Kapitel 16

C heyenne fiel wieder auf ihre Knie, jedoch diesmal auf den Zementboden, der viel härter war als das Gras auf der Lichtung. Corians Portal verschwand mit einem kleinen Knall und das Geräusch unterbrach das irrsinnige Lachen, das durch ihren Kopf schallte. Die Rätselkiste fiel herunter und glitt mit einem metallischen Klirren über den Boden.

»Was zum Teufel war das?« Sie stemmte sich auf alle Viere und blinzelte den Schmerz weg, bis sie wieder zwei statt vier ihrer lila-grauen Hände sah.

»Eine knappe Sache. Genau das war es. Zu knapp.« Der Nachtpirscher bückte sich neben dem Kreis aus weißen Kerzen, deren Flammen bereits erloschen waren und fegte sie alle beiseite in Richtung des leeren Kartons und der Metallregale.

»Ja, den Teil habe ich mitbekommen.« Langsam stemmte sich die Halbdrow auf die Knie und setzte sich auf die Fersen. »Ich spreche von dem anderen Portal. Der Stimme.«

»Ich dachte, wir hätten mehr Zeit.« Corian sprang auf und kehrte zu den Regalen an der Kellerwand zurück. Er stöberte wieder in dem ganzen aufgestapelten Gerümpel herum, während alles, was ihn in dem Moment nicht interessierte, klappernd auf den Boden fiel.

»Wer hat versucht, das Portal zu öffnen?« Sie sah ihm zu, wie er schnell die Regale entlangging. »Die Stimme war in meinem Kopf. Was wollten die?«

Der Nachtpirscher hob einen schwarz glänzenden, verkohlten Holzklotz hoch und zuckte mit den Schultern.

»Corian!«

Er drehte sich zu ihr und seine silbernen Augen blitzten. »Es gibt gewisse Kräfte, die nicht wollen, dass du Erfolg hast, Cheyenne. Jetzt, wo du mit den Vermächtnisprozessen angefangen hast, wird es für diese Kräfte viel einfacher sein, dich zu jagen. Wir müssen vorsichtig sein.«

Der Nachtpirscher ließ sich wieder auf den Boden fallen und begann, mit dem verkohlten Holz eine Reihe von Symbolen zu kritzeln, wobei er seine Hand in großen Kreisen bewegte.

»Mich jagen? Meinst du das ernst?«

Corian fluchte wütend und frustriert, während er sich auf seine Zeichnung konzentrierte. »Das wäre nicht so, wenn dein Vater da wäre, um zu helfen, also müssen wir mit dem auskommen, was wir haben.«

»Mein Vater?« Die Halbdrow stieß ein höhnisches, bitteres Lachen aus. »Ich habe L’zar kennengelernt und er ist kein sehr hilfsbereiter Kerl.«

Das verkohlte Holz klapperte auf den Boden und der Nachtpirscher riss seinen Kopf hoch und starrte sie mit zuckenden Ohren an. »Du hast mit ihm gesprochen?«

»Persönlich. Es war wirklich nicht sonderlich überzeugend.«

Er sah sie an und ein kleines Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Kannst du noch mal mit ihm reden?«

»Ja.« Cheyenne verzog das Gesicht. »Aber ich habe noch nicht entschieden, ob ich …«

»Du willst das, Mädchen. Vertrau mir.« Corian betrachtete seine Arbeit auf dem Boden, dann stand er auf und bürstete sich die Hände ab. »Geh noch einmal zu L’zar und sag ihm, dass wir angefangen haben. Er wird dir Tipps geben können, wie du die Vermächtnisprozesse beschleunigen kannst, damit du die Kiste so schnell wie möglich öffnen kannst.«

»Beim ersten Mal hat er mir keine einzige Frage beantwortet.« Cheyenne stemmte sich auf die Beine und schwankte ein wenig. »Ich glaube nicht, dass sich seit gestern Morgen viel für ihn geändert hat.«

»Aber es hat sich für dich geändert, Cheyenne und das bedeutet, dass sich die Dinge für L’zar geändert haben.«

Sie seufzte genervt. »Der Typ ist in einem Käfig eingesperrt.«

»Aus freien Stücken.« Corian ging schnell durch den Keller und hob die kupferne Box vom Boden auf. Dann hielt er sie ihr hin und nickte. »Dein Vater will genauso wie du, dass du die Prozesse meisterst und dein Erbe antrittst. Vielleicht sogar noch mehr.«

»Klar doch.«

»L’zar gibt nichts umsonst her, Cheyenne. Aber wenn du ihm sagst, dass wir schon angefangen haben und den Vermächtnisprozess beschleunigen müssen, wird er dir sagen, was du wissen musst.«

Die Nasenflügel der Halbdrow blähten sich, als sie den Nachtpirscher ansah. »Weil er davon profitiert.«

»Ja. Was für einen von euch gut ist, ist für euch beide gut. Vereinbare ein weiteres Treffen. Ich werde sicherstellen, dass wir beim nächsten Mal besser vorbereitet sind.«

Toll! Alle geben mir geheime Missionen mit L’zar.

