1543. Der Winter war hart gewesen, und im Frühjahr waren sie noch immer mit den Brigantinen beschäftigt. Da sie bereits zum zweiten Mal Schiffe bauten, dauerte es diesmal länger, gebogene Stämme für die Rippenbögen zu finden. Das Fertigen der Balken und Bretter, Planken und Masten war mühevoll. Hinzu kam ein gerüttelt Maß Inkompetenz, das sie mehrfach zwang, Arbeiten zu wiederholen. Trotzdem war es schön, den drahtigen Körpern beim Sägen, Hobeln und Nageln zuzusehen. Fugen wurden gestopft, Segel genäht und Ruder geschnitzt.
Als sie fertig waren, wurden die Schiffe nach griechischen Göttinnen benannt. Jedes war groß genug, um vierzig Mann zu fassen. Da ereignete sich in der Nacht vor der Abfahrt die nächste Katastrophe. Der Vollmond, den Moskito Trinkersonne nannte, beleuchtete die vorbeiziehenden Wolken. Kein Regentropfen fiel vom Himmel, und dennoch lag etwas in der Luft oder im Wasser — der Mississippi war erwacht und stieg aus seinem Bett. Es dauerte, bis die Spanier registrierten, dass der Strom über die Ufer trat und alles unter Wasser setzte. Ausrüstung wurde davongeschwemmt, Hunde schlugen an.
— Das darf nicht sein!
Himmelkruzitürken! Wie konnten sich die Geschicke nur so gegen sie verschwören? Sie warfen Habseligkeiten in die Brigantinen, dazu Steine, damit die aufgebockten Konstrukte nicht davongerissen wurden. Sie selbst wollten auch in die Schiffe flüchten, wurden aber von Moskito auf eine Anhöhe gelotst.
Von dort sahen sie, wie der Fluss unerbittlich anschwoll. Entwurzelte Bäume trieben vorbei, schwimmende Inseln aus Gestrüpp. Tote Tiere hingen im Geäst.
— Das ist biblisch, verkündete Juan. Die erste der sieben Plagen. Oder die letzte. Was will Gott mir damit sagen? Habe ich ihm für das Regenmachen nicht genug gedankt?
— Wir sind verloren! Der Fluss steht gewiss im Bunde mit dem Teufel, wenn er nicht selbst der Teufel ist.
Sie hatten kein frisches Trinkwasser und zu essen nur die Tiere, alles andere war davongespült. Um Feuer zu machen, mussten sie durch hüfthohes Wasser zu den Brigantinen waten und Feuersteine holen. Das Holz war feucht und qualmte. Vom Flusswasser, das sie durch Stoffe sickern ließen, bevor sie es tranken, bekamen sie nicht nur Erde zwischen die Zähne, sondern auch Diarrhö. Es war, als wäre eine Putzkolonne in ihren Eingeweiden. Weltuntergang? Wasser, nichts als Wasser.
— Bereut eure Sünden, der Tag des Herrn ist nah!
Alle beteten zu ihrem Schutzpatron, die Soldaten zum heiligen Andreas, Handwerker zu Josef, Ruben zu Sankt Nikolaus … und alle gemeinsam zu Elmo, dem Patron der Gewässer. Die Anhöhe, anfangs noch die Rettung, schmolz zu einer kleinen Insel. Nach einer Woche waren alle Bäume gefällt, ihr Holz verbrannt. Die im Wasser treibenden Stämme mussten geschnitten und getrocknet werden, und selbst dann waren sie zu feucht. Niemand nahm den sumpfig-modrigen Gestank noch wahr, weil er überall war. Alles klamm und feucht und nass. Nach zehn Tagen begann das Sterben. Als Erstes erwischte es den vorletzten Missionar. Nur noch Juan war übrig, der unablässig von Sünde und Prüfung sprach, von einer Strafe Gottes.
— Wie war das mit der Sintflut? Wie viele Jahre muss man warten?
Cord murrte und brummte Unverständliches.
— Wir werden hier zugrunde gehen. Aber wenn wir schon sterben, dann wenigstens als Menschen. Jonas hatte begonnen, Fiebernde zu trösten, Wasser abzukochen, Kranke zuzudecken. Er war der Einzige, der sich kümmerte.
