Kapitel 5

E mber richtete sich im Krankenhausbett ein wenig auf, als Cheyenne durch die Tür von Zimmer 317 trat. Die Fae schenkte ihrer Freundin ein breites Lächeln. »Ich dachte schon, du wärst auf dem Weg eingeschlafen oder so.«

»Nö. Ich bin nur ein bisschen aufgehalten worden.« Die Halbdrow ließ die Tasche von ihrer Schulter gleiten und Ember klopfte auf das Bett neben sich.

Als die Fae in die Tüte griff, sah sie aus wie ein Kind, das am Weihnachtsmorgen die Geschenke auspackte, mit einem breiten Grinsen und großen Augen. Bis sie die Bücher herauszog. »Cheyenne.«

»Ja.«

»Was zum Teufel ist das?«

»Du hast gesagt, irgendeines der Bücher auf deinem Schreibtisch, also habe ich mir die ganz oben geschnappt und sie eingesteckt.«

Ember zog das erste Buch heraus und drehte es so, dass ihre Freundin das Cover sehen konnte. »Die Früchte des Zorns ? Ist das dein Ernst?«

»Woher sollte ich wissen, dass du nicht in der Stimmung für Steinbeck bist? Das ist immer noch besser als Good Housekeeping .« Die Halbdrow zog den unbequemen Sessel neben das Bett, setzte sich hinein und schlug die Beine übereinander.

»Ich liege im Krankenhaus und kann nicht laufen. Lesen soll mir helfen, mich zu entspannen und mich nicht noch depressiver machen.«

Cheyenne konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen. »So deprimierend ist es nicht. Ich mag solche Sachen. Wenn ich Lust zum Lesen habe.«

Ember stieß einen Seufzer aus und betrachtete ihre Freundin – schwarzes Hemd, schwarze Hose, auffälliges, schwarzes Augen-Make-up, Ketten um ihre Handgelenke und all die Piercings. »Ja, natürlich tust du das. Ich wusste gar nicht, dass du so gerne liest.«

»Eigentlich schon. Aber na ja, ich gehe später zurück und hole dir etwas über Regenbögen und Einhörner, wenn du willst.«

»Ha.« Die Fae lachte und schob das Buch zurück in ihre Tasche. »Ist schon gut. Danke, dass du das alles für mich mitgebracht hast.«

»Nichts, womit ich nicht umgehen könnte.« Keine Lüge. »Also, Frage.«

»Ja?«

»Wer weiß noch, dass du eine irdische Fae der dritten Generation bist und keine Magie hast?«

Ember warf ihrer Freundin einen neugierigen Blick zu. »Du meinst, abgesehen von meiner ganzen Familie, die sich wünschen würde, dass ich nicht existiere, weil ich die Blutlinie beschmutze? Du. Dann, na ja, Trevor und seine anderen magischen Freunde.«

Der dich einfach verbluten lassen hätte, ohne darüber nachzudenken.

Cheyenne räusperte sich. »Sonst noch jemand?«

»Das ist nicht der beste Gesprächseinstieg.« Die Fae warf ihrer Freundin einen Blick von der Seite zu. »Und es ist ja nicht so, dass ich etwas zu verbergen hätte. Nicht so wie du.«

»Hey, was soll das denn heißen?«

»Ich meine nur die ganze Sache mit deinen Versuchen, die spitzen Ohren nicht aus den Haaren herausgucken zu lassen.« Kopfschüttelnd stieß Ember ein kleines Lachen aus und schob die Tasche mit ihren Sachen auf das Bett, damit sie ihren Arm darüber legen konnte. »Du weißt, was ich meine. Aber warum fragst du? Wer hat es erwähnt?«

»Eigentlich hat es niemand erwähnt.« Die Halbdrow kratzte sich am Hinterkopf. »Ich hatte ein bisschen Ärger in deiner Wohnung. Ich habe mich nur gefragt, ob noch jemand wusste, was du bist und sich dachte, er könnte dich aufspüren oder so.«

»Was für Ärger?«

»Ich habe mich darum gekümmert. Es ist alles in Ordnung.«

»Cheyenne.« Ember verschränkte die Arme und warf ihrer Freundin einen strengen Blick zu. »Weißt du noch, als ich dir gesagt habe, dass du eine schlechte Lügnerin bist?«

»Okay, gut. Ein paar Drecksäcke sind bei dir aufgetaucht und wollten sich prügeln.« Die Halbdrow kicherte. »Und ich habe ihnen den Gefallen getan.«

»Wie bitte?«

»Nun, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nur versucht haben, mich anzutreffen, wenn sonst niemand von dir weiß. Ich schätze, dann hätten sie nicht all den komischen Scheiß über Augen, die mich verfolgen und eine Frau, die anscheinend meine Spur aufgenommen hat, erzählt.« Cheyenne zuckte mit den Schultern und knibbelte an einem schwarz lackierten Nagel.