Sie riss Corian die Schachtel aus der Hand und ging zurück zum Kartentisch, um das Ding wieder in ihren Rucksack zu stopfen. Dann warf sie sich den Rucksack über die Schulter und schaute noch einmal aufgebracht zu Corian. »Du hast mich da draußen wirklich verprügelt, weißt du?«

Der Nachtpirscher lächelte hämisch. »Jeder bekommt manchmal einen Tritt in den Hintern, Mädchen. So lernt man.«

»Oh, ja? Wann hat dir das letzte Mal jemand in den Arsch getreten?«

»Ist lange her.«

»Ja, darauf wette ich.« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß und schob ihren anderen Arm durch den zweiten Gurt des Rucksacks. »Mach dir keine Sorgen. Das wird sich ändern.«

Corian kicherte, als sie zur Tür ging und schüttelte den Kopf, während er neben seiner Kohlezeichnung auf dem Boden kniete und sich wieder an die Arbeit machte.

Die Halbdrow blieb an der Metalltür zum Keller stehen und blickte dann noch einmal über ihre Schulter. »Wusstest du, dass du mir den Nimlotharsamen geben würdest, als du ihn in dem Ring aufbewahrt hast?«

Er sah langsam wieder zu ihr auf. Das kleine Lächeln auf seinem katzenhaften Gesicht sah viel weniger räuberisch aus. »Nein. Nur, dass ich es einem jungen Drow aufzwingen würde, um ihm bei seinen Prozessen zu helfen. Aber ich bin froh, dass du es bist.«

»Ja, ich auch ehrlich gesagt. Danke, dass du da warst, um mir in den Arsch zu treten.«

Corian senkte den Kopf. »Jederzeit.«

Cheyenne drehte sich schnell um und riss die Metalltür ruckartig auf. Diese schloss sich mit einem Knall hinter ihr, dann knirschten ihre schwarzen Vans über das getrocknete Laub im Treppenhaus und die feuchten Zementstufen hinauf. Sie seufzte und wechselte schnell aus ihrer Drowgestalt, als sie das obere Ende der Treppe erreicht hatte. »Jeder will etwas«, sprach sie laut aus.

Ein Laubhaufen raschelte im Gras neben ihr, dann erschien darin ein Kopf von der Größe einer Orange, mit einem leuchtenden Schopf aus rubinrotem Haar. »So weißt du, dass du Druckmittel hast.«

Das knapp einen Meter große Männlein – es war komplett orangefarben – hob seine Hand und führte einen riesigen Tannenzapfen zum Mund, bevor es schnell hineinbiss, wobei ein Knacken ertönte, das sich so anhörte, als würde der Kerl in einen Apfel beißen.

Die Halbdrow warf ihm einen strengen Blick zu. »Warst du nicht auf der Mülldeponie?«

»Was? Ich? Auf keinen Fall. Mein Gaumen ist viel kultivierter als das.« Der Tannenzapfen knirschte in seinem Mund und die scharfen Krümel fielen zurück in den Laubhaufen um ihn herum. »Ich stehe auf kompostierbaren Müll.«

Sie unterdrückte ein Lachen. »Ich würde Kiefernzapfen nicht als Müll bezeichnen.«

»Ja, sag das mal den Bäumen.« Das Männlein hob einen schmutzigen Finger und deutete hinter sich auf die Kiefern, die in einer Reihe zwischen den Mietshäusern standen.

Cheyenne rümpfte die Nase, nickte dem kleinen Kerl zu und hätte fast wieder gelacht. »Hast du einen Namen?«

Der Typ zuckte mit den Schultern, schloss seine Knopfaugen, steckte sich das letzte Stückchen Kiefernzapfen in den Mund und vergrub sich wieder im Laubhaufen.

