S ir bat Cheyenne nicht, sich den blöden schwarzen Sack über den Kopf zu ziehen, als sie wieder in seinen orangefarbenen Kia Rio stiegen. Vielleicht hatte er vergessen, dass der Weg zum Chateau D’rahl ein Geheimnis sein sollte. Vielleicht wusste er auch, dass Cheyenne ihm einen Schwall von Drowmagie in seinen dummen Schnurrbart schleudern würde, wenn er ihr sagen würde, sie solle ihn überziehen.
Cheyenne war es egal, was er dachte und sie achtete sowieso nicht auf die Straßen, die er entlangfuhr. L’zar kann lachen, soviel er will. Er ist derjenige, der den Rest seines Lebens in einem verdammten Käfig verbringt.
Nach zehn Minuten angespannter Stille räusperte sich Sir. »Ich schätze, das ist nicht so gelaufen, wie du gehofft hast.«
»Kein Scheiß.«
»Der Kerl ist eine einzige Nervensäge, seit wir ihn hinter Gitter gebracht haben.« Sir zuckte mit den Schultern und umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. »Nimm es nicht persönlich, Halbblut. Es geht nicht nur um dich.«
Sie hatte nichts zu sagen.
»Hey, wenigstens hat er nicht versucht, dich durch die riesige Höhle zu werfen oder so. Oder versucht, dich durch die Gitterstäbe zu ziehen, um dich als Geisel zu halten. Er ist ein echtes Stück Scheiße. Du kannst dich glücklich schätzen …«
»Wir werden jetzt kein sentimentales Gespräch führen«, murmelte Cheyenne. »Bleiben Sie einfach ein Arschloch. Darin sind Sie viel besser.«
Ein erstickter Laut kam aus Sirs Mund – er klang, als hätte er versucht, ein Lachen zu unterdrücken. Stattdessen rückte der Mann seine Fliegerbrille zurecht und räusperte sich erneut. »Ja, ich weiß.«
Bäume, Autos und Autobahnschilder rauschten an ihnen vorbei, als er sie zurück zum Gewerbegebiet brachte, wo sie ihr Auto abgestellt hatte. Cheyenne fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte. »Was muss passieren, bevor ich eine weitere Eskorte zum Chateau D’rahl bekomme?«
Sir drehte sich überrascht zu ihr. »Willst du ihn wiedersehen?«
»Wahrscheinlich nicht. Geben Sie mir einfach meine Optionen.«
»In Ordnung, Halbdrow. Ich würde sagen, unser Deal ist immer noch auf dem Tisch, wenn du bereit bist, dranzubleiben. Behalte das Handy bei dir und halte dir deinen Zeitplan offen. Bleib mit Rhynehart in Kontakt, dann können wir einschätzen, für welche Operationen du von Nutzen bist. So bekommst du mehr Punkte, die du für ein weiteres lustiges Treffen mit deinem Dad eintauschen kannst.«
Cheyenne schnaubte. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir mit einem Punktesystem arbeiten.«
»Wie in einer verdammten Spielhalle, richtig? Wenn du genügend Tickets gewinnst, bekommst du einen Preis.« Er schüttelte den Kopf. »Sagen wir mal so: Drei Fahrten mit meinen Männern entsprechen einer Fahrt mit dem Chateau D’rahl-Express. Der Gedanke, dorthin zurückzufahren, um die hässliche Fratze des Drow zu sehen und zuzuhören, wie ihr beide übereinander redet, lässt mich nicht gerade vor Freude hüpfen, aber ich nehme dich nach den drei weiteren Jobs wieder mit.«
»Nennen Sie es nicht Job, wenn Sie mich nicht bezahlen.« Sie drehte ihren Kopf gerade so weit, dass sie ihn aus dem Augenwinkel ansehen konnte. »Ich dachte, Bianca hätte Ihnen das schon eingetrichtert.«
Sir gab ein Brummen von sich, ignorierte aber die Stichelei darüber, wie schnell und einfach ihre Mutter ihn auf der hinteren Veranda ihres Anwesens in Rechtsfragen verwickelt hatte. »Ich bezahle dich mit Besichtigungen, Halbdrow. Du kannst dir den Zutritt zu Chateau D’rahl nicht erkaufen. Das haben schon viele Leute versucht.«
»Aber es brechen auch viele magische Wesen dort aus. Oder war das nur eine ganz besondere Nacht für alle?«
Das morgendliche Sonnenlicht glitzerte auf Sirs Gesicht, als es wie das Licht eines Stroboskops durch die Bäume am Highway fiel. Sie sah, wie die Augen des Mannes sie unter der dunklen Sonnenbrille anschauten, bevor sie wieder auf die Straße blickten. »Das war das erste Mal. Und ich bin nicht überrascht, dass es nicht noch einmal passiert ist.«
»Gut zu wissen, dass Sie so viel Vertrauen in Ihre Sicherheit da drüben haben.« Die Halbdrow lehnte ihren Kopf zurück gegen die Kopfstütze.
