A m nächsten Morgen hatte sie genug Zeit, um an der Tankstelle auf der anderen Straßenseite vorbeizuschauen und sich schnell einen Muntermacher und eine Art Frühstück zu holen. Als sie den Energydrink und das weiche Frühstückscroissant auf den Tresen stellte, versuchte sie zu lächeln.
»Woah. Warum so ernst ?« Katie lachte und rechnete das Frühstück der Halbdrow ab. »War nur ein Scherz. Gegen dich ist der Joker ein Witz. Harte Nacht?«
»Irgendwie schon.« Cheyenne tippte mit den Fingern auf den Tresen und verlagerte ihr Gewicht. »Ich komme schon drüber weg. Wie ist es dir ergangen?«
»Keine Waffen mehr, die auf mein Gesicht gerichtet werden, also kann ich mich nicht allzu sehr beschweren.«
»Hey, alles ist besser, als mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt zu werden, oder?«
Die Angestellte zuckte mit den Schultern und strich sich die Haare aus dem Gesicht, bevor sie auf das Kartenlesegerät zeigte. »Ich habe immer noch seltsame Träume davon.«
»Oh, ja? Scheint momentan nicht unüblich zu sein.« Und ich erwische wohl die schlimmste Sorte von seltsamen Träumen, die es gibt. Cheyenne zog ihre Debitkarte heraus und hielt sie auf den Kartenleser.
»Es ist verrückt. Man sollte meinen, ich hätte inzwischen aufgehört, von dieser Nacht zu träumen, oder? Es ist schon zwei Wochen her.«
»Manchmal dauert so was eben etwas länger.« Sie tippte ihre Pin ein und wartete auf den nervigen Piepton. »Du schaffst das schon.«
»Das hoffe ich. Meine Schwester steht total auf Traumdeutung, weißt du?« Katie seufzte und öffnete eine kleine Plastiktüte, um die Sachen ihrer Kundin hineinzutun. »Ich habe ihr von meinem erzählt und sie ist vollkommen ratlos.«
Die Halbdrow lachte. »Es ist nicht schwer herauszufinden, warum du von einem Raubüberfall träumst. Immerhin wurdest du buchstäblich fast ausgeraubt.«
»Nicht dieser Teil.« Die Verkäuferin verdrehte lachend die Augen. »Ich weiß, dass ich den Überfall einfach noch mal im Traum erlebe, aber das Komische daran ist, dass ich immer von einer unheimlich aussehenden Tussi mit weißen Haaren und wirklich dunkler Haut träume. Ich meine, die Haut ist fast schon lila. Seltsam …« Katie zeigte auf ihre eigenen Ohren, »… und spitze Ohren hat sie.«
»Was?« Cheyenne lachte gezwungen.
»Oder? Das ist so verdammt seltsam. Ich weiß gar nicht, wie mein Gehirn darauf gekommen ist.«
»Aber es kann doch nichts sein, was du gesehen hast, oder? Ich meine, außer dem Offensichtlichen.« Die Halbdrow zuckte mit den Schultern. »Und warst du nicht sowieso ohnmächtig?«
Katie hielt nur kurz inne, bevor sie die Tüte über den Tresen schob. »Woher wusstest du, dass ich ohnmächtig war?«
Scheiße! Cheyenne packte die Griffe der Plastiktüte. »Ich glaube, das Arschloch, das jetzt die Nachtschicht macht, hat etwas darüber gesagt. Der Kerl reißt wirklich gerne das Maul auf.«
»Oh, Mann. Ja , das tut er.« Katie stieß einen langen Seufzer aus. »Wie auch immer. Ich bin nur froh, dass ich jetzt vormittags arbeiten kann. Es fühlt sich einfach sicherer an. Ich wünschte nur, ich könnte herausfinden, worum es in dem Traum geht.«
»Sag ihr, sie soll ›Keebler Elf‹ nachschlagen oder so.« Die Verkäuferin brach in Gelächter aus, als Cheyenne sich von der Kasse abwandte.
»Willst du deinen Kassenbon?«
»Nö. Danke.«
»Okay, bis bald.«
Die Halbdrow drückte ihre Hüfte gegen die Tür und die kleine, elektrische Glocke über dem Kassentresen bimmelte. Cheyenne ging zügig zurück zu ihrem Auto und ließ die Plastiktüte auf den Beifahrersitz fallen. Da hätte ich mich fast in die Nesseln gesetzt. Ich dachte, sie hätte mich in der Nacht nicht gesehen.
