Kapitel 13

B eim Durchgehen des Portals ertönte für den Bruchteil einer Sekunde ein leiser Knall, noch bevor Cheyenne die andere Seite erreicht hatte. Sie atmete tief ein, blickte in den Sternenhimmel und nahm den Duft von frischer Erde, zerkleinerten Blättern und einem nicht allzu weit entfernten Gewässer in sich auf. Es riecht wie zu Hause .

Ein helles Licht erschien hinter ihr, sodass Cheyennes Schatten auf das feuchte Gras der Lichtung fiel. Dann erlosch es wieder. Die Halbdrow drehte sich um und fand Corian neben sich, der ebenfalls zum Himmel aufsah. Seine Nase zuckte. »Ich wusste schon immer, dass dieser Ort für etwas gut ist.«

»Äh, wo ist das Portal?«

»Mach dir keine Sorgen. Wir sind auf der anderen Seite verankert. Oder zumindest ich. Lauf nicht durch den Wald, es sei denn, du willst den langen Weg zurück nehmen.«

»Ich weiß nicht einmal, wo wir sind.«

Corian winkte ab und trat weiter auf die Wiese hinaus. »Das ist nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass wir hier sind, wo es sicher ist, was ich von dem Keller nicht behaupten kann.«

Cheyenne bewegte sich leise über das Gras hinter ihm her und ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen, um zu sehen, ob sich etwas zwischen den Bäumen bewegte, nur zur Sicherheit. Als sie einen Blick über ihre Schulter warf, war das Portal immer noch geschlossen. Diesen Trick sollte er mir besser auch beibringen.

»In Ordnung. Bring es hier rüber und stell es ab.« Der Nachtpirscher winkte sie heran und nickte abwesend auf das Gras vor ihm.

»Gibt es etwas Besonderes an diesem Ort?« Sie hob eine Augenbraue und ging langsam auf ihn zu. »Denn ich habe dich gerade erst kennengelernt und es ist ein bisschen seltsam, dass du mich nachts ohne Erklärung mitten ins Nirgendwo mitgenommen hast.«

»Genau. Ich habe deinen Arsch vor zwei Nächten auf meiner Straße gerettet, damit ich dich heute Abend entführen und einen Drow-Cuil Aní stehlen kann, den ich nicht benutzen könnte, selbst, wenn ich wollte.«

Die Halbdrow starrte ihn mit leerem Blick an.

»Wir benötigen dafür viel Freiraum, Cheyenne. Ohne Zeugen. Oder Opfer.«

»Was?«

Er deutete wieder auf das Gras und zuckte zusammen, als sie die Kiste ihres Erbes auf den Boden warf.

»Die hat schon Schlimmeres erlebt.«

Kopfschüttelnd fuhr der Nachtpirscher mit einer fellbedeckten Hand über das, was mehr wie eine Mähne als sein Haar aussah und seufzte schwer. »So sieht es aus. Als Drow, ja sogar als Halbdrow, hast du bestimmte Fähigkeiten, die deiner Rasse eigen sind. Einige davon hast du schon selbst herausgefunden.«

Die Halbdrow verschränkte die Arme. »Ja, ein paar.«

»Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Durch deine Adern fließt mehr Kraft, als du dir jetzt vorstellen kannst. Der Rest muss Stück für Stück freigeschaltet werden, so wie man in einem Videospiel die nächste Stufe erreicht. Du hast doch schon viele Videospiele gespielt, oder?«

»Nicht wirklich.«

Er warf ihr einen Seitenblick zu und schürzte seine Lippen. »Okay, aber du verstehst, worum es geht. Wenn du dich genug konzentrierst und genug Zeit damit verbringst, jede einzelne neue Fähigkeit zu trainieren, wirst du sie schließlich beherrschen und zur nächsten übergehen können. Wenn du dann alle Teile deiner Magie beherrschst, die verstanden und kontrolliert werden müssen, wird die Metallkiste, die du gerade zur Seite geworfen hast, es wissen. All die verschiedenen Schichten werden nach und nach ins Spiel kommen und wenn du alles, was du tun sollst, vollständig verinnerlicht hast, wird sie sich öffnen. Das ist dein wahres Vermächtnis.«

