Kam es von unten raufgesogen, oder sickerte es von oben ein? Hatte es Stummel in Umlauf gebracht oder jemand anderes? Jedenfalls verbreitete sich das Gerücht, der große Eroberer hätte es sich anders überlegt, und es ginge nachhause. Die Stimmung drehte sich. Quigley bot Wetten an, und John Schnur phantasierte von Joppen mit Schwalbenschwanz und Flügelärmeln. Nero war außer sich vor Freude. Auch Cord war zufrieden. Er hatte botanische Raritäten, Samen und Schösslinge gesammelt, wollte damit in Europa eine Zucht beginnen.
Ruben klopfte Jonas auf die Schulter. Elias war nachdenklich. Je öfter er Bastardo und Cinquecento versicherte, es gebe keine reichen Eltern, desto weniger glaubten sie ihm. Die Ratte und der Aal lächelten heimtückisch.
Vor einer Woche hatten sie das Perlenland verlassen, nun war alles wieder wie zuvor. Schmerzhafte Blasen an den Füßen, Rückenschmerzen. Die Sonne brannte auf ihre Gesichter, Schweiß tropfte, und an den Lefzen der Pferde hingen weiße Schaumflocken. Der Gedanke an die Heimat beflügelte, aber ging es wirklich zu den Schiffen?
Die Natur war trostlos, nur an Fortpflanzung interessiert. Vögel, Schmetterlinge, Eichhörnchen und Bäume — alle wollten sich vermehren. Tiere und Menschen bewegten sich, während die Flora fest verwurzelt war und nichts tat, als zu wachsen.
Als sie ein Dorf mit ausschließlich blinden Bewohnern erreichten, glaubten sie, am Ende der Welt zu sein. Die Sehschwachen besaßen nichts als Erinnerungen. Sie redeten von Jagden, Kriegen und einem Messias namens Teodoro, aber nicht von Gold.
Teodoro? Auch im nächsten Dorf war der bekannt. Die Leute glaubten an Prophezeiungen, an Wendigo, und meinten, dass großes Unheil bevorstünde, weil die Schlangen ihre Eier auf Bäumen gelegt hätten, Bienen im Winter ausgeflogen seien und die Sonne geschrumpft sei. Von Gold wussten sie nichts. Der Name des nächsten Dorfes lautete Somnamboule, und es war eine Gemeinschaft von Schlaflosen. Dann kamen sie nach Itschiha, wo Leute lebten, die sich niesend unterhielten. In einer Hatschiii-Sprache sagten sie, früher hätte es … tschii … acht Monde und drei Sonnen gegeben, und sobald die letzten … tschii … Himmelskörper herunterfielen, kämen weiße Männer in karierten Hemden, die Reis melkten und in hohen Häusern lebten … Gesundheit!
Die Luft war warm wie Suppe, und die Hitze machte ihre Köpfe träge. Die Namen der Dörfer gerieten durcheinander. Pedro und Ortiz brauchten Dolmetscher, aber egal, wie viel sie übersetzten, niemand wusste von Eldorado. Die Eingeborenen sprachen von Ländern, durch die Pelz-Kühe zogen, aber Gold?
So ging es von Dorf zu Dorf. Die einen beschäftigten sich nur mit dem Vergessen, während sich andere an Erinnerungen klammerten. Die Nächsten glaubten, Fleisch wäre ungesund, während wieder andere nur in Träumen lebten. In einem Dorf wurden Schlangen verehrt, im nächsten Frösche. Einmal trugen die Indianer weiße Punkte am Körper, dann wieder rote Streifen. Aber alle redeten von einem Messias Teodoro und dem bösen Dämon Wendigo, der kein Gesicht hatte.
Wo sie hinkamen, errichteten die Missionare Kreuze, verkündeten sie die Lehren Christi und sagten, Teodoro sei der Teufel. Zwecklos. Man konnte den Wilden ihre Amulette nehmen, ihre Totems vernichten und Heiligenlegenden erzählen, so viel man wollte, sie rieben sich dennoch weiterhin mit Kräutern ein, tranken Saft von Rinden, betrachteten die heilige Kommunion als Mittel gegen den bösen Blick und vertrauten ihren Medizinmännern.
Cord holte sich einen Sonnenstich, als er unbekannte Pflanzen zeichnete, und bekam eine Magenverstimmung, als er probierte, daraus Medizin zu destillieren. Dafür ging es mit dem antimephitischen Respirator voran.
— Antime— was? Müggenpflug hatte ihn entgeistert angesehen. Nachdem Cord aber erklärt hatte, wie er sich das luftreinigende Beatmungsgerät vorstellte — mit Balg, Filter und einem Schlauch —, war der Schwabe nicht mehr zu halten, experimentierte mit Tierhäuten, Därmen, Ledermasken. Bislang ohne Erfolg.
