. Doch an eine Umkehr war nicht zu denken. Desoto hatte sechs seiner neun Schiffe zurück nach Havanna beordert, das zehnte gehörte Porcallo, der nach wie vor auf Sklaven hoffte.
— Wir jagen keine Indianer, hielt Ferdinand kategorisch fest.
— Zwanzig Dukaten werden in Havanna für jeden Indio bezahlt. Damit finanzieren wir die gesamte Expedition. Porcallo war ein kühler Rechner. Wir müssen nur Mokossos Leute auf die Schiffe laden.
— Vergessen Sie’s. Desoto blickte Porci verächtlich an. Was meine Frau an dir findet? Deine Manieren sind nur Tarnung, dein Frauenverständnis Attitüde, und mit dem offenen Mund schaust du grenzdebil aus. Wir haben andere Aufgaben. Zuerst greifen wir Hirriga an, damit wir das Bündnis mit Mokosso festigen.
So machte sich die Expedition auf, um dem nasenlosen Kaziken zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Juan Ortiz war gespalten: Einerseits gefiel ihm der Gedanke, dem Grillmeister eine Abreibung zu verpassen, andererseits durfte seiner Tochter nichts geschehen. Vielleicht könnte er sie mit nach Spanien nehmen? Spanien? War er nach zwölf Jahren bei den Indianern noch für ein Leben in der Zivilisation geeignet? Nach wie vor haperte es an der Aussprache, fühlte er sich unwohl in Kleidern, hatte er Probleme, Sätze zu verstehen, in denen es um Zukunft oder das Individuum ging. Er vertrug keinen Wein, und die Nahrung der Spanier war ihm zu üppig und versalzen. Er verstand nicht, wie seine Landsleute dauernd essen konnten — besonders Francisca Hinestrosa schien an nichts anderes zu denken, und auch Nero verputze solche Mengen, dass sein massiger Körper nur noch verdaute.
Kaum war Hirrigas Dorf in Sichtweite, ließ der große Eroberer die Trompeten blasen, auf die jemand »Trompete« geschrieben hatte. Sofort stürmten die Indianer neugierig heraus.
— Freut euch, ihr Heiden, schrie ihnen Juan über den Fluss zu. Ihr seid befreit, ihr müsst euch nicht mehr eurem Häuptling unterordnen, nicht mehr euren Heidengöttern. Ihr kehrt heim in den Schoß Jesu Christi. Eure Seelen sind gerettet.
— Soll ich das übersetzen?, fragte Ortiz. Der Statthalter schüttelte den Kopf.
— Ergebt euch, sagte Desoto, was Ortiz auf Indianisch wiederholte. Die Antwort war ein Regen an Pfeilen.
Bald darauf tanzten auf der anderen Flussseite dreihundert rotbemalte Krieger. Sie zeigten, was sie von ihrer Errettung hielten, reckten ihre nackten Ärsche in Richtung Spanier, furzten und lachten. Sie benahmen sich wie bekiffte Hippies vor Börsenmaklern.
— Ergebt euch, wiederholte der große Eroberer. Sofort!
Jetzt kam ein Bote über den Fluss, stellte sich grußlos vor Desoto hin und zwitscherte in der unverständlichen Indianersprache.
— Sein Häuptling sei unbesiegbar, und wir sollten uns nicht mit ihm anlegen, der große Hirriga sei aus gutem Darm und stehe unter dem Schutz eines mächtigen Gottes. Bevor der Dolmetscher fertig war, hatte der Bote seinen Hintern entblößt, ihn als Petschaft dem Spanier entgegengestreckt, gelacht und das Weite gesucht. Zweifellos eine Überstrapazierung diplomatischer Immunität.
— Wir werden diesen Spinner vernichten. Schluss mit Völkerrecht und Schutz der Naturvölker.
