N ach dem seltsamen Treffen mit Professor Bergmann verschwendete Cheyenne keine Zeit und kehrte direkt zu ihrer Wohnung zurück. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ sie ihren Rucksack neben der Wand fallen und bückte sich, um den riesigen Stapel kopierter Zaubersprüche herauszunehmen. Sie brachte das Ganze zu ihrem Schreibtisch, legte es dort ab, hielt dann inne und warf einen kurzen Blick durch ihre offene Schlafzimmertür. Die Rätselkiste lag dort, wo sie sie am Morgen hingelegt hatte, auf ihrem Bett. Sie strahlte kein Licht aus und summte oder drehte sich auch nicht, als wäre es ein besessenes Spielzeug. Werd nicht paranoid.
Als sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte, ließ sich die Halbdrow auf ihren Stuhl fallen und blätterte eine Seite nach der anderen durch. Ein Illusionszauber wäre toll. Ein Inhaltsverzeichnis wäre auch nicht schlecht.
Seufzend überflog sie die Namen der Zaubersprüche oben auf jeder Seite, die zum Glück für sie lesbar unter der Sprache geschrieben waren, die sie nicht verstand. Cheyennes Hand klatschte auf die nächste Seite und sie lachte. »Hier ist es.«
›Persönlicher Illusionszauber
Unabhängig davon, ob der Zaubernde beabsichtigt, die Illusion an ein physisches Totem zu binden oder den Zauber bei jeder Anwendung direkt zu wirken, muss das erste Wirken eines persönlichen Illusionszaubers durch ein Ritual mit den folgenden Gegenständen gebrandmarkt werden: ein Haarnetz, gebündelte Dunkelfeuerzweige und ein zwei Tage zuvor gelegtes Hühnerei.‹
Cheyenne schaute vom Buch auf und seufzte. Vielleicht würden R’mahr und Yadje ihren Wocheneinkauf auf Montag verschieben.
Kopfschüttelnd blätterte sie schnell durch die anderen Seiten und suchte in den ersten Absätzen nach der Liste der Zutaten. Sie hatte die erste Hälfte von Matties Zauberspruch-Sammlung durchgeblättert, bevor sie einen einzigen fand, für den sie nicht irgendeine seltsame magische Zutat brauchte, die sie nicht einmal aussprechen konnte. Ihre Augen weiteten sich, als sie auf den Titel des Zaubers zurückblickte.
›Phasing ‹? Wieso braucht man dafür nichts?
›Die Fähigkeit, die eigene körperliche Gestalt durch Objekte auf der physischen Ebene zu bewegen, erfordert ein funktionierendes Wissen über Zaubersprüche, das normalerweise nur fortgeschrittene Anfänger besitzen.‹
Cheyenne schnaubte. »Ja, ich werde es versuchen.«
Sie nahm das Blatt Papier mit dem Phasing-Zauber heraus, stand auf und ging in den Flur, der zu ihrem Schlafzimmer führte. Sie schloss die Tür und starrte auf die Anweisungen in ihrer Hand, die durch praktische Darstellungen von körperlosen Händen und gekrümmten Fingern verdeutlicht wurden, die eine Reihe von Formen direkt nacheinander bildeten. Mit Pfeilen und allem Drum und Dran .
Cheyenne machte die ersten paar Gesten mit ihrer rechten Hand nach und stöhnte dann frustriert auf, als ihr klar wurde, dass es sich um einen zweihändigen Zauber handelte. Sie ließ sich auf die Knie fallen, legte das Papier vor sich auf den Teppich und begann von vorne. Ich habe die Bewegungen eins und zwei. Sind die beide für die linke Hand? Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die Abbildung, schüttelte den Kopf und machte weiter. Als sie die letzte Bewegung in dem epischen Spiel des Finger-Twisters vollendet hatte, erblühte ein Funke aus blassem, silbernem Licht um ihre Hände. Die Halbdrow versuchte, die fremden Worte des Zaubers, der auf O’gúleesh sein musste, laut auszusprechen und stolperte ein wenig über ein lächerlich langes Wort in der Mitte. Das silberne Licht flackerte erneut um ihre Hände und sie führte beide Handflächen langsam zur Tür.
Zeit, den Scheiß durchzuziehen.
