Kapitel 30

A ls sie wieder in ihrer Wohnung ankam, war ihre ganze aufgestaute Energie weg. Cheyenne schloss die Tür hinter sich, zog ihre Schuhe aus und ließ die kupferne Box auf den Küchentresen fallen. Sie stützte ihre Hände in den unteren Rücken und sah mit schmerzerfülltem Blick zur Decke. Natürlich ist das Ende des Abends der Zeitpunkt, an dem alles anfängt, richtig weh zu tun.

In ihrem Schlafzimmer holte sie ihr Handy heraus und legte es auf den Nachttisch, dann zog sie ihre Jacke aus und legte sie neben den Schrank. Eine Spur aus weggeworfener Klamotten folgte ihr vom Schlafzimmer ins Bad; als sie vor dem Spiegel stand, war sie nackt. »Oh, Mann.«

Ihre Rippen waren von dem Ork, der versucht hatte, sie an der Wand der Taverne in ein Drowsandwich zu verwandeln, geprellt worden. Sie rümpfte die Nase, drehte sich um und untersuchte ihren Rücken, aber der Troll, gegen den sie gekämpft hatte, hatte keine großen Spuren hinterlassen. Ich schätze, ich werde es erst wissen, wenn etwas nicht mehr funktioniert.

Mit einem Seufzer, der sich in ein Gähnen verwandelte, stellte die Halbdrow die Dusche an und wartete dreißig Sekunden, bis das Wasser schön kochend heiß war.

Bei der ersten Haarwäsche bildete sich eine Pfütze aus dunklem, rotbraunem Wasser zu ihren Füßen, aber als sie das Shampoo zweimal durchgespült hatte, war das Wasser klar. Notiz an mich selbst: Binde deine Haare vor einer Kneipenschlägerei zusammen. Wenn sie ihre Kopfhaut berührte, spürte sie, dass sie schmerzte, aber wenigstens waren ihre Haare noch dran.

Nachdem sie sich abgetrocknet und ihr Haar so oft gebürstet hatte, dass es nicht mehr ausfiel, stülpte sie ein übergroßes, schwarzes T-Shirt über und kroch ins Bett. Cheyenne schnüffelte, rümpfte die Nase und drückte eine Handvoll Haare an ihr Gesicht. Ich brauche ein stärkeres Shampoo. Ihr Wecker war gestellt, das Licht ausgeschaltet und sie drehte sich um, bevor sie an der Kette und dem schwarzen Steinanhänger um ihren Hals riss. Ich werde mich im Schlaf mit diesem Ding ersticken.

Die müden Finger der Halbdrow fummelten an dem Verschluss herum, dann ließ sie die Kette auf den Nachttisch neben ihrem Handy fallen und rieb sich seufzend den Nacken. Danach fiel ihr das Einschlafen nicht mehr ganz so schwer.

* * *

Cheyenne träumte von der Wiese, auf der sie mit Corian trainiert hatte. Das gleiche unheimliche Portal war da, flüsterte ihr etwas in einer anderen Sprache zu und zog alle Bäume des Waldes in seinem Sog zu sich. Dieses Mal begannen ihre Träume allerdings, miteinander zu verschmelzen. Die Wiese war mit leblosen Drowkörpern übersät, die in einem chaotischen Kreis um eine andere Gestalt lagen, die in der Mitte kauerte. Das Flüstern wurde lauter, als das Portal Funken sprühte und mit elektrisch-violetter Energie knisterte.

Der Boden bebte und das Portal wurde doppelt so groß, wie sie es in Erinnerung hatte.

Als die Gestalt in dem schwarzen Mantel, die in der Mitte all dieser Körper kniete, den Kopf hob, erkannte sie das knochenweiße Haar und die violett-graue Haut unter der Kapuze. Aber es war nicht L’zars Gesicht, als die Kapuze runterrutschte.

Es war ihres.