— Santiago! Der ganze Trupp setzte sich in Bewegung, überquerte den Fluss und näherte sich den höhnischen Indianern … Das setzt jede Genfer Konvention außer Kraft … Dann geschah etwas, womit nicht zu rechnen war, etwas, das sich mit einem Schmatzen der Füße ankündigte, einem Boden, der Schritt für Schritt matschiger wurde, das ganze diplomatische Corps außer Tritt brachte. Erst sank man nur etwas ein, dann ging der Dreck über die Knöchel, bald bis zu den Waden, Knien. Man blieb im Sumpf stecken, der den Fluss vom Dorf trennte. Die Pferde kamen nicht mehr vorwärts, bockten, warfen ihre Reiter ab. Die Soldaten konnten sich gerade noch befreien und stapften mühsam und schlammverschmiert Richtung festem Boden. Die Pferde aber steckten fest. Mit Reisigbündeln und kleinen Bäumen wollte man sie befreien, was nicht gelang, im Gegenteil, sie sanken tiefer, standen bald bis zum Bauch im Matsch. Die Indianer bogen sich vor Lachen. Na wartet, das gibt Sanktionen.
— Vorwärts, brüllte Stummel, dessen Pony halb versunken war. Es ist das Kostbarste und Edelste für einen Spanier, sich zu opfern. Noch so ein Satz, und du zahlst fünf Pesos in das Phrasenschwein.
Man rammte Balken in den Boden, baute Dreifüße, die man mit Tauen verband. Und während man breite Lederriemen unter den Bauch der Tiere drückte, um sie mit Seilwinden herauszuziehen, kletterte Ortiz auf ein Ross und brüllte:
— Tanzender Waschbär! Ich bin es!
Anstatt der Tochter kam ihr Vater, trommelte sich auf den Bauch, stellte sich breitbeinig ans Ufer, pisste und lachte. Na warte, das kostet dich deine Immunität, du Ferkel.
— Scheißkübel!, brüllte Stummel.
Die Rettung der Pferde dauerte Stunden, in denen sie von den Indianern weiter verhöhnt wurden.
— Schweinerei. Völlig besudelt stand Porcallo neben seiner verschlammten Stute. Die Federn an seinem Helm erinnerten an ein Huhn, das zu lang im Kuhstall gewesen war. Er hatte seinen Säbel aus Toledostahl verloren und einen seiner Stulpenstiefel im Moor gelassen.
— So etwas habe ich noch nicht erlebt. Schlammkrusten fielen in großen Brocken von ihm ab.
— Dreck, sagte sein Sohn.
Die Indianer grölten ihre Lieder, während die Spanier wie Moorleichen aus einem drittklassigen Horrorstreifen aussahen.
— Sie singen von dummen weißen Männern …, übersetzte Ortiz.
— Dieses verdammte Land, brüllte Porcallo. Darum bin ich nicht hier! Winzige Speicheltröpfchen spritzten aus seinem Mund. Von der heilenden Wirkung der Moorbäder wusste er nichts. Passt schon.
— Beruhigen Sie sich. Desoto nahm den Rückschlag gelassen. Er strahlte die Ruhe eines Mannes aus, der sich seiner Sache sicher war.
— Ich fahre umgehend nachhause. Der Plantagenbesitzer spuckte. Mir reicht’s.
— Genau, ergänzte sein Sohn. Wir haben genug von diesem Land. Uns reicht’s. Das ist eine Jauchegrube!
— Sie wollen das erobern, um Gülle-König zu werden? Anstatt Sklaven zu fangen … nein, der Herr spielt sich als Herrscher auf. Nicht mit mir. Ein Vasco Porcallo de Figueroa hat hier nichts verloren.
— Genau, bekräftigte sein Sohn. Wir haben hier nichts verloren.
— Du nicht. Porcallo sah den Filius scharf an. Du wirst die Expedition begleiten.
— Wie Sie meinen, brummte der Sohn. Desoto blieb stumm, blickte dem Davonstapfenden hinterher, sah, wie Dreckpatzen von ihm abfielen.