»Du machst Witze.«

»Nö. Ich habe keine Ahnung, wovon die Typen geredet haben, aber sie schienen ziemlich sicher zu sein, dass ich jemand anderes bin.« Die Halbdrow tippte sich auf die Brust. »Und sie hatten diese komischen Anhänger in Form eines Stierkopfes. Ich habe diese Anhänger schon bei vielen verrückten magischen Wesen gesehen. Hast du eine Ahnung, was sie bedeuten?«

Ember seufzte und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Keine Ahnung. Klingt für mich wie ein Haufen Verrückter.«

»Ja, das habe ich auch gedacht. Aber L’zar, mein Vater, hat gesagt, das sei ein Thema, das in Ambar’ogúl hätte bleiben sollen …«

»Warte, warte, warte! Nochmal zurück im Text. Dein Vater

Cheyenne sah von ihren Nägeln auf und lächelte schief. »Oh, ja. Vielleicht hätte ich damit anfangen sollen.«

»Ach, meinst du? Warst du bei ihm?«

»Heute Morgen.«

Ember schlug die Hände zusammen und wippte aufgeregt in ihrem Krankenhausbett hin und her. »Wieso ist das nicht das Erste, was du mir sagst, wenn du zur Tür hereinkommst? Komm schon!«

»Tut mir leid.« Cheyenne lachte. »Ich weiß, es ist noch nicht einmal Mittag, aber es war schon ein komischer Tag.«

»Ohne Scheiß. Erzähl mir alles.«

Die Halbdrow nahm den überraschenden Eifer ihrer Freundin zur Kenntnis und überlegte kurz, ob sie es kommentieren sollte, aber nur für eine Sekunde. Wenigstens kümmert es jemanden. »Es ist definitiv nicht so gelaufen, wie ich erwartet hatte.«

Ember lachte. »Was hast du denn erwartet?«

»Ich weiß es nicht. Eine Entschuldigung, vielleicht. Eher eine Erklärung dafür, warum er meine Mutter einfach verlassen hat, statt einer blöden Ausrede.«

»Die da wäre?«

Cheyenne seufzte und gab ihr Bestes, um L’zars tiefe, apathische Stimme zu imitieren. »›Weil ich es musste.‹«

»Ach, komm schon.«

»Ich weiß. So verlief das ganze Gespräch. Ich meine, es war nicht einmal ein richtiges Gespräch, nur ein Haufen vager Antworten und er hat mich ausgelacht. Das Schlimmste daran ist, dass er nicht einmal nach meiner Mutter gefragt hat. Nicht ein einziges Wort und dann meinte er, er wolle nichts über sie hören, weil ich interessanter sei.«

Embers Kinnlade fiel herunter und sie blinzelte. »Was für ein Arsch.«

Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Ja, das ist so ziemlich die Schlussfolgerung, zu der ich gekommen bin. Also habe ich …« Ein weiteres kurzes Lachen entwich ihr.

»Was?« Ember beugte sich zu ihr, die Augen vor Neugierde geweitet.

»Ich habe ein Codewort gesagt, das den Alarm ausgelöst hat und ihn unter Verschluss hielt. Rote Lichter, Sirene und die Gitterstäbe seiner Zelle wurden zu einem riesigen Stromzaun für magische Wesen.«

»Gut.« Die Fae lachte laut. »Ich wette, das hat ihn wütend gemacht.«

»Nein. Er hat nur gelacht, als wäre das Ganze ein einziges großes Spiel und er wollte nur sehen, was ich mache.«

»Woah.« Ember lehnte sich an die Rückenlehne des Bettes und an die Kissen, die dort lagen. Dann stieß sie einen langen Seufzer aus. »Wirst du ihn wiedersehen?«

»Keine Ahnung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich im Moment überhaupt darüber nachdenken will. Ich habe andere Dinge im Kopf, die mir wichtiger erscheinen.«