In allen Gesichtern stand Verzweiflung, Wahnsinn. Nur dem kühlen Añasco war es zu verdanken, dass sie sich nicht über die Schiffe hermachten und ihr Holz verbrannten.
— Vielleicht kommt Rettung? Elias war optimistisch. Die in Havanna haben bestimmt schon einen Suchtrupp losgeschickt.
— Träum weiter, Monsieur. Wir werden gerade von einer riesigen Bugwelle erdrückt.
Dann kam das Fieber auch über Nuño. Mit einem Mal wurde er schwach in den Armen und weich in den Knien. Seine Stirn war so heiß, dass man darauf Spiegeleier hätte braten können — Eier à la Nuño. Eine Nacht lang schrie er »Leonora« und dass die Frauen an allem schu-schuld seien, die Frauen und die Ju-Juden … go-gottverdammt … dann wurde es still. Ausgestottert. Leonora würde vergeblich auf ihren Brad-Pitt-Verschnitt warten, der kleine Ferdinand würde seinen Erzeuger niemals kennenlernen, das Kinngrübchen nie sehen. Und niemand würde ihn je wieder »go-gottverdammt« fluchen hören, außer vielleicht Gott persönlich.
Trübsinnig saßen sie auf ihrer Insel und hielten sich für verloren. Nur einer konnte nicht sitzen. Cinquecento. Seine Tätowierung hatte sich zu einem entzündeten Furunkel ausgewachsen. So waren sie gefangen und verzweifelt.
— Und wenn wir versuchen, die Brigantinen in den Fluss zu bekommen?
— Lösen wir die Aufbockungen, kippen die Schiffe um.
Elias suchte die Nähe der Hauptleute und fragte, ob sie etwas über Rodrigos Vermögen wüssten.
Añasco beachtete ihn nicht, Moskito zeigte ihm den Scheibenwischer, und Nero sagte, dass der Zwerg ein böswilliger Intrigant gewesen sei, der am Abort Pech auf den Sitzbalken gestrichen, kleine Hunde geärgert und sich über Mode lustig gemacht habe. Dabei lachte er und merkte, er hatte den Kleinen gemocht. Seine Streiche … sogar die Dichterkrönung … Er redete von einem Landgut bei Huelva … ein großes Schloss mit kleinen Türen.
Was sich in den nächsten Tagen der Verlassenheit abspielte, war unbeschreiblich. Sie standen kurz davor, sich gegenseitig abzuschlachten, aßen Würmer, hatten Halluzinationen, drehten durch. Endlich, nach vier Wochen, in denen sie dem Wahnsinn gefährlich nahe gewesen waren, kam die Rettung: Der Wasserpegel senkte sich. Erst wenige Zoll, bald eine Spanne von vier Fingern. Ihre Insel wurde wieder größer, der Fluss zog sich zurück. Plötzlich war die Angst wie weggeblasen, redete niemand mehr vom Grauen des Verhungerns und Ersaufens. Es war, als wären sie aus einem bösen Traum erwacht.
Im Juni, über ein Jahr nach Desotos Tod, war es dann so weit. Die sieben Brigantinen, jede zehn Meter lang, bauchig und ohne Schwert, konnten vom Stapel. Über entrindete Baumstämme wurden sie gezogen und unter enormer Anstrengung ins Wasser gehievt. Wie Schönheiten lagen sie da. Zusammengeschusterte Holzkästen, aber für die Leute waren sie Göttinnen. Jede besaß einen Mast mit lateinischem Segel und sieben Ruder.
Die Decks waren mit Brennholz und Werkzeugen vollgestopft. Dazu die letzten Hunde. Schweine. Nur vierzehn Pferde, zwei auf jedem Schiff, die anderen waren geschlachtet und zu Seilen, Decken und Schläuchen verarbeitet worden.
Insgesamt bestiegen zweihundertdreiundfünfzig Spanier die Schiffe, dazu sechzig getaufte Indios, fünfundzwanzig Frauen.
— Nur das Notwendigste, verkündete Moskito. Er hatte sich vor den Schiffen aufgebaut und kontrollierte, was an Bord kam.
Müggenpflug grinste, als die Kisten mit seinen Artefakten angeschleppt wurden.
— Was ist da drin?
— Wir Schwaben sind Erfinder, sagte Gunkel.