Mit besorgtem Gesichtsausdruck schüttelte sie den Kopf und holte das Frühstückscroissant heraus. Der Focus stotterte, als sie ihn startete. Dann fuhr sie in die Innenstadt und aß das durchweichte Croissant, wobei sie ihren Schoß mit Ei bekleckerte.
Auf halbem Weg zu der Adresse, die Sir ihr per SMS geschickt hatte, blickte sie wieder auf das GPS ihres Handys und runzelte die Stirn. Laut Borderlands befand sich das andere Lagerhaus in South Richmond, nicht im West End. Sie stemmte ihr Knie gegen die Unterseite des Lenkrads, griff nach dem Energydrink und öffnete ihn, wobei ein Zischen ertönte. Dann umklammerte sie mit der anderen Hand das Lenkrad und beobachtete die Straße, während sie den Kopf drehte, um lange Schlucke zu nehmen.
Ich werde es herausfinden.
Die Adresse führte sie zu einem stillgelegten Einkaufszentrum, dessen Fenster zur Hälfte mit Brettern vernagelt waren und auf dem ein großes Schild mit der Aufschrift ›Wegen Renovierung geschlossen‹ prangte.
Das einzige andere Auto auf dem Parkplatz war ein schwarzer Jeep, an dessen Motorhaube Rhynehart lehnte. Sie parkte ihr Auto und kippte den Rest ihres Energydrinks hinunter, bevor sie ausstieg. »Kommt Sir eigentlich jemals zu solchen Veranstaltungen oder will er sich keinen Nagel abbrechen?«
Der FRoE-Agent schaute sie mit verschränkten Armen an. »Er hat seinen Job und wir haben unseren. Wer hat dich in eine Essensschlacht verwickelt?«
Cheyenne schaute an sich herunter und klopfte die klumpigen Reste des gekochten Eies und die aufgeweichten Croissantkrümel von ihrem schwarzen T-Shirt und ihrer schwarzen Hose. »Ich, schätze ich.«
»Hm. Vielleicht solltest du deine Essprobleme zu Hause lassen.«
Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. »Nicht lustig.«
Rhynehart kicherte und ging um den Jeep herum, um vorne einzusteigen. Cheyenne setzte sich auf den Beifahrersitz und das Auto fuhr über den Parkplatz, bevor sie sich anschnallen konnte.
»Ich dachte, das wäre eine größere Sache als die Kirche.«
»Oh, ja. Viel größer.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Warum bist du dann der einzige FRoE-Agent, den ich hier sehen kann?«
»Ach, komm schon, Neuling. Glaubst du nicht an mich?«
»Nicht seit du mich in Q’orrs Haus geschickt hast, weil du dich nicht selbst um ihn kümmern konntest.«
Er schaute sie kurz an und schüttelte den Kopf. »Entspann dich. Ich habe Verstärkung.«
»Ich zähle nicht … woah!« Ihre Hand schoss hoch und fasste nach dem Handgriff über der Tür, als der Jeep scharf rechts um das Ende des Einkaufszentrums bog. »Hey, Mann. Ich habe auf dem Weg hierher einen riesigen Energydrink in mich reingekippt und bin trotzdem wie ein vernünftiger Mensch gefahren.«
»Da ist aber jemand heute Morgen sehr angespannt, was?« Mit einem weiteren Kichern lenkte Rhynehart den Wagen um die Ecke und wurde langsamer. »Bilde dir nichts ein, Neuling. Das ist die Verstärkung.«
»Woah.«
Fünf schwarze Militärfahrzeuge waren in einem Halbkreis hinter dem Einkaufszentrum geparkt. Fast zwei Dutzend FRoE-Agenten in schwarzen Uniformen lehnten an den Fahrzeugen, unterhielten sich miteinander, überprüften ihre Waffen und zogen sich Schutzwesten an. Sie blickten alle hoch und richteten sich ein wenig auf, als der schwarze Jeep direkt vor ihnen langsam zum Stehen kam.
Die Halbdrow blinzelte die Agenten an und legte den Kopf schief. »Wenn mir jemand von der Party erzählt hätte, hätte ich etwas mitgebracht.«
»Ja, nun, jetzt ist es zu spät. Komm schon.« Er sprang aus dem Jeep und klopfte kurz auf die Motorhaube, bevor er zum Rest seines Teams ging.
Cheyenne schloss die Tür und folgte ihm.
»Sieh mal an, wer sich entschlossen hat, auch mal aufzutauchen?« Einer der Agenten steckte das Magazin eines Sturmgewehrs wieder ein und nickte ihr zu.