Ich kann sie ja nicht ständig Müllfresser nennen. Schmunzelnd ging sie zu ihrem Auto, das am Bordstein geparkt war und suchte die leere Straße ab, um sicherzugehen, dass dort niemand Unerwünschtes sie beobachtete. Aber er hat recht. Ich verhandle jetzt mit beiden Seiten. Sir und Corian. Wenn ich ein Druckmittel gegen L’zar finde, habe ich wirklich die Oberhand.

Als sie sich hinter das Lenkrad ihres Focus setzte und ihren Rucksack auf den Beifahrersitz fallen ließ, überkam sie ein ausgiebiges Gähnen. Cheyenne schüttelte schnell den Kopf, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und startete den Wagen. Ich kann noch nicht schlafen.

Sie schnallte sich an und schaltete das Radio ein. Der Anfang von Metallicas ›Enter Sandman‹ erfüllte das Auto und sie drehte die Lautstärke so laut wie möglich auf, bevor sie zu ihrer Wohnung zurückfuhr.

* * *

Ihre schwarzen Vans fielen polternd gegen den Schrank, der neben der Eingangstür stand. Cheyenne schlurfte durch ihre Wohnung, warf ihren Schlüsselbund auf den Küchentresen und ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen. Die Halbdrow verzog das Gesicht und rieb sich die Brust unterhalb des Schlüsselbeins, während sie den Kopf hin und her bewegte, um ihren Nacken zu dehnen. Mann, der hat mich echt erwischt.

Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und hielt inne, als ein dumpfes Summen aus einer der Außentaschen kam. Sie verdrehte die Augen, griff hinein und zog das FRoE-Handy heraus. »Ich hoffe, es gibt einen triftigen Grund, warum Sie mich montags nach Mitternacht anrufen.«

»Nun, ich habe nicht nur zum Spaß angerufen, Halbblut.« Sir räusperte sich am anderen Ende der Leitung. »Wie geht’s dir?«

»Wunderbar. Der beste Tag meines Lebens.«

»Okay, übertreib nicht. Vorwarnung für unsere nächste Operation. Morgen.«

»Klar. Ich habe nach dem Mittagessen Zeit.«

»Nö. Du triffst dich mit einem Team um achthundert. Eine zeitkritische Sache, Mädchen. Ich weiß, dass du versuchst, ein Leben zu führen und so weiter, aber das muss so schnell wie möglich passieren und so schnell wie möglich heißt, wann immer ich sage, dass wir loslegen können.«

Cheyenne atmete tief durch und zwang ihre Finger, die das Klapphandy hielten, sich zu entspannen. »Ich kann nicht ständig meine Univeranstaltungen verpassen …«

»Doch, das kannst du. Lass es so aussehen, als wärst du da gewesen. Das wird ein Kinderspiel für dich sein. Was wir tun, ist viel wichtiger. Wir sind hinter dem zweiten Verteilungszentrum für den schwarzmagischen Mist her, der sich immer noch wie ein Lauffeuer im ganzen Staat ausbreitet.«

Seufzend schloss die Halbdrow ihre Augen. »Gut. Ich werde da sein. Ich nehme an, Sie schicken mir noch eine Adresse.«

»Sieh dir das an – du lernst, wie man das Spiel spielt. Hör zu, dieser Einsatz wird den magischen Kult in der Kirche wie eine Kindergartengeschichte aussehen lassen. Wenn du uns hilfst, diese Arschlöcher zu schnappen, kannst du sie für einen weiteren Besuch bei L’zar einlösen.«

»Ich habe bereits gesagt, dass ich es tun werde.«

»Gut. Ich will nur sicherstellen, dass du weißt, was du davon hast. Schlaf ein bisschen. Du klingst wie meine Oma, wenn sie ihre Medikamente nicht nimmt.«

Cheyenne klappte das Handy zu und starrte es an. Jemand muss ihn darauf hinweisen, wie lächerlich diese Analogien sind.

Sie steckte das Mobiltelefon zurück in ihre Tasche und zog die schwarze Leinenjacke aus. Sie fiel auf den Teppich, wobei wegen der Silberknöpfe ein leises Klirren ertönte und die Halbdrow schlurfte durch ihre Wohnung in Richtung Schlafzimmer. Als sie die zersplitterte Tür sah, seufzte sie erschöpft, dann stieß sie sie auf und schälte sich auf dem Weg zum Bett aus ihren Klamotten. Danach legte sie ihr Handy auf den Nachttisch und kroch unter die Bettdecke.

Cheyenne lag auf der Seite und starrte auf die Schiebetür ihres Kleiderschranks. Es sind nur Träume. Schluck es runter. Sie schloss ihre Augen und zwang sich, zu schlafen.