Cheyenne biss sich auf die Lippe, blickte auf das kupferne Artefakt im Gras und runzelte die Stirn. »Was ist in der Kiste?«

Corian seufzte. »Die Antwort würdest du noch nicht verkraften. Konzentriere dich einfach auf die Gegenwart, ja? Nur so kommst du dahin, wo du hinmusst.«

»Das ist furchtbar Zen von dir.«

»Nichts ist falsch an ein bisschen Zen. Du solltest es versuchen, wenn du die Vermächtnisprozesse hinter dich bringen und die Rätselkiste lösen willst.«

Die Halbdrow legte den Kopf schief. »Vermächtnisprozesse?«

»Sei nicht zu voreilig. Also, sag mir. Hast du in letzter Zeit irgendwelche neuen Arten von Magie gewirkt, ohne sie kontrollieren zu können?«

Sie musste ein Lachen zurückhalten. »Das kann man wohl sagen. Neulich sind ein paar schwarze Flammen von meiner Haut aufgelodert. Ein Haufen Kraft, die ich nicht nutzen konnte.«

»Dann sollten wir es erst mal auf später verschieben, es sei denn, es ist das Einzige, was dir aufgefallen ist.« Corian rümpfte die Nase. »Dann könnten wir in Schwierigkeiten geraten. Sonst noch was?«

»Ein Schild.« Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Ein schwarzes Energiekraftfeld, oder so.«

»Erzähl weiter.«

Seufzend ging sie zurück über das Gras und schüttelte ihre Hände aus, wobei die Ketten um ihre Handgelenke klirrten. »Das war’s im Grunde. Ich habe es schon ein paar Mal beschworen. Du weißt schon, um andere Wesen zu retten

»Ja, Cheyenne. Ich weiß, was ein Schild ist.«

Sie warf ihm einen sarkastischen Blick zu. »Aber das ist eine spontane Reaktion, denke ich. Ich kann es nicht auf Kommando abrufen. Glaub mir, ich habe es versucht.«

»Nun, das ist ein Anfang, denke ich.« Der Nachtpirscher legte den Kopf schief und sah auf den dicken Silberring, den er an seinem Daumen trug und an dem ein dicker, erhabener Kreis angeschweißt war. »Gut, dass du mich gefunden hast, bevor du dich beim Versuch, die schwarzen Flammen zu benutzen, umgebracht hast, falls du es jemals wieder schaffst, sie zu beschwören.«

»Ich kann mich nicht mit meiner eigenen Magie umbringen.« Die Halbdrow blinzelte. »Oder?«

»Die Liste der Dinge, die man mit seiner Magie tun kann, ist lang. Vielleicht sogar endlos, wenn du die Fähigkeiten beherrschst, für die du geboren wurdest. Aber wenn du versuchst, eine bestimmte Kraft zu benutzen, ohne darauf vorbereitet zu sein, ohne zu wissen, was sie anrichten kann oder wie viel sie dir abverlangen kann? Erzähl mir nicht, dass du deine Magie noch nie überstrapaziert und dich dabei verausgabt hast.«

»Ein oder zwei Mal.« Als ich meine Drowgeschwindigkeit genutzt habe.

»Nun, dann nimm diese Erfahrung und multipliziere sie mit tausend. Die Chancen stehen gut, dass die Antwort auf die Gleichung der Tod ist. Meistens jedenfalls.« Corian drückte auf die Mitte des Metallkreises in seinem Ring und ein dünner Deckel klappte auf, um ein lächerlich winziges Fach freizugeben. Er nahm etwas ebenso Winziges heraus, schloss den silbernen Deckel wieder und bot es der Halbdrow in seiner offenen Handfläche an. »Hier.«

Cheyenne starrte auf die leuchtende, lilafarbene Perle, die etwas größer als ein Reiskorn war. »Was ist das?«

»Ein Samen vom Nimlothar.« Als sie ihn wieder ausdruckslos ansah, runzelte er die Stirn und starrte auf den Samen hinunter. »Ich vergesse immer wieder, dass du nichts weißt.«