»Hey, ich bin pünktlich hier.«
Das Team gab leises Gelächter von sich. Jamal trat um das letzte Fahrzeug in der Schlange herum, sein großer, grauer Mund war zu einem Lächeln geöffnet. »Man ist nur pünktlich, wenn man zu früh kommt.«
Die Halbdrow sah ihn finster an. Der Oger ignorierte ihren warnenden Blick völlig und stieß ihr im Vorbeigehen seine fleischige Faust gegen die Schulter.
»Ja und wenn du pünktlich kommst, bist du zu spät.« Eine Frau mit einem schwarzen Halstuch auf dem Kopf zog die Riemen ihrer magiedämpfenden Weste mit einem kleinen Kichern fester.
Cheyenne ließ ihren Blick über die Agenten schweifen. »Was passiert, wenn man zu spät kommt?«
»Dann bist du tot«, rief ein anderer Agent, gefolgt von einer weiteren Runde Gelächter.
»Wir sind schon seit zwanzig Minuten hier.« Die Trollfrau, die Cheyenne noch von ihrem ersten verpatzten Besuch im Gemeinschaftsraum des FRoE-Geländes kannte, steckte ihre Pistole wieder in das Holster an ihrer Hüfte und breitete ihre Arme aus. »Was ist los?«
Die Halbdrow biss die Zähne zusammen und warf Rhynehart einen Blick von der Seite zu. »Er hat gesagt, ich solle um acht Uhr hier sein.«
»Und du bist um 07:55 Uhr gekommen.« Rhynehart schlug ihr mit dem Handrücken auf den Arm und hielt inne, als sie sich von ihm entfernte und ihn anfunkelte. »Nicht anfassen. Stimmt. Entschuldigung. Hör mal, diese Typen reden eine Menge Scheiße, Neuling. Mach dir nichts draus.«
»Sagt der Botenjunge für das Hauptquartier.« Yurik schloss die Hintertür des nächstgelegenen Fahrzeugs und drehte sich mit einem breiten Lächeln zu Rhynehart um. Dann fiel der Blick des muskulösen Kobolds auf Cheyenne und er runzelte die Stirn. »Du kommst mir sehr bekannt vor.«
Die Halbdrow warf Rhynehart einen irritierten Blick zu, der nur mit den Schultern zuckte. Sie beschwor die Hitze ihrer Magie an der Basis ihrer Wirbelsäule herauf und schlüpfte in die Gestalt einer Drow. »Klingelt da was?«
»Oh, ja .« Yurik grinste und der große Metallring in seiner Nase blitzte in der Morgensonne. »Ich dachte schon, ich hätte Halluzinationen. Hey, Payton!«
»Was zum Teufel willst du?« Die kleinere Koboldfrau hievte eine massive Fellkanone in den Kofferraum des nächstgelegenen Fahrzeugs und schlug die Tür zu. Mit ihrem einzigen guten Auge blinzelte sie den Agenten an.
»Sieh mal, wer da ist.«
Paytons Auge weitete sich, dann stürmte sie auf die Halbdrow zu und stieß Cheyenne einen stumpfen, türkisfarbenen Finger ins Gesicht. »Ich will nichts über den letzten Tag hören, verstanden?«
Die Halbdrow starrte auf den warnenden Finger, blieb aber, wo sie war. »Wenn du nicht in meiner Nase bohren willst, nimm deine Hand aus meinem Gesicht.«
Yurik lachte laut und verschränkte seine Arme. Payton knurrte, ließ aber ihre Hand sinken und grinste die Halbdrow mit schiefen Zähnen an. »Erwarte nicht, dass ich dir jetzt hinterherräume.«
»Ja, okay.«
Payton stakste mit einem Grunzen davon.
»Ignoriere sie einfach, Neuling.« Rhynehart lächelte amüsiert dem mürrischen Kobold hinterher. »Sie ist immer so.«
»Ich hab davon gehört.«
»Wenn sie überhaupt mit dir redet, bedeutet das, dass sie dich mag.« Rhynehart rieb sich das Kinn und steckte dann zwei Finger in den Mund, um laut zu pfeifen, woraufhin Cheyenne sich von ihm weg lehnte. »Also gut. Lasst uns losfahren.«
Gemurmelte Antworten kamen von den anderen Agenten, als sie das Tempo anzogen und in ihre FRoE-Fahrzeuge stiegen. Yurik warf der Halbdrow einen Blick zu und zeigte dann auf sie, während er sich dem nächsten Gefährt zuwandte. »Du kannst gerne deine Tricks ausprobieren, ja? Ich habe den Jungs erzählt, was du kannst, aber die Idioten denken immer noch, dass ich Mist erzähle.«
Sie schmunzelte und nickte zurück. »Sie werden schon sehen.«
»Ja.« Mit einem weiteren Lachen schüttelte der große Kobold den Kopf und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite. Payton saß bereits hinter dem Steuer und startete den Motor, genau wie die anderen um sie herum. Der Parkplatz hinter dem Einkaufszentrum hallte vom Brummen hochdrehender Motoren wider.