»Oh, ja? Was zum Beispiel?«

Cheyenne presste ihre Lippen aufeinander und versuchte, nicht zu lachen. »Nun, für den Anfang muss ich erst einmal die Zeit finden, zu dir nach Hause zu gehen und … das kleine Chaos aufräumen, das ich angerichtet habe.«

»›Kleines‹ Chaos?«

Mit zusammengekniffenen Augen begegnete die Halbdrow langsam dem Blick ihrer Freundin, die sie misstrauisch mit ihren blauen Augen ansah. »Mittel-klein, vielleicht. Hey, ich habe den Fernseher gerettet, immerhin.«

»Wunderbar.« Ember setzte ein festes Lächeln auf. »Bitte sag mir, dass der Bambus überlebt hat.«

»Ich verspreche, dass keine Pflanzen verletzt wurden, als ich den magischen Eindringlingen in den Arsch getreten habe.« Cheyenne hob die Hand zu einem Pfadfinderehrenwort und beide Frauen lachten. »Ich weiß nicht, ob deine Couch überlebt hat. Vielleicht, wenn du sie neu polstern lässt …«

»Nein. Ich wollte sowieso eine Neue.«

»Cool. Ich werde dir auch neue Kissen kaufen.«

Ember stieß ein Lachen aus. »Wie sind meine Kissen in einen Kampf verwickelt worden?«

»Wir müssen nicht ins Detail gehen.« Mit einem weiteren Kichern schüttelte Cheyenne den Kopf und dachte an Yurik und Payton in der Wohnung ihrer Freundin. »Aber alle Beweise wurden beseitigt. Und oh, das Wichtigste hätte ich fast vergessen.«

Die Fae warf ihre Arme in die Luft und ließ sie mit einem dumpfen Schlag zurück in ihren Schoß fallen. »Hoffentlich ist es nicht schlimmer, als mein Wohnzimmer mit Drowmagie in die Luft zu jagen.«

»Nein, nein. Es ist viel besser.« Cheyenne leckte sich die Lippen, lehnte sich ans Bett und holte tief Luft. »Rate mal, wen ich auf dem …«

Ein leichtes Klopfen ertönte an der Tür, dann trat Doktor Andrews in Embers Krankenzimmer und hielt inne. »Oh. Sie sind wieder da.«

»Hey, Doc.« Die Halbdrow hob die Hand zu einem sarkastischen Gruß. Dieser Kerl hat das schlechteste Timing.

»Ich komme nur, um nach meiner Lieblingspatientin in Zimmer 317 zu sehen.« Der Arzt schloss die Tür hinter sich und ging langsam auf das Bett zu, während er sein Tablet in der Armbeuge hielt. »Wo Sie schon mal hier sind, wie geht es Ihrer Schulter?«

»Oh, ja. Ich fühle mich eigentlich super. Gute Arbeit.« Mit einem schnellen Nicken rutschte Cheyenne aus dem Sessel und schob ihn zurück an die Wand neben dem Fenster.

Ember warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Fühlt sich dein Arm besser an?«

Die Halbdrow beugte sich vor, um Ember kurz zu umarmen und flüsterte ihrer Freundin ins Ohr: »L’zar. Ich werde dir später davon erzählen.« Sie zog sich zurück und drückte die Schultern der Fae. »Jetzt, wo du deine ganzen Sachen hast, muss ich los. Viel Spaß beim Lesen, ja?«

Sie zwinkerte Ember zu, woraufhin ihre Freundin die Augen verdrehte. »Oh, Mann.«

»Bis später, Doc. Kümmern Sie sich weiterhin gut um meine Freundin. Sie hat es verdient.« Cheyenne nickte dem verwirrten Arzt zu und klopfte auf das Fußende des Bettes, als sie darum herumging und zur Tür schlenderte.

»Wissen Sie, wenn Sie wollen, dass ich mir Ihre Schulter noch einmal ansehe, kann ich das gerne tun.«

»Nein, danke, meiner Schulter geht’s gut. Genießen Sie Ihren Sonntag.« Sie trat durch die Tür und ging schnell den Flur entlang. Der Typ wird jedes Mal, wenn ich ihn sehe, neugieriger. Ich habe noch mehr Arbeit zu erledigen.

Sie wünschte, sie hätte Ember wenigstens sagen können, dass sie dem Ork-Drecksack, der sie angeschossen hatte, endlich die Haustür einschlagen würde, aber der Gesichtsausdruck ihrer Freundin, wenn Cheyenne ihr die Nachricht hinterher überbrachte, würde genauso befriedigend sein.