Ein kurzes Kribbeln durchfuhr ihre Hände, als sie sie gegen ihre Schlafzimmertür drückte und dann übte sie mehr Druck aus. Als nichts passierte, schloss sie die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Lehn dich einfach rein …
Sie spürte, wie etwas nachgab, dann ertönte ein lautes Knacken im Flur. Cheyenne öffnete die Augen, setzte sich auf ihre Fersen und ließ beide Hände auf ihre Oberschenkel fallen. »Ich wollte durch die Tür gehen, nicht …« Die Halbdrow wies mit einer Hand auf die massiven Splitter, die aus einem Riss in der Tür ragten, der fast bis zur Decke reichte. »Nicht sowas.«
Das Blatt mit der Anleitung für einen nutzlosen Phasing-Zauber zerknitterte sie in ihrer Hand, als sie es vom Teppich aufnahm. Auf halbem Weg zurück zu ihrem Schreibtisch blieb sie stehen und versuchte, das Papier mit einem Seufzer zu glätten. Vielleicht kein fortgeschrittener Anfänger. Ich werde etwas anderes finden.
* * *
Zwei Stunden später hatte die Drow alle Zaubersprüche durchprobiert, die sie in Matties Sammlung für Anfänger finden konnte und für die keine magischen Zutaten nötig waren. Sie ließ sich in ihren Bürostuhl fallen und legte das letzte Blatt Papier auf ihren Schreibtisch. Sie hätte diese Zauber ›Verkohlter Teppich‹, ›Stinkbombe‹ und ›Angepisste Drow‹ nennen sollen.
Das brachte sie zum Lachen, aber nur kurz, denn sie machte eine Bestandsaufnahme der Schäden in ihrer Wohnung, die durch so viele fehlgeschlagene Zaubersprüche entstanden waren. Mit einem Seufzer schob sie alle Seiten in ihre ursprünglichen Reihenfolge zusammen und ließ sie in die unterste Schublade ihres Schreibtisches fallen. Die Schublade schlug mit einem Knall zu und die Halbdrow schüttelte energisch den Kopf. Die Ketten, die um ihre Handgelenke gewickelt waren, klirrten, als sie ihre Hände ausschüttelte. Vielleicht bin ich einfach keine zaubernde Halbdrow. Vielleicht muss ich aber auch erst herausfinden, wie ich zaubern kann.
Sie strich sich mit den Händen über das Gesicht und stöhnte leise auf. Dann hüpfte sie aus ihrem Stuhl und ging wieder in Richtung ihres Schlafzimmers. Die Tür klemmte ein wenig im Rahmen und sie musste sie aufstoßen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das gesplitterte Holz nicht direkt vor ihr zusammenbrechen würde, ging sie zum Fußende ihres Bettes und betrachtete mit finsterem Blick die kupferne Schachtel, die auf ihrer Bettdecke lag.
»Das wolltest du doch die ganze Zeit, nicht wahr?«
Das metallene Schmuckstück gab keine Antwort.
»Gut. Wir machen es auf deine Art.« Cheyenne schnappte sich die Schachtel vom Bett und drehte sie in ihren Händen um. Das Metall blieb unschuldig kühl und kein Licht drang durch die haarfeinen Runen, die in die Seiten geätzt waren. Seufzend ging die Halbdrow wieder aus ihrem Zimmer heraus und ließ die Schachtel in ihren Rucksack fallen.
Hoffentlich weiß Corian wirklich so viel, wie er behauptet zu wissen.
* * *
Die Halbdrow fuhr ihren verbeulten Ford Focus an den Bordstein vor der Adresse, die Corian ihr gegeben hatte, bevor sie sich persönlich kennengelernt hatten. Nachdem sie sich abgeschnallt hatte, stellte sie den Motor ab und schnappte sich ihren Rucksack vom Beifahrersitz. Hoffentlich fängt das Ding keine Disco-Lichtshow an, bevor ich im Keller bin.
Sie schloss ab und warf einen kurzen Blick die Straße hinauf und hinunter. In der von den gelben Straßenlaternen durchbrochenen Dunkelheit bewegte sich nichts und in den beiden Mietshäusern brannten nur ein oder zwei Lichter. Stirnrunzelnd ging Cheyenne in Richtung der linken Seite von Corians Gebäude und wartete darauf, ein Dutzend Reifen über den Asphalt rollen zu hören, bevor weitere Idioten mit Stierkopfanhängern für die zweite Runde aus ihren Autos stiegen. Aber dieses Geräusch kam nicht.