— Was da drinnen ist, will ich wissen.
— Kulturgüter. Widerwillig öffnete Gunkel eine Kiste, auf der »Kiste« stand. Zum Vorschein kamen Masken, Tonfiguren, Muschelketten, sogar Skalps. Alles war beschriftet.
— Haben Sie die Wörter geschrieben?
— Ist das verboten? Mich hat auf Havanna eine Kokosnuss gestreift, seither leide ich unter Sprachverlust, daher muss ich zu so einem Herrgottsbschissli greifen.
— Die Kisten bleiben da.
— Nein. Die Herzöge und Markgrafen, Barone und Kurfürsten haben ein Recht darauf. Gunkel war empört. Ich erhebe Anspruch! Und was ist mit dem? Er zeigte auf Cord, der einen Sack mit Büchern, getrockneten Pflanzen und Insekten mit sich führte.
— Ausnahmen beschönigen die Regel, und die lautet: keine Widerrede. Moskito blieb hart, und Müggenpflug war den Tränen nahe.
Am 2. Juli 1543, etwas mehr als vier Jahre nach ihrer Ankunft in Florida, glitt die Flotte den breiten Strom hinab. Der Himmel wölbte sich am vernebelten Horizont, das Morgenlicht war diesig, und ein feiner Sprühregen sagte den Eroberern adieu. Die Schiffe waren erstaunlich seetauglich, beinahe aerodynamisch oder, besser gesagt, aquadynamisch.
— Klar Schiff, Frau Budenholzer, Ruben strahlte. Backbrassen! Elias blickte in das braune Wasser, sah zu den lärmenden Möwen hinauf und war glücklich. Die Schiffe schaukelten, aber Seekrankheit kam nicht infrage.
Sie waren überzeugt, bald daheim zu sein. Jonas schwärmte von einem Handwerk, das er lernen wollte.
— Wagner oder Sattler? Etwas, das es immer geben wird, nichts mit Seefahrt. Einmal und nie wieder.
— Hättest du nicht das Stummbein, könntest du dir eine Witwe suchen wie unser Ruben …
Elias’ Augen waren in den Fluss gerichtet. Er dachte an seinen kleinen Vater, an die Zuneigung, die ihm dieser Zwerg entgegengebracht hatte. Erinnerungen an Algier und die Piraten blitzten auf. Hatte ihn sein Schicksal unermüdlich vorwärtsgetrieben, um ihm am Ende die Wahrheit seiner Herkunft zu verkünden? Schicksal? Zum ersten Mal in seinem Leben schien er den Sinn dieses Wortes zu begreifen, seine Bedeutung zu durchdringen … Da tauchten am Horizont kleine Punkte auf. Ein Entenschwarm? Nein, die Punkte wurden größer, lauter. Die Flügelschläge waren Paddel … Kanus, hunderte, die näher kamen und ein unheimliches Gurgeln hervorbrachten, ein spitzer werdendes Gemurmel, nein, Gekreische. Die Wilden schrien und drohten, griffen aber nicht an. Im vordersten Kanu saß Quigaltangi im vollen Ornat. Manche sahen ihn zum ersten Mal, mit der tätowierten Haut und den spitzen Zähnen glich er einem bösen Geist. Wendigo?
Monatelang hatte man nichts von ihm gehört und geglaubt, sein Stamm wäre ersoffen. Jetzt schrie er und hielt eine Art Kokosnuss in die Höhe. Jeder wusste, was der grässliche, von einem bösen Triumphgefühl beherrschte Kazike wollte. Alles an ihm war Zorn, Gebrüll und Überzeugung, die Weißen zu vernichten. Sonst keine Neuigkeiten? Dann warf er dieses kokosnussartige Etwas auf das Schiff, wo es direkt vor Moskitos Füße rollte. Es war ein Schädel mit zugenähten Lippen: Guachojo.
Quigaltangi lachte höhnisch. So wird es allen Verrätern gehen. Im nächsten Moment setzte ein Pfeilregen ein. Wie ein Nagelbrett sausten die Geschosse herab und bohrten sich in Planken, Tiere, Körper. Man flüchtete unter das Vordeck. Für die Ruderer wurde ein Schutzwall aus Proviantsäcken errichtet, aber da kam schon die nächste Tranche. Brandpfeile, die wie ein Sternschnuppenregen herunterfielen. Man musste Wasser schöpfen und Brände löschen. Pferde, Hunde und Schweine wurden getroffen. Panik machte sich breit.
