E gal, wie sehr es sie in den Fingern juckte, zu Durg zu gehen – was sie nur etwa fünfundzwanzig Minuten zu Fuß und vielleicht zwei Minuten bei voller Drowgeschwindigkeit gekostet hätte – Cheyenne tat das Klügste und wartete ab. Sie warf einen Blick auf die Uhr ihres Computers – 17:47 Uhr. »Dann sollte ich mich wohl aufwärmen.«
Sie schaltete den Monitor aus und fuhr Glen komplett herunter, bevor sie in den kleinen Platz zwischen ihrem Schreibtisch und ihrer Küche trat. Nach einer Sekunde des Konzentrierens flammte die Hitze ihrer Drowmagie an der Basis ihrer Wirbelsäule auf, welche sie direkt überspülte. Dann beschwor sie die violetten Funken herauf, die aus ihren Fingerspitzen schossen und starrte sie an. Wie wäre es mit etwas, das ich noch nicht beherrsche?
Die Funken erloschen und sie schloss die Augen, um sich an ihre letzte ›Prüfung‹ mit Rhynehart am Vortag zu erinnern. Schwarzes Feuer auf meiner Haut. Wie zum Teufel funktioniert das?
Die Halbdrow versuchte, die Wut heraufzubeschwören, die sie im Kampf gegen Rhyneharts Oger-Agenten verspürt hatte. Jamals Gesicht tauchte schnell in ihrer Erinnerung auf – sein höhnisches Grinsen, das gesprenkelte, graue Fleisch, das seinen klumpigen Kopf bedeckte und die Art und Weise, wie er in der Mitte ihres Kampfes auf ein Knie fiel und aufgab.
Denn es war alles eine Lüge gewesen.
Sie ballte die Fäuste und öffnete die Augen, in der Hoffnung, die schwarzen Flammen auf der lila-grauen Haut ihrer Unterarme unter den dreiviertellangen Ärmeln ihres schwarzen Hemds zu sehen. Nichts.
Das funktioniert wohl nicht. Was ist mit dem Schild?
Die Ketten an ihren Handgelenken klirrten, als sie ihre Hände ausschüttelte, dann streckte sie ihren Arm aus und schleuderte ihre Hand in Richtung des Fensters am anderen Ende ihres winzigen Wohnzimmers. »Ich brauche wohl mehr als eine einfache Intention, hm?«
Seufzend konzentrierte sich Cheyenne stärker auf das, was ein Schutzschild sein sollte – Schutz und Verteidigung in letzter Minute. Sie holte tief Luft, drehte sich und hob beide Hände in Richtung des Schranks neben der Eingangstür. Der Türknauf klapperte vielleicht ein wenig, aber das war’s auch schon.
Dann erschien ein gedämpftes, goldenes Leuchten in ihrem Rucksack, der auf dem Boden stand und die Halbdrow zeigte darauf. »Nein. Mit dir beschäftige ich mich heute Abend nicht.«
Es klopfte an ihrer Haustür und sie schreckte auf. Das Klopfen wiederholte sich. »Ja, ich komme. Einen Moment.«
Als sie an ihrem Rucksack vorbeikam, wollte sie ihm einen schnellen Tritt verpassen, damit die kupferne Box aufhörte zu leuchten. Niemand sonst muss das sehen . Aber ihr Laptop war auch da drin, also gab sie dem Ding nur einen vergleichsweise sanften Stoß mit dem Fuß und schmunzelte triumphierend, als das goldene Licht erlosch.
Dann schlüpfte sie aus ihrer Drowgestalt und öffnete langsam die Tür. Es überraschte sie nicht sonderlich, einen ihrer Trollnachbarn auf der anderen Seite der Tür vorzufinden.
»Cheyenne.« R’mahr lachte sie breit an und seine tief scharlachroten Augen leuchteten, weil sie die Tür geöffnet hatte. »Ich hoffe, das ist ein guter Zeitpunkt. Yadje ist fast fertig mit dem Kochen und wir würden dich jetzt gerne zu uns nach Hause einladen.«
»Jetzt gleich?«
Der Troll legte den Kopf schief und sein Grinsen verblasste zu einem verwirrten Lächeln. »Ja. Es ist Sonntag. Ich habe es neulich erwähnt. Du … na ja, ich dachte …«
Ich habe nie nein gesagt.