— Dann wird Moskito neuer Quartiermeister. Der große Eroberer dachte an das Männlein, das keinen Alkohol vertrug, die Saufgurgel, und bereute diese Entscheidung sofort. Wer hat Santiago gebrüllt? Und was ist mit euch? Er blickte um sich, sah die Eidechsenaugen Añascos, Nuños Kinngrübchen, Neros Bartschatten … Warum sind die nicht schmutziger? … und einen Stein, auf den jemand »Stein« geschrieben hatte.
— Will sonst noch wer zurück? Und findet heraus, wer diese Beschriftungen macht.
Ein Murren ging durch die Leute. Niemand meldete sich. Nur Porcis Sohn schluckte. Der Mestize hatte Tränen in den Augen und winkte seinem Vater hinterher.
Die nächsten Tage verbachte man damit, den Dreck aus der Kleidung und den Hautporen zu entfernen. Alle kratzten und schabten, wuschen und rieben, als gälte es, die Erinnerung an diese Schmach ein für alle Mal zu löschen.
Mokosso und sein Stamm waren enttäuscht, dass selbst die weißen Götter gegen den nasenlosen Widerling Hirriga nichts auszurichten vermochten. Um sie zu trösten, gab man den Indianern spanische Namen. Pferdegesicht hieß jetzt Don Carlos, seine Söhne nannte man Don Alonso, Don Felipe und Don Francisco. Ein Spaßvogel hatte sich erlaubt, am Totempfahl den Schriftzug »Sevilla« anzubringen. So lief der ganze Stamm nackt und mit Federschmuck herum, brüllte iberische Namen und wirkte wie die Pervertierung von Spaniens Hidalgismus mit seiner Adelssucht.
Nur Mokossos Mutter biss zornig die Zähne zusammen. Kam ihr ein Spanier zu nahe, deckte sie ihn mit Flüchen ein:
— Unoso temkimaar machukke …
— Sie wünscht uns langes Leben und Gesundheit, log Ortiz, der ihre gehässigen Verwünschungen nicht übersetzen wollte.
Um den Anblick dieses Dorfes nicht länger ertragen zu müssen, befahl Desoto, gerade als ein Indianer versuchte, ihm einen Knopf von der Jacke zu reißen, den Weitermarsch. Ortiz sollte sie führen.
Sie zogen durch Wälder, verschilfte Bäche, blumenbesäte Savannen. Manchmal stand »Baum« auf einem Baum oder »Blatt« auf einem Blatt. Träger gab es keine, denn die paar Indianer, die ihnen Don Carlos Mokosso mitgegeben hatte, konnten Porcallos Sklaven nicht ersetzen. Männer und Tiere keuchten unter der Last, sogar Hunde hatten Packtaschen umgehängt, nur die Schweine liefen unbeschwert und grunzten. Den größeren hatte man Schellen umgehängt. Neugeborene Ferkel, es gab viele, und sie waren so klein, dass man sich fragte, wie alle Organe in ihnen Platz fanden, wurden in Körben an den Pferden transportiert und bei jeder Rast an die Muttersäue angedockt.
Was für ein obskurer Zug, der sich da vorwärtsschleppte. Bergauf brauchten sie für zwei Kilometer eine Stunde. Die Fußsoldaten und Träger fluchten auf die arroganten Dragoner, die grinsend auf ihren Pferden hockten, vor und zurück ritten, anstatt Lasten zu übernehmen. Und überall lagen dunkelgrüne, dampfende Rossknödel herum, umsurrt von grünen Fliegen.
— Ob es klug war, Porcallo nach Havanna zu lassen? Rodrigo machte ein besorgniserregend freundliches Gesicht.
— Warum? Etwas stimmte nicht. Ferdinand sah es an der Art, wie Stummel seinem Blick auswich und etwas zu verbergen suchte.
— Wegen Isabella. Es heißt, er macht ihr schöne Augen.
— Unsinn. Desoto fühlte Scham aufsteigen, einen kleinen schmerzhaften Stich. Eifersucht? Der große Eroberer? Niemals! Weißt du mehr als ich?