— Fuck! Quigley hatte einen Pfeil in der Schulter stecken — so haben wir nicht gewettet. Elias wurde gestreift, und Juan, dessen Gespielin getroffen war, fluchte:
— Was fällt euch ein, ihr gottlosen Geschöpfe. Dafür werdet ihr ewig in der Hölle schmoren, auch wenn ihr gar nicht daran glaubt. Für euch kann Christus nicht gestorben sein! Wisst ihr denn nicht, wer ich bin? Ein Regenmacher! An mir hat Gott ein Wunder offenbart! … Und plötzlich geschah etwas. Eine Erleuchtung? Der Dominikanerpater bekam einen verklärten Blick, schritt zum Heck des Schiffes und sprach jetzt wie in Trance von Gott, der überall sei — in Demütigungen, Krankheiten, aber auch in der Liebe … Neben dem Missionar sausten Pfeile nieder, die ihn wie durch ein Wunder verfehlten. Er redete ungerührt weiter von der Wahrheit, die ein Kreuz sei … alle Menschen seien Brüder, die Armen und die Reichen, die Katholiken und die Unbekehrten … alle seien Gottes Ebenbild. Er hielt eine flammende Predigt, der niemand zuhörte.
Wie im Rhythmus des Atmens gingen die Pfeilgeschwader nieder. Jeder außer Juan versuchte, sich zu schützen. Cord dachte, dass nicht diese wütenden Indianer die Bösen waren, sondern sie, die Eroberer, und dass Menschen, die an eine beseelte Welt glaubten, ihr Weltbild verteidigten, eine Wirklichkeit, in der alles ein Wesen hatte, und nicht wie in Europa eine Funktion.
Die Schiffe gewannen an Fahrt, die Kanus konnten nicht folgen. Man hielt sich am Ufer, so dass der Beschuss nur von einer Seite möglich war.
Quigaltangi änderte die Taktik, ließ nun auch die Bogenschützen rudern. Derart in Fahrt gekommen, überholten die Kanus die Flotte und warteten an der nächsten Flussbiegung, um von der anderen Seite anzugreifen. Jetzt waren die Spanier vorbereitet, verschanzten sich unter dem gedeckten Heck und schützten sich mit Schilden, Brettern und allem, was sie finden konnten.
— Was willst du, Quigelquagel-Quigaltangi, du hässliches Nilpferd? Du Queequeg. Moskito schrie. Wir sind auf dem Heimweg, lass uns in Frieden. Er hielt den Kopf des Guachojo in die Höhe und warf ihn in Richtung der Kanus.
Als Antwort kam ein Pfeilregen.
Der Fluss war voller Biegungen und Windungen — wie ein Darm. Entsprechend fühlte sich diese Reise durch den Körper Floridas an. Zuerst waren da die Zähne des nasenlosen Hirriga und Mokossos Zunge gewesen, dann war es am Paracoxi-Gaumen vorbeigegangen zur Speiseröhre mit der Kreuzigung des Casqui. Die Tülolee waren schwer im Magen gelegen, im Perlenland der Bauchspeicheldrüse hatte ihnen das Frauenvolk zugesetzt, später folgte der gallige Saft von Maubilia, das Herumirren zu den Blinden, Kopfdeformierten, Hippies. Und jetzt der Mississippi-Darm mitsamt diesen lästigen Bakterien.
Elf Tage dauerte die Verfolgung schon. Quigaltangi wollte nicht aufgeben. Selbst als ihn seine Verbündeten verließen, feuerte er seine Leute an. Irgendwann waren es nur noch zwölf Kanus, dann nur noch fünf, bis er schließlich brüllend im letzten saß. Drei Tage hing dieses verbliebene Kanu wie ein zorniger Feuerschweif noch an der Flotte. Als die Ruderer entkräftet ins Wasser fielen, saß Quigaltangi allein im Kanu, riss sich den Federschmuck vom Leib, erhob sich und pisste in Richtung der Schiffe.