Cheyenne nickte und schenkte ihm ein so beruhigendes Lächeln, wie es ihr möglich war. »Äh, ja. Okay. Habt ihr schon angefangen zu kochen und so?«
R’mahr nickte energisch. »Wir haben unser Bestes gegeben, das Essen unserer Heimat nachzukochen. Ich weiß nicht, wie Yadje das mit dem Wenigen, das wir auf dem Basar finden können, macht, aber sie schafft es. Du wirst sehr zufrieden damit sein.«
»Ja, darauf wette ich.«
Sie standen unbeholfen auf beiden Seiten der Tür, dann wanderte R’mahrs Blick nach rechts zu dem Korb mit der bunten Unterwäsche, die sie ihr geschenkt hatten. »Du hast immer noch unser Geschenk …«
»Ja.« Cheyenne folgte seinem Blick und musste sich ein Lachen verkneifen. »So ein Geschenk kann ich doch nicht wegwerfen, oder?«
Das Grinsen des Trolls kehrte mit voller Wucht zurück und er stieß ein zufriedenes Kichern aus. »Yadje wird sich freuen zu hören, dass du eine Verwendung für sie gefunden hast …«
»Okay, lass uns zu eurer Wohnung gehen, ja?« Um nicht unhöflich zu sein, öffnete die Halbdrow die Tür ganz und zog ihre schwarzen Vans an, die neben ihrem Schrank lagen, dann verließ sie schnell ihre Wohnung und schloss die Tür. »Nach dir.«
»Ja. Nun, es ist nicht sehr weit.« Der Troll warf ihr einen amüsierten Blick zu, kicherte wieder und schüttelte den Kopf über den abgenutzten, fleckigen Teppich im Flur des zweiten Stocks. »Ich habe Yadje gesagt, dass du dich sehr freuen würdest, wenn du reinkommst und das Essen schon vorbereitet ist. Sie war nicht davon überzeugt, dass du kommst, weißt du?«
»Gut, dass ich meinen Terminkalender geleert habe.« Yadje war gut darin, Pläne zu machen. Außerdem war es noch viel Zeit bis es dunkel wurde.
Der Kopf des Trolls wippte auf und ab und sein langes, scharlachrotes Haar hüpfte auf seinem Rücken. Sie gingen an den beiden anderen Wohnungen vorbei und an der Haustür der Familie blieb er stehen, um der Halbdrow ein weiteres breites Lächeln mit sauberen, aber schiefen Zähnen zu schenken. »Es ist uns eine Ehre, dich hier bei uns zu haben.«
»Kein Problem. Ich fühle mich geehrt, eingeladen zu sein.« Du kannst dem Kerl nicht das Herz brechen.
R’mahr holte tief Luft und seine Augen wurden noch größer, als er flüsterte: »Danke.«
Dann öffnete er die Tür und gab ihr ein Zeichen, dass sie zuerst eintreten sollte.
Ein Schwall von scharfen Gewürzen warf sie fast um, als Cheyenne das Haus der Trollfamilie betrat. Ein Köcheln war zu hören, das von etwas kam, das auf dem Herd schmorte und von etwas anderem, das in einem riesigen Topf kochte.
R’mahr bugsierte sie noch weiter hinein und schloss die Tür. Er klatschte in die Hände und huschte regelrecht in die Küche. »Unser Gast ist da, Yadje. Sie ist da. Wie lange dauert es noch, bis das Essen fertig ist?«
»Man kann Perfektion nicht übereilen«, schnauzte Yadje aus der Küche, die durch die Wand, die aus dem Eingang ragte, völlig verdeckt war. »Ich bin fertig, wenn ich fertig bin und du darfst da nicht mit deinen gierigen, kleinen Finger dran … « Einem scharfen Schlag folgte ein überraschter Ausruf von R’mahr und das Lachen seiner Frau. Dann steckte Yadje ihren Kopf um die Ecke und richtete ihre scharlachroten Augen auf die Halbdrow, die direkt vor der Tür stand. »Fühl dich wie zu Hause, phér móre . Wir werden nicht mehr lange brauchen.«
»Sicher.« Die Halbdrow nickte, aber der Kopf der Frau war bereits wieder in der Küche verschwunden. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Cheyenne das Wohnzimmer der Familie, das mehr oder weniger so aussah wie beim ersten Mal, als sie es unter viel dringlicheren Umständen betreten hatte.