Die Landschaft war so, dass das Wort »zerklüftet« eine neue, wahrhaftige Bedeutung bekam. Sie überquerten eine Hügelkette, irrten durch Sümpfe, folgten Flussläufen, quälten sich durch Wälder und wurden von den Wilden für Söhne der Sonne gehalten. So ging es Richtung Pensacola-Bucht, wo Ende September Pereira mit den Schiffen eintreffen sollte.
Der weitere Weg führte sie zu Dörfern mit unfreundlichen Bewohnern, denen man die Vorräte gewaltsam entreißen musste. Schweigsame Menschen, Ewigkeiten von den Errungenschaften der Zivilisation entfernt, ohne Grundbücher, Volkszählungen, Steuern.
— Kein Eigentum, keine Ehe, keine Hierarchien, keine Kirche und auch keine Kirchensteuer. Wilde! Juan bekreuzigte sich. Und immer wieder war von diesem Teodoro die Rede.
— Da ist Europa anders. Rodrigo liebte es, den Missionar zu necken. Da werden schöne Scheiterhaufen errichtet und Nachttöpfe auf die Straße geleert. Europa hat Kultur. Papst Innozenz nannte man das Nilpferd, so fett war er, und Papst Leo hat in alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war, seinen Medici hineingesteckt.
— Ja, sagte Juan, die Kirchenfürsten waren voller Verfehlungen, aber der Kern der Sache, der reine Glaube ist etwas derart Wunderbares, dass man darüber hinwegsehen sollte.
Plötzlich stand man an einer Palisade … nein, die zugespitzten Baumstämme lebten … hundert Kriegern gegenüber. Fürchterlich waren ihre Schädel — lang und spitz wie Maiskolben, kahlgeschoren mit einem kleinen Haarbüschel an der Spitze … Pinsel … dazu breite Nasen. Sie sahen aus wie Bert aus der »Sesamstraße«, aber in einem Horrorfilm. Eine Agglomeration von Hässlichkeit mit dem Charme von Zombies. Elias wuchs im Nacken eine Gänsehaut. Ist hier der Malkasten Gottes mit lebenden Pinseln? Oder sein Maisfeld? Plim dachte an seine Mutter, die vielleicht gerade Mandelgebäck mit Zitronenglasur bestrich. Nach ihrer Ansicht war bereits Triana so unerreichbar wie der Südzipfel Afrikas. Wenn es nach Müttern ginge, hätte es keine Argonauten gegeben, keinen Marco Polo oder Christoph Kolumbus. Wenn Mütter das Sagen hätten, wären immer alle brav zuhause geblieben. Mütter lebten nach dem Grundsatz, dass alles Unglück von der Unfähigkeit herrührte, daheimzubleiben und still in einem Zimmer zu sitzen. Doch die Welt war größer als ein Zimmer, größer als Sevilla. Aber beim Anblick dieser Wilden mit den spitzen Schädeln dachte Elias, seine Mutter hätte vielleicht recht.
— Sind das auch Ebenbilder Gottes? Rodrigo liebte es, Gift zu verspritzen.
— Abscheuliches Pack. Ruben polierte sich mit einem Zeigefinger die Zähne.
— Müssen Westfalen sein, meinte Müggenpflug. Oder Oberpfälzer.
Ortiz ging zu dem Häuptling der Spitzköpfe und sprach mit ihm. Er winkte Pedro und ein paar von den sprachbegabten Trägern herbei. Sie redeten mit Händen und Füßen, aber mit Erfolg. Die Pinselmenschen ließen den Tross passieren. Allerdings blieben sie ausdruckslos stehen. Aus der Nähe sahen sie noch furchterregender aus. Auch Frauen, die an einem Fluss Wäsche über Steine rieben und mit Brettern klopften, hatten diese Maiskolben-Schädel — kahlrasiert mit einem langen Haarbüschel an der Spitze. Kamen die schon so zur Welt? Oder besaßen ihre Hebammen riesige Bleistiftspitzer? Nein, den Neugeborenen wurden mit Tüchern die Köpfe gebunden, was diese Form ergab.
— Warum machen die das? Glauben sie, das ist schön?
— Vielleicht wollen sie ihre Kinder vor Entführung oder ihre Frauen vor Vergewaltigung schützen. Man sieht, das funktioniert.
Weiter marschierte man durch eine aufgeheizte Landschaft … Bratpfanne Gottes. Staub wirbelte auf, legte sich in alle Poren, füllte Lungen. Im Gänsemarsch ging es endlos querfeldein. Die Füße waren voller Schwielen, manche hatten einen Wolf zwischen den Beinen, und hätte es Francisca mit ihren Bärlauchpesto-Salben nicht gegeben, die Leute wären wahnsinnig geworden vor Schmerzen oder Abgestumpftheit.
Bei der nächsten Station lebten Langhaarige, die ihre bunten Kleider mit Pflanzensäften und dem Blut der Cochenillelaus färbten. Sie aßen getrocknete Kaktusstücke, Peyote, was sie in halluzinative Stimmungen brachte. Sie sangen, tanzten und lachten — Hippies. Nur an Sex und Drogen interessiert. Vor allem aber gab es hier unglaublich hübsche Mädchen. Großgewachsen, strahlende Gesichter — Sonnenaufgänge.