— Himme en sowui. Karabune, machukke motz, nerochk koschip … Niemand übersetzte, was er schrie. »Hört zu, ihr Dreck zwischen meinen Zähnen, ich werde euch zermalmen, bis ihr Speichel seid, ihr kommt mir nicht davon …«
Stundenlang noch ruderte er ihnen hinterher, bis auch er die Sinnlosigkeit erkannte. Einen Augenblick lang hallten seine Flüche nach, dann herrschte Totenstille. Quigaltangi wusste, er hatte verloren. Die Bärtigen würden zurückkommen und ihn vernichten, sein Volk, seine Lebensweise, alles.
Die Flotte hatte vierzig Mann verloren, aber den lästigsten Indianer aller Zeiten abgeschüttelt. Die nächsten Tage war es verdächtig ruhig, nichts als diese gottverlassene Wildnis. Tukans, Kapuzineraffen und betretene Stille. Als am Ufer Dörfer auftauchten, legte man an.
Sechs Pferde lebten noch — fünf Hengste und Augusta. Mit dreihundertfünfundzwanzig gepanzerten Reitern war die Expedition vor über fünfzig Monaten gestartet, jetzt mussten sechs genügen, um ein Dorf mit dreihundert Indios einzunehmen. Auch sie leisteten Widerstand, doch waren sie mit ihren lächerlichen Waffen chancenlos. Das Dorf wurde geplündert, Frauen vergewaltigt. Das übliche Programm.
Dann ließ man die Pferde frei. Die Tiere konnten es nicht fassen, wieherten und stießen ihre Köpfe gegen die Reiter, als wollten sie sagen: Ihr seid verrückt. Eine Weile lang waren sie hin- und hergerissen. Sie schnaubten und bewegten sich nur widerwillig, dann siegte ihr hippokratisch hippophysischer Instinkt, und sie stürzten davon in die Weiten der Prärie, um wilde Mustangherden zu begründen oder auf dem Speisezettel der Eingeborenen zu landen.
— Riecht ihr das Meer? Mancher glaubte, den Geruch von Salzwasser zu schmecken. Es war so feucht, dass Fische in der Luft hätten leben können. Aber zwei Tage lang war nichts zu sehen als dieser breite, gewundene Fluss, der Enddarm dieses Landes. Dann ein Trompetenklang, das Ufer war plötzlich zerrissen, eine riesige trichterartige Flussmündung kam in Sicht. Die letzte Körperöffnung dieses Kontinents, Arschrosette, daneben kleine Hämorrhoiden-Inseln. Das Meer! Unendlich weit und metallisch blau. Was hatte es die ganze Zeit gemacht? Träge und ungerührt lag es da, als ginge es diese Expedition nichts an. Sie sahen Möwen und Stelzenläufer — tomatenbeschmierte Rotlaibchen, Zitronenkopfsittiche …
Bevor sie sich hinauswagten auf die glitzernde See, liefen sie eine unbewohnte Insel an, gingen an Land, legten sich in den Sand und gönnten sich eine der seltenen Freuden des Erobereralltags — drei Tage Schlaf.
Manche träumten von Schlachten, andere von Frauen. Ruben von Filiberta Budenholzer und Elias von Penelope und seinem Schloss bei Huelva.
Geweckt wurden sie von einem Schrei. Wie viele Schreie hatten sie auf dieser Reise schon gehört? Cinquecento! Der Aal glaubte zu sterben.
Das Furunkel war groß wie eine Orange, er fieberte, sagte, er würde nun den Löffel abgeben, zum Beinernen gehen, zu Lazarena Malverde. Cord tat, als hörte er ihn nicht, auch Bastardo wollte nichts mit ihm zu tun haben. Es war Jonas, der sich um ihn kümmerte. Das Stockmännchen brachte ihm Wasser und betupfte den pflaumenblauen Knoten.
Gino schrie und stieß den Jungen von sich, doch Jonas ließ sich nicht abwimmeln, holte Elias, der nichts wusste von Sepsis und Blutvergiftung, aber sah, man musste etwas unternehmen, sonst würde Gino den nächsten Tag nicht erleben. Ohne zu zögern schnitt er das Furunkel auf.
— Weißt du, was du tust? Bastardo beäugte das Geschehen missgünstig.