»Diese Männer wissen, was sie tun und die Sicherheit des Gefängnisses hat schon mehr Updates bekommen als das iPhone, das ich nicht habe. Aber ich sag dir was. Wenn der Bastard jetzt wirklich rauswollte, wäre er schon draußen. Er hat es schon einmal geschafft.«
Darauf sagte sie nichts. Sir hatte ihr gesamtes Gespräch mit L’zar mitgehört und kannte die Antwort bereits, die der Drowhäftling darauf gegeben hatte.
»Ich will wissen, warum er immer noch Gefangener spielt«, fuhr Sir fort. »Finde es für mich heraus, wenn du das nächste Mal deine FRoE-Punkte für einen weiteren Besuch einlöst und du hast uneingeschränkten Zugang zu dem Kerl. Dann muss ich meine Sonntage nicht mehr damit verbringen, ein verdammter Halbdrow-Chauffeur zu sein.«
Cheyenne drehte sich um und sah ihn direkt an. Er meint es ernst. »Das Spiel beginnt.«
Sir nickte und brummte noch einmal leise. »Kluger Schachzug, Halbdrow.«
»Hey, wenn wir schon zusammen in Ihrem Auto sitzen, können Sie mir etwas über diese Stierkopf-Anhänger erzählen?«
Der Kopf des Mannes zuckte verwirrt zurück und er warf ihr einen kurzen Blick zu. Was auch immer sie in seinen Augen hätte sehen können, wurde durch die getönten Gläser verdeckt. »Ich habe keine verdammte Ahnung, wovon du da sprichst. Ich habe nicht mal die Hälfte von dem verstanden, was ihr da drinnen geredet habt. Wenn du Antworten auf nutzlose Fragen haben willst, dann frag nicht den, der keine nutzlosen Fragen stellt.«
Klar, als ob Sir für irgendetwas nützlich gewesen wäre.
»Ich habe nicht erwartet, dass Sie eine Antwort haben.«
»Oh, sicher. Du willst einfach weiter Smalltalk machen, was? Darin bist du genauso schlecht wie ich in Sachen Gefühle.«
Cheyenne holte tief Luft. Er klingt immer verzweifelter, je länger ich bei ihm bin. Sie warf einen Blick auf das Schild für die nächste Ausfahrt – nur noch zwei, dann würden sie in das Gewerbegebiet abbiegen. Zeit, den Drowmodus abzuschalten. Denk an die Wälder.
Die Hitze ihrer Drowmagie verpuffte innerhalb einer Sekunde und zog sich in ihr zurück, um auf das nächste Mal zu warten, wenn sie sie brauchte. Ihre graue Haut machte wieder ihrer unnatürlichen, menschlichen Blässe Platz und ihr knochenweißes Haar wurde wieder rabenschwarz. Sie hob abwesend eine Hand zu ihren Ohren, um die runden Spitzen zu spüren und ließ dann ihren Unterarm wieder auf die Armlehne fallen. Ich kann es kaum erwarten, aus diesem Auto auszusteigen .
Als Sir auf den großen, leeren Parkplatz einbog, klickte das Schloss von Cheyennes Sicherheitsgurt an der Seite des Sitzes, noch bevor sie ganz zum Stehen kamen. Sie riss die Beifahrertür auf, als Sir die Handbremse anzog und er schnaubte, als sie heraussprang. »Du und ich, Halbdrow. Behalte das Handy …«
Die Tür knallte zu und Cheyenne ging zügig zur Fahrerseite ihres mattgrauen Ford Focus mit dem abblätternden Lack. »Ja, ja. Ich weiß. Ich habe es immer noch.«
Sir fuhr in seinem grell orangefarbenen Kia Rio davon und die Halbdrow setzte sich hastig hinter das Steuer ihres Wagens. Sie atmete tief durch, um sich noch mehr zu beruhigen. Kaum hatte sie den Wagen gestartet, ertönte ein leiser Nachrichtenton von ihrem Handy, das in ihrer Jackentasche war. Eine Nachricht von Ember.
Hey, wenn du schon wach bist und nicht zu viel zu tun hast, kannst du dann bei mir vorbeifahren und noch mehr von meinen Sachen abholen? Es sieht nämlich so aus, als würde ich doch noch ein bisschen länger hier bleiben.
Cheyenne lächelte und schrieb eine Antwort.
Kein Problem! Was brauchst du?