Cheyenne beugte sich zu Rhynehart und murmelte: »Ihr lasst sie mit dieser Augenklappe fahren?«
»Nun, sie hat noch niemanden überfahren. Na gut, komm schon, Neuling.« Rhynehart deute mit dem Kopf in Richtung des Jeeps.
Sie folgte ihm und hüpfte zurück auf den Beifahrersitz. Diesmal schnallte sie sich an, bevor er losfahren konnte. Die FRoE-Fahrzeuge fuhren langsam hintereinander in einem weiten Kreis um den hinteren Parkplatz des Einkaufszentrums, bevor sie aufbrachen. Rhynehart reihte sich mit dem Jeep als Letztes ein. Vier Minuten später bog die Karawane auf die Autobahn in Richtung Nordwesten ab und gab richtig Gas.
»Wo fahren wir eigentlich hin?«
»Ungefähr eine halbe Stunde außerhalb von Richmond. Diese Drecksäcke, die mit Q’orrs Vorräten handeln, dachten, sie wären schlau. Eine Vorratsstation innerhalb der Stadt …«
»Die Kirche.«
»Ja.« Rhynehart deutete mit einem Nicken auf die Autobahn und die schwarze Fahrzeugkolonne, die sich vor ihnen befanden. »Und die zweite ist etwas weiter weg. Wir glauben, dass sie dort das meiste davon aufbewahren.«
»Ich dachte, sie hätten mehr in Richmond.« Cheyenne verschränkte die Arme und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht an, das durch das Fenster fiel. »Ein weiteres Vertriebszentrum in South Richmond, oder so.«
Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Oh, ja? Woher hast du das?«
Vom Borderlands-Forum, von dem er nichts weiß. »Ich stelle nur Vermutungen an.«
»Nun, vielleicht hatten sie etwas anderes auf der anderen Seite der Stadt, aber wir machen uns keine allzu großen Sorgen um weitere Pop-up-Läden wie die Kirche. Wer auch immer für diesen ganzen Mist verantwortlich ist, muss von unserem Überfall auf die Kirche Wind bekommen haben. Diese Typen haben anscheinend überall Augen und Ohren.« Rhynehart zuckte mit den Schultern und warf Cheyenne ein breites Lächeln zu. »Wir haben noch mehr.«
»Sie haben den ganzen Mist also dorthin gebracht, wo wir hinwollen, nachdem sie von der Kirche gehört haben.«
»Bingo. Wir haben gestern Abend einen Tipp bekommen. Wo auch immer sie die Schwarzmagie-Schmuggelware vorher aufbewahrt haben, sie haben gepackt und sind abgehauen. Wir versuchen jetzt, sie zu schnappen, bevor sie merken, dass wir ihnen auf der Spur sind.«
»Wenn du gestern Abend einen Tipp bekommen hast, warum dann bis heute Morgen warten?«
»Hey, wir wissen, was wir tun, Neuling.« Rhynehart schüttelte den Kopf. »Wir haben ihnen gerade genug Zeit gegeben, sich einzurichten und zu denken, dass sie es aus der Schusslinie geschafft haben. Selbst wenn sie herausgefunden haben, dass wir hinter ihnen her sind, haben sie auf keinen Fall genug Zeit, alles aus dem noch größeren Lagerhaus zusammenzupacken und einen anderen Ort zu finden.«
»Ich höre immer wieder, wie groß sie ist.« Die Halbdrow fuhr sich mit der Hand durch ihr weißes Haar. »Weißt du, wie viel von Q’orrs Sachen sie haben?«
Rhyneharts Kichern war leise und klang ein wenig wahnsinnig. »Was glaubst du, warum wir fünf Gefährte beladen haben? Vertrau mir, wir sind vorbereitet. Warte, bis du siehst, was wir hinten in den Fahrzeugen haben.«