R’mahr und seine Familie hatten die Wohnung schnell wieder hergerichtet. Der Pflanzenkübel, der von der Decke hing, war mit wahnsinnig viel Klebeband wieder zusammengesetzt und die Pflanze an ihren Platz zurückgebracht worden, nachdem sie von der Magie der Drow getroffen worden war. Die Blätter hingen traurig über die geflickten Seiten des Plastiktopfes. Das gebrochene Bein des Sessels war großzügig mit Klebeband beklebt worden und zwei dünne Sperrholzplatten, die bereits an die Wände genagelt waren, boten zusätzlichen Halt. Cheyenne spürte einen leichten Luftzug durch das abgedeckte Loch in der Wand neben der Tür. Wenn sie damit zufrieden sind, funktioniert es wohl.
»Hi.«
Die Halbdrow blickte schnell durch den Raum und entdeckte Bryl, die auf dem Boden vor der versunkenen Couch saß und ein aufgeschlagenes Buch auf ihrem Schoß liegen hatte. »Hey. Deine Eltern haben sich mit dem Klebeband echt Mühe gegeben, was?«
Das junge Trollmädchen schaute sich im Raum um und seufzte. »Das ist eine ihrer neuen Lieblingssachen auf dieser Seite.«
»Ja, es ist für eine Menge Dinge gut. Ich bin froh, dass sie wenigstens das herausgefunden haben.« Cheyenne unterdrückte ein Lachen, ging durch das Wohnzimmer und blieb neben dem Mädchen stehen, um einen Blick auf das Buch zu werfen. »Was liest du da?«
Bryl zuckte mit den Schultern. »Harry Potter .«
»Oh ja«, antwortete die Halbdrow, rümpfte die Nase und kicherte ein wenig. »Das ist eine spannende Geschichte.«
»Aber sie haben keinen der magischen Teile richtig hinbekommen.«
Cheyenne lachte und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Nun, es ist erfunden. Es macht Spaß, die Dinge mal anders zu betrachten.«
»Wenn du meinst …«
»Bryl, leg das Ding weg und hilf mir, den Tisch zu decken.« Yadje winkte ihre Tochter in die Küche. Mit einem kleinen, wissenden Lächeln schaute die Kleine zu Cheyenne auf und legte ihr Buch beiseite, bevor sie ihren Eltern helfen ging.
Cheyenne drehte sich in Richtung Küche, breitete ihre Arme aus und dachte sich, dass sie genauso gut ihre Hilfe anbieten konnte, solange sie hier war. »Ich kann auch helfen.«
»Oh, nein.« Yadje schüttelte den Kopf und zog ihre Tochter in die Küche.
»Auf gar keinen Fall.« R’mahr bog um die Ecke und fuchtelte wütend mit den Händen, als wolle er jemanden auf der Autobahn anhalten. »Nein. Die phér móre wird in unserem Haus keinen Finger rühren.«
»Du kannst mich einfach Cheyenne nennen. Wirklich.«
»Die phér móre Cheyenne wurde nicht eingeladen, um zu helfen. Das und mehr hast du schon getan.« R’mahr eilte auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern, bevor er sie zu dem Holztisch führte, dessen Beine so dünn waren, dass er wohl kaum etwas tragen konnte. Er zog einen Stuhl hervor und zeigte auf ihn. »Du wirst genau hier sitzen.«
Sie versuchte nicht, sich dagegen zu wehren und ließ sich langsam auf den Stuhl sinken. Er knarrte und wackelte ein wenig unter ihrem Gewicht und die Halbdrow zwang sich, nicht ihre gewohnte Position einzunehmen und sich ganz nach hinten zu lehnen, mit den Füßen vor sich unter dem Tisch ausgestreckt. Ich habe schon zu viel von ihren Sachen zerstört.