Klamotten. Vergiss dieses Mal die Unterwäsche nicht. Waschzeug. Das ist alles in einem Kulturbeutel im Bad. Ein paar Bücher. Buchstäblich alles, was sich auf meinem Schreibtisch stapelt und nicht für die Uni ist. Dieses Krankenhaus hat beschissenes Kabelfernsehen und ich werde mir keine Ausgabe von Good Housekeeping kaufen, nur um etwas zum Lesen zu haben .
Sehr spezifisch. Ich werde versuchen, es nicht zu vermasseln .
Ember schickte Emojis mit verrückten Gesichtern und ein Herz, gefolgt von: Du bist die Beste. Wir sehen uns bald .
Cheyenne schickte ihr nur einen Daumen nach oben und steckte ihr Handy zurück in ihre Tasche. Dann schnallte sie sich an und verließ das Gewerbegebiet.
* * *
Sie brauchte etwa zwanzig Minuten, um zurück zur Nordseite von Jackson Ward und Embers Wohnung zu gelangen. Es waren noch nicht so viele Leute unterwegs, zumindest nicht in dem Wohnkomplex. Sie ging durch den Flur im Erdgeschoss, der zum Freien hin offen war und blieb vor der letzten Wohnung auf der linken Seite stehen. Nachdem sie in die Hocke gegangen war, um die Ecke der Fußmatte anzuheben, zog sie den Ersatzschlüssel darunter hervor und schloss die Tür auf. Erdgeschoss. Das wird es leichter machen, wenn sie entlassen wird.
Embers Wohnung war fast das genaue Gegenteil von Cheyennes, denn die Fae-Studentin hatte hübsche Möbel in ihrem Wohnzimmer, mit bunten Kissen und allem Drum und Dran. Es roch nach Lavendelhandseife und Nag Kappa -Räucherstäbchen, die neben dem kleinen Bambustopf auf dem Tisch am Fenster standen.
Die Halbdrow ging direkt ins Schlafzimmer und durchwühlte die Schubladen ihrer Freundin, wobei sie alles, was sie benötigen könnte, auf die blaue, mit grauen Sternen gemusterte Bettdecke warf. Als sie die Unterwäscheschublade fand, hielt sie inne. Ich sollte ihr ein paar handgemachte Trolldessous mitbringen.
Sie lachte, schnappte sich eine Handvoll Unterwäsche aus der Schublade und warf sie ebenfalls auf das Bett. Bei einer schnelle Durchsuchung des Kleiderschranks fand sie eine Tragetasche, in die Cheyenne alles hineinstopfte. Ohne einen Blick auf die Titel zu werfen, schnappte sie sich die obersten drei Bücher, die auf dem Schreibtisch neben dem Bett lagen und ging dann ins Bad. Verdammt, hält sie diese Wohnung sauber.
Auf der Theke neben dem Waschbecken lag nicht einmal eine Zahnbürste und sie musste den Medikamentenschrank von oben bis unten durchsuchen, bevor sie den Waschbeutel fand. Sie öffnete ihn, um sich zu vergewissern, dass alles drin war, was Ember benötigte, dann zuckte sie mit den Schultern und packte den kleinen Reißverschlussbeutel zu den anderen Sachen in die große Tragetasche. Als sie sich die Tasche über die Schulter warf und in den Flur treten wollte, um die Wohnung zu verlassen, nahm ihr Drowgehör schwere Schritte aus dem offenen Flur draußen wahr.
Sie dachte sich nichts dabei, bis die Schritte die ganze Wohnungsreihe hinunterkamen und vor der letzten Tür auf der linken Seite stehen blieben. Embers.
Cheyenne ließ die Tasche langsam von ihrer Schulter rutschen. Der Türknauf drehte sich. Sie ließ die Tasche fallen.
Als die Eingangstür zu Embers Wohnung aufflog, hatte die Halbdrow bereits die Hitze ihrer Drowmagie über sich spülen lassen – gerade rechtzeitig, um einen großen, schlaksigen Troll hereinstürmen zu sehen. Seine violetten Augen und Lippen, über die er sich nervös leckte, hatten einen beunruhigenden Gelbstich. Ein hellorangefarbener Skaxen mit langen, fettigen, roten Haaren, die ihm über die Schultern fielen, trat hinter dem Troll ein.
Sieht nach einem Rattenproblem aus.
Die Tür schlug hinter ihnen zu und die Eindringlinge benötigten einen Moment, um die Halbdrow zu entdecken, die in der Tür zum Schlafzimmer stand. Cheyenne beschwor eine knisternde, schwarze Energiekugel mit einem hellvioletten Kern und legte den Kopf schief. »Ich wette, ihr habt jemand anderen erwartet, was?«
Der Troll stieß ein hohes Kichern aus. »Nur dich, mór úcare .«