Die Zementtreppe war genauso feucht und unheimlich wie vor zwei Nächten, aber sie ging sie trotzdem zügig hinunter und blieb stehen, um an die Metalltür zu klopfen, auf der oben ein riesiges D in abblätternder, schwarzer Farbe war. Die Tür öffnete sich fast sofort und dahinter stand Corian.
»Diesmal machst du dir keine Mühe mit Illusionen, was?«
Die katzenartigen, mandelförmigen Augen des Nachtpirschers verengten sich und die silbernen Pupillen blitzten in dem gedämpften Licht. »Quasi als ob ich nach einem langen Tag im Büro in meiner Unterwäsche herumlungern würde.«
Cheyenne schnaubte und trat ein, als er aus dem Weg ging, um sie eintreten zu lassen. »Das ist ein mentales Bild, das ich nicht brauche.«
Corian zuckte mit den Schultern und deutete dann mit einem Nicken zu ihrem Rucksack. »Hast du sie dabei?«
»Ja, ich habe sie mitgebracht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gut finde, das Ding bei mir zu haben, während ich den ganzen Weg durch Richmond fahre.«
»Es gibt nicht viele Möglichkeiten, es sei denn, du hast herausgefunden, wie du leblose Gegenstände teleportieren kannst.«
Sie blinzelte ihn an.
»Das war ein Scherz, Cheyenne.«
»Aha. Sehr lustig.«
»In Ordnung. Dann lass uns mal sehen.«
Die Halbdrow beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, als sie zu dem billigen Klapptisch und den beiden Stühlen im unfertigen Keller ging. Ihr Rucksack fiel mit einem dumpfen Schlag auf die Tischplatte aus Vinyl, dann öffnete sie ihn und zog die Rätselkiste heraus. »Bitte sag mir, dass du das Ding gemeint hast. Es ist nämlich das einzige, das ich habe.«
Der Nachtpirscher holte tief Luft und rümpfte den abgeflachten Nasenrücken, der wie der einer Raubkatze aussah. »Habe ich. Lass uns an die Arbeit gehen.«
Corian ging zu dem langen Regal an der Rückwand und wühlte sich durch die Stapel von Gerümpel auf den Brettern. Cheyenne stand am Tisch und stellte die Rätselkiste neben ihrem Rucksack ab, während sie wartete. Ich fasse es nicht mehr an als nötig.
Gegenstände fielen aus dem Regal und auf den Boden, als der Nachtpirscher alles beiseite räumte, um das zu finden, was er suchte. Er ignorierte das Durcheinander und bewegte sich, als hätten sie eine Abgabefrist einzuhalten. Schließlich drehte er sich mit einer kleinen Pappschachtel unter dem Arm um und brachte sie in die Mitte des einzigen großen Raums im Keller.
»Also …« Cheyenne verschränkte die Arme und sah zu, wie Corian ein kleines, weißes Teelicht nach dem anderen herauszog und sie in einem großen Kreis auf den Zementboden stellte. »Kennst du noch andere Nachtpirscher auf dieser Seite der Grenze oder seid ihr alle ziemlich einsam?«
»Ich hatte eine Begegnung mit einem oder zwei. Ich bin nicht rübergekommen, um mich mit meiner eigenen Art anzufreunden.« Corian legte den Kreis aus weißen Kerzen zu Ende und warf die Pappschachtel auf den Boden.