»Okay, Moment mal …«

»Darüber , Cheyenne. Korrigiere mich, wenn ich falsch liege, aber ich glaube, ich bin die erste und bisher einzige Person, egal ob magisch oder nicht, die dir irgendwelche Informationen über dein Drowerbe, dein Vermächtnis oder Antworten auf die Frage wer du bist , gegeben hat. Richtig?«

Die Halbdrow nickte einmal. »Ziemlich richtig.«

»Nimm es also nicht persönlich, wenn ich sage, dass du nichts weißt. Jeder, der von der Wahrheit beleidigt ist, ist nicht bereit für sie. Der Nimlothar ist ein O’gúleesh-Baum, der früher … ach, so ziemlich überall wuchs, wenn ich mich recht erinnere.« Corian blinzelte auf den Samen hinunter und klang trotz seiner knappen Anweisung sentimental. »Die Lebensenergie des Nimlothar ist direkter mit der Magie der Drow verbunden als jede andere. Frag mich nicht, warum. Es ist einfach so und es ist auch schon immer so gewesen.«

»Und jetzt wachsen diese Bäume nicht mehr.« Als der Nachtpirscher einfach die Augen schloss, musste Cheyenne weiter Druck machen. »Was ist passiert?«

»Sie wurden abgeholzt. Es gibt viele Drow in Ambar’ogúl, die sich noch immer ihrem Vermächtnis stellen und einen Nimlotharsamen verwenden, aber das wird jetzt reguliert.«

Die Halbdrow schnaubte. »Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass jemand einen Haufen Drow bei der Beherrschung ihrer Magie beaufsichtigen will, während sie versuchen, nicht alles in die Luft zu jagen.«

Corians Lippen zuckten, aber er lächelte nicht ganz. »Ja, es ist sicher schwer, sich viel von dieser Welt vorzustellen, wenn man noch nie einen Fuß über die Grenze gesetzt hat und gerade erst ihren Namen entdeckt hat.«

»Hey, wenigstens versuche ich es.« Die Halbdrow verschränkte die Arme und Corian schloss seine Faust um den leuchtenden, violetten Samen, bevor er die Hand wieder an seiner Seite fallen ließ.

»Der Befehl, ganze Wälder von Nimlotharbäumen abzuholzen, kam vor ein paar hundert Jahren direkt von der O’gúl-Krone. Das sind diejenigen, die die Drow-Vermächtnisprozesse regulieren und beaufsichtigen wollten. Sie finden natürlich immer noch statt, aber ich habe gehört, dass die Drow in Ambar’ogúl es viel schwerer haben, ihre Magie zu kontrollieren, wenn ihnen die Krone im Nacken sitzt. Wenn ein Monarch dir vorschreibt, wann und wie du etwas zu tun hast, das nur von hier aus befohlen werden kann, bleibt wenig Raum dafür, es auf eigene Faust zu meistern.« Er schlug sich mit der geschlossenen Faust auf die Brust, direkt über sein Herz. »Der einzige Nimlothar, den ich kenne, wächst im Hof in der Mitte der großen Halle der O’gúl-Krone. Das ist nicht der Ort, an dem man sich heutzutage aufhalten sollte.«

»Und du bist einfach reingeschneit, um einen Samen vom letzten Drowbaum zu nehmen?« Cheyenne legte ihren Kopf schief. »Für mich?«

»Was? Ich habe die Grenze nur einmal überquert, Cheyenne und ich weiß nicht, ob und wann ich zurückkehren werde. Ich habe diesen Samen mitgenommen, als ich gegangen bin. Und ja, ich habe ihn die ganze Zeit für dich aufbewahrt.«

Sie betrachtete den teilnahmslosen Gesichtsausdruck des Nachtpirschers und ließ dann ihren Blick auf seine Faust fallen. Er ist auf die menschliche Seite gekommen, bevor ich geboren wurde. »Das ergibt keinen Sinn.«

»Ich bin hier, um dir mit deiner Magie zu helfen, nicht um über meine persönliche Vergangenheit zu sprechen. Vielleicht an einem anderen Tag.«

»Okay …«

Corian streckte ihr wieder die Faust entgegen, öffnete seine Hand und nickte zu dem Samen. »Nur zu.«

Ein kleines Kribbeln schoss durch die Finger der Halbdrow, als sie ihm den glühenden Nimlotharsamen aus der Hand nahm. Als ob meine Finger eingeschlafen wären.