— Ihr Verhalten war merkwürdig, aber das muss ja nichts heißen.
— Eben. Heißt nichts. Einmal hatte er einen Briefumschlag mit Porcallos Siegel bei Isabella gefunden. Jetzt hätte Ferdinand viel darum gegeben, diesen Brief niemals gesehen zu haben. Hatte seine Frau gelogen? Was empfand sie für diesen Plantagenbesitzer … Renaissancemenschen …, der den Mund nicht zubrachte? War sie in ihn verliebt? Weil er reich war? Ferdinand spürte, wie sich eine zähe, bittere Substanz in ihm formierte — Eifersucht, die er sofort hinunterschluckte.
— Ich, sagte der Zwerg, hätte diesen Porci nicht zurück nach Havanna gelassen.
— Kümmere dich um deinen Kram. Desoto schüttelte den Kopf. Er dachte an die Stunden ihrer jungen Liebe. Damals erinnerte ihn Isabella an Maria, rollte sie sich nach dem Küssen wie ein Kätzchen in seine Achselhöhle, fühlte er das Bedürfnis, sie zu beschützen, zu lieben. Was weiß schon der Zwerg?
Jetzt sahen sie rot blühende Kakteen, Alligatoren, Gürteltiere und Vögel mit gelben Brüsten, blauen Federn, aber keine Indianer. Das Holz der Bäume knarzte, die Luft war würzig, und Frösche quakten ihre Sehnsucht nach einem paarungsbereiten Froschweibchen in die Welt — ein Geräuschteppich, als würde ein Volk von Gnomen Boden schrubben.
— Wie heißen diese Bäume?
— Zypressen! Die Indianer sagen, sie sind so alt wie ihr Volk. Der Baum mit der glatten Rinde ist ein Gumbo-Limbo, die Wilden machen aus seiner Rinde Suppe, hilft gegen Durchfall.
Gumbo-Limbo? Erinnert an den Guajakbaum, mit dem Pedrarias seine Syphilis behandelte. Der Alte hat die Rinde stundenlang gekocht, den Schaum abgeschöpft, und damit seine Geschwüre eingerieben. Das abgeseihte Gesöff hat er dann getrunken …
Einige plagten sich mit den Kanonen, andere mit Vorräten oder der Glocke Griselda. Jeder noch so kleine Hügel stellte eine Herausforderung dar, erforderte enorme Kraftanstrengung. Die Reiter hatten Schwielen an den Schenkeln … der Hintern ist mürbegeritten … und die Marschierenden bekamen Blasen an den Füßen.
Quigley bot Wetten an, wer zuerst schlappmachen würde, und Elias hatte sich das Knie verstaucht, schob diesen Schmerz aber beiseite. Neben Ruben humpelte Jonas, erstaunlich, wie gut er sich trotz des Stummbeins hielt. Ja, Stummbein nannte er die hölzerne Prothese, und Stockmännchen hieß er sich selbst. Aber nie hörte man ihn auf sein Bein oder sein Schicksal fluchen, im Gegenteil, mutig ging er seinen Weg und dem entgegen, was ein Prothesenjunge von der Welt erwarten konnte.
Abgelehnt? Trutz Finkelstein lehnte an der Wand und konnte es nicht fassen. Er versuchte zu schlucken, doch ein dicker Knödel schien in seinem Hals zu stecken. Abgelehnt!
— Mach das Fenster zu, schrie sein Sohn. Es zieht wie Hechtsuppe. Trutz reagierte nicht.
— Merkst du nicht, dass es gleich pisst? Tatsächlich waren dunkle Wolken aufgezogen.