»Schon mal den Namen Maleshi gehört?«
Der Nachtpirscher riss seinen Kopf hoch und sah sie mit seinen blitzenden Silberaugen an. »Woher kennst du diesen Namen?«
Sie zuckte mit den Schultern und rümpfte die Nase. »Ich habe es im Vorbeigehen gehört. Es ist jemandem aus dem Mund gerutscht.«
»Gut. Dann sag es mir nicht.« Corian trat aus dem Kreis der unangezündeten Kerzen heraus und betrachtete sein Werk. »Erwarte nur nicht, dass ich auf diese lahme Ausrede hereinfalle. Das ist nicht die Art von Name, die einem einfach so rausrutscht.«
»Du kennst sie, nicht wahr?«
Er sah sie wieder durchdringend an, senkte aber schnell seinen Blick auf die Kerzen. »Du musst das alles sein lassen, bis du die Wahrheit vertragen kannst, Cheyenne. Dann werden wir vielleicht darüber reden.«
Was ich nicht ertragen kann, ist, wenn Leute meine verdammten Fragen nicht beantworten. Die Halbdrow beobachtete ihn mit einem kleinen Stirnrunzeln, bis Corian sich die Hände abwischte und sich kräftig am Hinterkopf kratzte. »Und wann sagst du mir, dass ich damit umgehen kann ?«
Ein spitzes Ohr, das mit einem Büschel hellbraunen Fells bedeckt war, zuckte, als der Nachtpirscher sich den Kiefer rieb. »Das beginnt mit dem Cuil Aní . Wenn du es herausgefunden und beendet hast, was du angefangen hast, bist du bereit.«
»Ich habe mit nichts angefangen …«
»Genau. Und ich trage nur ein Katzenkostüm. Jetzt heb das Ding auf und stell dich hierher.« Corian zeigte auf den Boden neben ihm.
Mit einem Seufzer schnappte sich Cheyenne die Rätselkiste vom Tisch und nahm sie mit, um ihren Platz einzunehmen. »Was jetzt?«
»In der nächsten Minute wird nicht gesprochen. Meinst du, du schaffst das?«
Das ist das erste Mal, dass man mir sagt, dass ich zu viel rede. Die Halbdrow starrte ihn an und wartete darauf, dass Corian ihren sarkastischen Blick sehen würde, aber seine Augen waren woanders.
Der Nachtpirscher streckte seine Arme aus und schob die Ärmel hoch, sodass ein dünner Pelz aus hellem Fell an seinen Unterarmen sichtbar wurde. Ausatmend drehte Corian eine Hand in einer schnellen Reihe von präzisen Gesten, von denen eine in die nächste überging. Jede Kerze im Kreis wurde zum Leben erweckt und er rollte die Schultern zurück, um sich auf etwas anderes vorzubereiten.
Ein Spruch, der keine ganze Lebensmittelliste hat.
Als Corian die Augen schloss und seine Atmung verlangsamte, floss ein elektrischer Strom von seinem Körper weg durch die Luft. Cheyenne spürte, wie es auf ihrer Haut kribbelte und ihr ins Ohr flüsterte. Dann nahm sie das leise Geräusch von rauschendem Wasser aus dem anderen Teil des Raumes wahr. Der Nachtpirscher hob beide Hände, die Handflächen zum Boden gerichtet und ballte seine Finger langsam zu festen Fäusten. In der Mitte des Kerzenkreises entstand eine Kugel aus dunklem Licht, die sich immer weiter ausdehnte, während die Luft im Inneren des Kreises schimmerte.
Innerhalb von Sekunden war die dunkle Kugel zu einem riesigen Oval angewachsen, das fast bis zur Decke reichte. Die Halbdrow blinzelte und beugte sich vor. Im Inneren des Ovals sah sie ein offenes Feld mit mondbeschienenem Gras und Kiefern, die zwischen gelben Pappeln und schwarzen Kirschbäumen verstreut waren. »Ist das …?«
»Du bist nicht annähernd in der Lage, Portale zu beschwören, Mädchen. Nach dir.« Der Nachtpirscher nickte in Richtung der ovalen Tür, die wer weiß wohin führte und wartete darauf, dass Cheyenne tat, was ihr gesagt wurde. »Pass auf, dass du über die Kerzen trittst. Ich will die Sauerei nicht aufräumen müssen, bevor wir überhaupt anfangen können.«
»Gut.« Sie umklammerte die kupferne Rätselbox in beiden Händen, machte einen langsamen Schritt über eine der flackernden Kerzen und trat in den Kreis. Ein weiterer Schub geladener Energie durchströmte sie und ihr schwarzes Haar flatterte in der plötzlichen, kühlen Brise um ihr Gesicht. Einfach so. Direkt durch ein echtes Portal.
Zähneknirschend machte sie einen weiteren Schritt auf das dunkle, schimmernde Licht der ovalen Tür zu und zwang sich, nicht zu Corian zurückzublicken, bevor sie auf die andere Seite ging.