Die blitzenden, silbernen Augen des Nachtpirschers wanderten von dem Samen zu Cheyennes Gesicht und wieder zurück. »Runter damit.«

Sie räusperte sich. »Tut mir leid. Ich dachte, ich hätte gerade gehört, wie du gesagt hast, dass ich das Ding schlucken soll.«

»Wir wissen beide, dass mit deinem Gehör alles in Ordnung ist.«

Ungläubig blinzelte die Halbdrow über die Wiese und stieß ein trockenes, entgeistertes Lachen aus. »Ich werde keinen magischen Samen von der anderen Seite der Grenze essen, nur weil du es sagst. Wenn es überhaupt so etwas ist. Du kannst nicht sicher sein, dass es auf dieser Seite das tut, was es tun soll.«

»So macht man das in Ambar’ogúl, Mädel. Und ein Drowerbe kümmert sich nicht darum, auf welcher Seite der Grenze du bist. Offensichtlich hat es dich hier gefunden. Iss den Samen.«

Mit einem finsteren Blick auf das winzige, glühende Ding zwischen ihren Fingern murmelte die Halbdrow: »Wenn ich eine Art O’gúleesh-Lebensmittelvergiftung bekomme …«

»Ich habe uns durch ein Portal gebracht, Cheyenne. Nicht in eine Zeitschleife. Vergeude es nicht.«

Sie blickte zu den Sternen am schwarzen Himmel und öffnete langsam den Mund. Der Samen schmeckte nach nichts und war noch warm von ihrer Hand, bevor sie ihn mit verzogenem Gesicht trocken herunterschluckte. In der nächsten Sekunde blühte ein starkes Kribbeln in ihrem Magen auf. Sie schluckte erneut und beugte sich vor, wobei ihre Augen tränten. Nicht kotzen .

Die kribbelnde Energie durchströmte sie, schoss ihre Glieder entlang, durch ihre Brust und bis in die Spitzen ihrer Ohren. Cheyenne hob ihre Hand, um das seltsame Gefühl aus einem Ohr zu reiben und spürte die scharfe, knorpelige, harte Spitze unter ihren Fingern. Sie riss ihre Hand nach unten und sah, dass ihre Haut nicht mehr blass, sondern violett-grau im Mondlicht leuchtete. »Was zum …?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das passieren soll.«

»›Ziemlich sicher‹?« Sie starrte Corian mit großen Augen an. »Ich dachte, das hier sollte mir helfen, meine Magie zu kontrollieren und nicht dazu führen, dass ein dummer Samen das Steuer übernimmt und ich nicht selbst entscheide, dass ich meine Gestalt wechsele.«

»Ich habe noch nie ein Halbwesen durch die Prozesse gehen sehen und die Drow, die ich gesehen habe, haben offensichtlich keine zweite Gestalt, die sie annehmen können.« Der Nachtpirscher breitete seine Arme aus. »Aber wenn die Kraft eines alten Nimlothar direkt mit der Macht verbunden ist, die durch deine Adern fließt, Kind, warum bist du dann so überrascht?«

Tief einatmend, schloss Cheyenne die Augen und konzentrierte sich auf die Wälder, welche die Wiese umgaben, um sich zu beruhigen. Besser als die Erinnerung an die Rehe. Wehe, das funktioniert nicht.

Als sie die Augen öffnete, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus und drehte ihre Hand, die jetzt wieder ein menschliches Weiß angenommen hatte, hin und her, nur um sicherzugehen. Dann ließ sie die Wärme ihrer Drowmagie wieder auf sich wirken und schlüpfte in ihre Drowgestalt. Sie dachte, sie hätte es sowieso schon in den Griff bekommen, aber diesmal war es viel einfacher. Mit einem Nicken zu Corian schüttelte die Halbdrow noch einmal ihre Hände aus und wippte auf und ab. »Okay. Dann wollen wir mal.«