Formfehler? Finkelstein spürte heftigen Pulsschlag an der Schläfe. Er hatte die Klage penibelst vorbereitet, sich mit Experten in Sachen Völkerrecht beraten, unzählige Prozessakten und Gesetzeszusätze studiert — und jetzt das. Abgelehnt! Ein Tritt in die Magengrube. Wofür hatte er die Verträge durchgeackert? Das Abkommen von Greenville 1795, den Vertrag mit den Navajos von 1868, jenen mit den Comanchen von Fredericksburg 1847 … Durch hunderte Vereinbarungen mit den Irokesen, Delaware, Cherokee, Choktaw, Kiowa, und wie sie alle hießen, war er gepflügt, hatte Nebenbedeutungen freigelegt und Formulierungen gepinselt wie ein Archäologe. Wortknochen zusammengesetzt und Sinnscherben ergänzt. Wofür? Damit man ihm jetzt sagte, seine Ausgrabung sei wertlos, die Funde belanglos? Abgelehnt! Dabei war das amerikanische Rechtssystem für seine Sache günstig, rein und klar wie abstrakte Malerei, weil es im Gegensatz zur europäischen Justiz keine Verjährung kannte.
Abgelehnt! Trutz’ Hirn, sonst eine mit Post-its vollgeklebte Kühlschranktür, war leer und abgewischt. Alles weg. Sein Blick fiel auf die mit israelischer Erde gefüllte Thermoskanne — aus Haifa, um im Falle des Ablebens seiner Eltern den Toten Heimaterde mitgeben zu können, wie es geschrieben stand. Jetzt war er es, dem man diese heimatliche Scholle bald ins Grab legen konnte. Abgelehnt! Dabei hatte er alles richtig gemacht. Nur eine Sammelklage besaß Chancen. Die Vereinigten Staaten anerkannten weder den Internationalen Gerichtshof noch den Strafgerichtshof in Den Haag. Eine Anrufung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen war ohne Perspektive. Da es keinen Präzedenzfall gab, hätte er vor Gericht durchaus Möglichkeiten. Dafür musste die Klage zugelassen werden.
Nun teilte man ihm mit, dass die Indianer zum Zeitpunkt, an dem die Verbrechen wider die Menschlichkeit gegen sie begangen worden waren, keine Staatsbürger der USA gewesen seien. Die Native Americans hätten sich während ihrer Geburt in einem über der heutigen USA befindlichen Flugzeug befinden müssen, um als Staatsbürger anerkannt zu werden, was für das 16. und 17. Jahrhundert auszuschließen ist. Was für ein Glanzstück juristischer Idiotie! Außerdem existiert kein Dokument, das beweist, dass die Indianer die rechtmäßigen Eigentümer des Landes gewesen seien. Sie hätten Begriffe wie Besitz und Eigentum nicht gekannt. Diese Kategorien wurden erst später vom Kapitalismus eingeführt, um Eigentümer zu schützen. Bis zur Einreichung von Grundbüchern, Geburtsregistern, Taufbüchern und anderen Legitimationen der Besitzverhältnisse jener Zeit wäre man daher gezwungen … Rhabarberrhabarber … Der Schreiber suhlte sich in zynischen Gedankenspielen. Wenn Dummheit klein machen würde, könnte er unter einem Teppich Fallschirm springen.
— Wichser! Trutz Finkelstein war stinkwütend. Gab er auf? Nein, und wenn er bis zum Tag des Jüngsten Gerichts kämpfen müsste. Er dachte an die Lumpensammler in Galizien, an Tuchhändler, Geldwechsler, den ganzen Finkelstein-Stammbaum, und wusste, er würde weitermachen, eine neue Klage einreichen und die Justiz der Vereinigten Staaten herausfordern. Selbst wenn die Welt dachte, er hätte einen Webfehler, würde er weiterkämpfen, Post-its vollkritzeln und sein Kühlschranktürenhirn damit bekleben. Es war wie mit dem Paradoxon von Achilles und der Schildkröte — ersonnen von Zenon, um die Widersinnigkeit der Infinitesimalzahl zu veranschaulichen. Der Läufer gab dem Tier einen Vorsprung, und beide rannten gleichzeitig los. Sobald Achilles die Stelle erreichte, wo die Schildkröte gestartet war, befand sich das Tier schon ein Stück weiter. Kaum hatte der Läufer diese Stelle erreicht, war die Schildkröte wieder etwas weiter. So ging es ewig fort. Nach den Gesetzen der Logik konnte der Läufer die Schildkröte also nie erreichen … Klar, in der Praxis würde Achilles an dem Reptil einfach vorbeiziehen, es so überholen wie der Lebensstil der Weißen die Indianer überholt hatte. Aber Trutz Finkelstein würde beweisen, dass das den Gesetzen der Logik widersprach und unrechtmäßig war. Abgelehnt!