Gott machte die nicht umsonst so schön, brummte Juan. Es wäre eine Sünde, das nicht zu genießen. Eine Woche lang ließen sie sich verwöhnen — Peyote, Maisschnaps, Zuckermilch, wilder Honig, Fleisch und Maniokgrütze, Früchte und an den Kiemen aufgespießte Räucherfische.
— Sommer der Liebe! Auch Ruben und Elias aßen Kaktus und hatten plötzlich das Gefühl, ihr Ich würde aus dem Körper steigen. Sie betrachteten sich selbst von außen und sahen, wie in ihren Adern Eroberer marschierten. Häuptlinge traten dem Trupp entgegen und verkündeten Gefühle von Schmerz und Hunger. Ihr Fleisch war Amerika und das Blut der Zug der Eroberer, aber das war nur eine Vision, hervorgerufen durch Meskalin.
Moskito schleppte einen verrosteten Säbel heran, auf dem der Schriftzug »Don Alonso de Teodoro« eingraviert war.
— Lag im Zelt des Schamanen. Passt wie angewurzelt.
Der Oberhippie erzählte, dass Don Alonso und sein schwarzer Begleiter hier bis zu ihrem Tod gelebt hatten. Kein Wunder, bei diesen Mädchen. Ortiz konnte mit dem Namen Teodoro nichts anfangen. Hatte er friedlich gelebt? Kleine hellhäutige Mestizen bezeugten, langweilig konnte ihm nicht gewesen sein.
Mittlerweile waren sie fünfzehn Monate in Florida unterwegs, September 1540, bald würde die Regenzeit alle Bäche zu mächtigen Strömen anschwellen lassen und die sumpfigen Landstriche unpassierbar machen. Zeit zur Rückkehr? Ein Gedanke, der die Männer wehmütig werden ließ. Zur Pensacola-Bucht und hoffen, dass Pereira dort wartete.
— Alle wollen nachhause, nur nicht du. Denkst du, ich merke das nicht? Rodrigo schaute Desoto eindringlich an. Du denkst an Isabella? Der Feldherr schwieg.
Da kam Nuño, seine Backenmuskeln schienen gleich zu explodieren. Teo-! Teodoro! Man hat ihn entdeckt. Kommt! Er ist hier! In der Mitte des Lagers stand ein Mann mit langem, schlohweißem Haar, gelbem Bart und flackernden Augen, als wären sämtliche Teufel der Hölle hinter ihm her. Man sah sofort, dass bei dem einiges aus den Fugen geraten war. Dünne Beine mit knotigen Knien, angeschmutzte Schambinde … so wie Hiob auf dem Gemälde von Léon Bonnat … dazu eine Kette aus … menschlichen Backenzähnen.
— Wir haben ihn in einer Höhle aufgespürt. Er glaubt, er sei der Messias der Indianer, hat in seiner Grotte eine Kapelle mit blauen Kristallen und Knochen errichtet, Menschen geopfert und Herzen gegessen.
— Was wollt ihr? Verschwindet! Ich bin der Erlöser der Indios, sagte der Alte mit schriller Stimme. Ich bin ein Heiliger, der Wunder tut. Das ist die Wahrheit. Die einzige Wahrheit, die an einem Ort wie diesem existiert. Ich lade euch zur Erlösung ein.
— Sind Sie Don Alonso de Teodoro?
— Nennen Sie mich Kazike Universum Royal Teodoro Zar — kurz Kurtz!
— Wir bringen dich nach Spanien, du Spinner.
— Niemals! Die blutunterlaufenen Augen des Alten glühten. Ich bin Gott! Jawohl, Gott! Auch wenn eines Tages einer kommen wird, der mir ein Ende setzt …
— Du bist Spanier.
— Tausend Jahre ist das her. Was wollt ihr hier? Ihr kämpft für nichts. Meinetwegen tötet mich, aber urteilt nicht über Dinge, die ihr nicht versteht. Er begann auf Indianisch so laut zu brüllen, dass alle Dorfbewohner angelaufen kamen.
— Was sagt er?
— Geesst … den Leib des Herrn, getrinkt seine Blut. Der Jüngste Tag ist gekam, wie es steht geschreibt … Ortiz mühte sich mit der Übersetzung. Indianer stürzten sich auf den Alten und, so schnell konnten die Soldaten gar nicht reagieren, bissen ihm die Kehle durch, tranken sein Blut und fraßen ihn buchstäblich auf. Der Anblick war so grauenhaft, dass keine Formulierung ihn fassen konnte. Später fand man einen Brief an seine allerkatholischste Majestät, verfasst von Don Alonso de Teodoro, wider die Eroberung und Unterdrückung der Indianer. In einem zweiten, in dem er sein neues Zuhause als Herz der Finsternis beschrieb, hatte er bereits mit Kurtz signiert.