— Wenn man nichts macht, stirbt er. Elias sah das austretende Blut-und-Eiter-Gemisch. Wie ein Zwetschkenkompott lief es über Cinquecentos Hinterteil. Plim wischte es weg, schickte Jonas um frisches Wasser, Tücher. Als das Stockmännchen wieder angehumpelt kam, hatte Cinquecento die Besinnung verloren. Tags darauf ging es ihm besser.
— Weißt du, Flöte … Er griff Elias auf die Schulter und sah ihn mit glasigen Augen an … Bastardo wollte mir einen Raben tätowieren, damit ich mich als du ausgeben kann. Aber als rechtschaffener Mensch werde ich das nicht machen, nicht nachdem du mich gerettet hast. Wir sind Gauner, aber auch wir haben eine Ehre im Leib.
Die Schiffe wogten in den Wellen. Taue führten zu Pflöcken am Strand, wo die Männer Krabben fingen — sie wie Austern schlürften.
Añasco hantierte mit einem Astrolabium. Er drehte an der Planetenscheibe, verglich den Höhenwinkel mit dem Sonnenstand und war sich sicher, genug nautische Kenntnisse zu besitzen, um Havanna über das offene Meer zu erreichen.
— Man soll den Roggen nicht vor dem Hafer loben, sagte Moskito. Sicherer ist es, entlang der Küste nach Neuspanien zu segeln.
— Aber das dauert viel länger.
— Warum einfach, wenn es kompliziert geht. Quigley wettete mit Cord, der Paulas Haarlocke einsetzte, dass sie Neuspanien ansteuern würden.
— Hauptsache, die Schiffe fallen nicht auseinander. Elias blickte ins Meer und sah einen schwimmenden Baumstamm, in dem etwas glitzerte. Er kniff die Augen zusammen und erkannte einen Helm. Es war, ja, tatsächlich, die ausgehöhlte Eiche mit Desotos Leiche. Der große Eroberer! Daneben ein aufgedunsener Frauenkörper, das Gesicht umspült von feinem Haar, die Stumme. So haben sie sich also doch gefunden. Ehe er das Bild der im Tod Vereinten ganz erfassen konnte, wurde Alarm geblasen. Plim sah am Horizont fünfzig Kanus mit schwarzbemalten Indianern. Nicht schon wieder. Man ließ alles stehen und liegen, watete zu den Schiffen, setzte die Segel, und kräftige Hände griffen zu den Rudern. Die Wilden hatten keine Chance, bevor sie ihre Pfeile abschießen konnten, waren die Schiffe außer Reichweite, der Wind trieb sie nach Westen.
— Na bitte. Quigley riss die Arme hoch. Auf nach Nueva España! Cord murrte und gab ihm Paulas Locke. Der Engländer roch daran, gab sie zurück.
— Jetzt, da ich meine Kathy wiedersehe, Wurstmachermann …
Niemand vermochte mehr, die würzige Seeluft zu riechen oder den verspielten Delphinen zuzuschauen, die neben den Schiffen schwammen. Apathisch starrten sie ins Nirgendwo und waren überzeugt, es gäbe gar kein Neuspanien. Am dreiundsechzigsten Tag der Schiffsreise geschah das Unerwartete, das, was keiner mehr für möglich gehalten hatte, man stieß auf Indios, die Leinenhemden trugen — zerrissen, schmutzig, aber zweifellos spanischer Herkunft. Noch nie hatte Kleidung so erfreut. Sogar John Schnur lächelte. Drei Tage später sah man ein Holzkreuz an der Küste und wenig später die strohgedeckten Hütten von Tante Zwiebel. Sie wateten ans Ufer und umarmten, put, put, put, das Näschen die Fischersfrauen. Es war der 12. Oktober 1543. Ein Dienstag! Oder Mittwoch? Von den achthundert Mann, die vor viereinhalb Jahren aufgebrochen waren, waren noch zweihundertelf am Leben. Dazu dreiunddreißig Indios und neunzehn Indianerfrauen.
— Holy shit, schrie Quigley. Er hatte mit sich selbst um sein Leben gewettet, dass er diese Reise nicht überleben würde. Oder war es umgekehrt? »Fis is great!« Eines Tages wird es keine Eroberer mehr geben, dachte Cord. Die Leute werden auf uns mit Staunen und Entsetzen zurückblicken und nichts verstehen.