»Wir werden uns um alles andere kümmern.« R’mahr nickte ihr mit Nachdruck zu und eilte zurück in die Küche.
Einen Moment später kam seine Frau in das behelfsmäßige Esszimmer. Sie hatte eine riesige Tonschüssel in der Hand, in der etwas aufgeschichtet war, das wie zusammengerührter Reis mit Nudeln aussah und von dem Dampf aufstieg. Sie lächelte und stellte die Schüssel in die Mitte des Tisches, dann verschwand sie wieder. Bryl brachte den nächsten Teller mit etwas, das vielleicht Fladenbrot war, nur mit violetten Streifen, die an den Seiten des noch warmen Gebäcks herunterliefen. Die Schüssel, die R’mahr als Nächstes brachte, enthielt Gemüse, das Cheyenne wiedererkannte – Pak Choy, Karotten und Brokkoli, die sich um etwas Blaues scharten, das unmöglich in dieser Welt gewachsen sein konnte. Die Gerichte schienen kein Ende zu nehmen, als die Trollfamilie eines nach dem anderen brachte. Cheyenne rieb sich das Gesicht und gab es auf, jedem von ihnen ein echtes Lächeln zu schenken, als sie aus der Küche auf sie zukamen.
Als der wackelige Tisch schließlich mit mehr Essen beladen war, als sie auf einmal essen konnten, bewegten sich alle drei Trolle schnell zu den anderen Stühlen am Tisch und ließen sich darauf nieder. Stille senkte sich über den Speisesaal. R’mahr und Yadje strahlten Cheyenne voller Stolz an. Bryl warf einen Blick auf ihre Eltern und ihren Gast und biss sich auf die violette Unterlippe, um nicht zu lachen.
»So.« Yadje holte tief Luft und richtete sich im Stuhl auf. »Unsere phér móre zuerst …«
»Cheyenne. Wirklich.«
»Nimm dir, was du willst und dann fangen wir an.« Die Trollfrau deutete auf den überladenen Tisch.
»Äh …« Die Halbdrow blickte auf die dampfenden Gerichte und zuckte zögernd mit den Schultern. »Hätte ich Teller und Besteck mitbringen sollen?«
R’mahr und Yadje brachen in Gelächter aus und Cheyenne konnte nicht sagen, ob es gezwungene Belustigung war oder ob sie wirklich dachten, dass sie einen Witz machte. Offensichtlich zeigt sich meine Unwissenheit.
Ein kleiner, warmer Finger tippte sie an und Bryl ahmte mit ihren Händen die Bewegung nach, etwas hochzunehmen. »Mit deinen Händen.«
»Oh.« Die Halbdrow betrachtete die Schüssel mit dem gekochten Gemüse und griff über den Tisch, um eine Karotte aus dem Haufen zu ziehen. Sie steckte sie in den Mund und verschluckte sich fast an den starken Gewürzen, aber sie schaffte es, während des Kauens zu nicken, während R’mahr und Yadje sie beobachteten, als hinge ihr Leben davon ab. »Ja, das ist gut.«
Yadje schlug ihrem Mann mit dem Handrücken auf den Arm. »Ich habe dir gesagt, dass es ihr gefallen wird. Du machst dir zu viele Gedanken über alles und nichts.«
Lachend wippte R’mahr mit dem Kopf, nahm eines der Fladenbrote in die Hand und reichte den Teller an seine Frau weiter. Dann tauchten alle Hände in die Schalen und Cheyenne versuchte, nicht die Stirn zu runzeln. Sie denken, ich weiß, wie das funktioniert.
»Schau.« Bryl hob ein Stück Brot auf und benutzte es wie einen Handschuh aus Essen. »Mach einfach, was ich mache.«
Die Halbdrow war mehr als glücklich damit, die Bewegungen des sechsjährigen Trolls nachzuahmen.