Trotz des Regens zog er Joggingsachen an, ging Richtung Central Park und rannte los — vorbei an einem Potpourri beschirmter degenerierter Wohlstandsspießer, tanzender Hippies, Kinderwagen schiebender Mütter und Exzentriker. Was ihn bei der Rückkehr erwartete, wusste er: Levy würde an seinem Ego-shooter-Spiel sitzen, anstatt sich mit Vernünftigem zu beschäftigen. Der Fettklops hatte noch nie etwas von der Diaspora gehört. Und was hatte er vor ein paar Tagen kundgetan? Hitler hätte die Jugend vernichtet, deshalb gäbe es in Europa nur alte Menschen! Als ihn Trutz auf seinen Fehler hinwies — Juden, nicht Jugend! —, hatte ihn Finkelstein junior nur blöd angesehen … Sonst? Seine Ex, jetzt Rodeo Girl in San Antonio, würde ihm Beleidigungen auf die Mailbox gesprochen haben, und das Schreiben vom Gericht wäre noch immer da. Abgelehnt! Wegen dieser Indianergeschichte war seine Ehe in die Brüche gegangen. Oder wegen seiner Schwiegermutter, die aussah wie der alte Jassir Arafat. Vielleicht auch wegen der vielen Prozesse, die er gratis für Kleinkriminelle, Drogenabhängige, Prostituierte und so weiter führte? Dabei hatte seine Frau immer gesagt, sie würde ihn nie wegschmeißen — und nach einer Kunstpause: weil sie gar nicht wisse, wohin. Altmetall? Plastik? Elektronik? Papier? Die strengen Mülltrennungsvorschriften machten die Entsorgung eines Ehemannes unmöglich. Irgendwann war es ihr doch geglückt …
Abgelehnt! Wegen dieser Indianergeschichte hatte er sich zu wenig um seinen Sohn gekümmert, war er jetzt nicht Chef einer großen Anwaltssozietät in Chelsea, Midtown oder der Bowery, sondern ein Winkeladvokat für Mietrechtsfragen und Erbschaftsangelegenheiten in der Upper West Side, der sich nicht einmal ein eigenes Büro leisten konnte. Machte er so weiter, würde er bald in Harlem oder New Brunswick sitzen, in irgendeinem Kaff in Wyoming, Idaho oder Utah? Dabei liebte er Manhattan. Die Oyster-Bar in der Central Station, die Jazzclubs in Lower Harlem, die Buchhandlungen in Tribeca, Diners im Village und all die angesagten Locations in SoHo. Bald würde er sich das nicht mehr leisten können. Er hatte die Kunstsammlung seines Vaters verscherbeln müssen, der amerikanische Expressionisten gesammelt hatte. Humorlose abstrakte Bilder: Franz Kline, Ad Reinhardt, Mark Rothko, de Kooning … Sämtliche Bilder hatte er versetzt. Nur ein kleiner Jasper Johns war übrig, aber auch der nicht mehr lange.
— Wenn du so weitermachst, sagte seine Mutter, schaffst du es spielend, den Aufstieg deiner Familie zunichtezumachen, als Lumpensammler wirst du enden …
Nein, Hinschmeißen war unmöglich. Nicht jetzt. Er war die Schildkröte, die sich dem Lauf der Zeit entgegenstemmte, die Schildkröte, an der der Läufer nicht vorbeikam.