Ihre brennenden, goldenen Augen leuchteten wie Feuer auf der dunklen Wiese. »Jetzt bin ich dran.«

Gerade als die Worte über die Wiese im Traum der Halbdrow dröhnten, schlängelte sich eine dunkle Gestalt durch das Portal. Sie trug denselben schwarzen, schimmernden Umhang wie die Cheyenne in ihrem Traum. Die pechschwarzen Finger der Figur griffen nach oben, um die Kapuze zurückzuziehen. Darunter war kein Gesicht zu sehen – nur eine leere Dunkelheit, aus der das anschwellende Flüstern kam. Dann änderte sich die Sprache und die gesichtslose Gestalt aus dem Nichts drehte sich zu der echten Cheyenne um.

»Wenn er dich gefunden hat, werde ich das auch.«

Die Gestalt schrie und stürzte auf Cheyenne zu und ihre dunklen, schimmernden Klauen senkten sich auf ihr Gesicht.

* * *

Cheyenne richtete sich in ihrem Bett auf und schnappte nach Luft. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und streifte das durchnässte T-Shirt ab, bevor sie es auf den Boden warf. »Das ist doch lächerlich.«

Sie tastete nach ihrem Handy und stöhnte auf. Warum bin ich um halb sechs wach?

Sie ließ sich wieder auf den Rücken fallen und zuckte schmerzerfüllt zusammen, dann drehte sie sich zur Seite und drückte vorsichtig eine Hand auf ihren Hinterkopf. Sie kniff die Augen zusammen und lag einfach nur da, aber dann flogen ihre Augen wieder auf. Ja, jetzt bin ich wach.

Sie stieg aus dem Bett und ihr Blick fiel auf die Kette mit dem Schutzanhänger neben ihrem Handy. Sie schnappte ihn sich, legte ihn wieder um ihren Hals und sah auf den schimmernden, schwarzen Stein hinunter. Vielleicht ist es das Risiko wert, im Schlaf zu ersticken, wenn dieses Ding die bösen Träume abhalten kann.

Die Schubladen der Kommode waren fast komplett leer, also griff sie sich eine Hose aus der untersten Schublade, die sie seit dem ersten Semester nicht mehr getragen hatte – schwarz mit glänzenden, vertikalen Silberstreifen. Ihre Nase rümpfte sich, als sie sie zuknöpfte, aber sie zuckte mit den Schultern und ging zum Kleiderschrank. Auch dort gab es nicht viele Möglichkeiten. Cheyenne schnaubte und riss sich einen schwarzen Rollkragenpullover vom Bügel, bevor sie ihn anzog. Sie zog den Schutzanhänger unter dem Rollkragenpullover hervor und schüttelte den Kopf. Dann ging sie im Schlafzimmer herum und stapelte alle schmutzigen Klamotten, die sie auf dem Boden liegen gelassen hatte, in ihre Arme, bevor sie sie zu der Waschmaschine und dem Trockner gleich neben dem Badezimmer brachte.

Nachdem sie noch etwas Eyeliner aufgetragen und sich die Zähne geputzt hatte – wobei sie die ganze Zeit an den fiesen Atem des Ogers denken musste – ging die Halbdrow zurück zum Schreibtisch, rollte den Stuhl näher heran und klickte auf den Monitor.

Ihre Universitäts-E-Mail hatte sich automatisch abgemeldet, was aber sowieso nicht so wichtig war. Sie schloss das Internetfenster und starrte auf das Borderlands-Forum und die gleiche angeheftete Ankündigung vom letzten Abend erschien auf ihrem Bildschirm. Mit einem tiefen Seufzer stützte Cheyenne ihren Kopf auf die Hände. Na toll. Jetzt mache ich auch noch dumme Anfängerfehler.

Sie loggte sich aus dem Dark Web und ließ ihr VPN eingeschaltet, während sie einen Diagnosetest ihres Servers und ihres Verarbeitungssystems durchführte. Die Ergebnisse zeigten nichts an und sie schaltete Glen aus, bevor sie sich wieder von ihrem Schreibtisch entfernte. »Diesmal hatte ich Glück.«

Kopfschüttelnd steckte die Halbdrow beide Handys in die Vordertasche ihres Rucksacks und holte dann eine schwarze Cordjacke mit silbernen Knöpfen an beiden Seiten aus dem Kleiderschrank. Nachdem sie sie angezogen hatte, warf sie sich ihren Rucksack über die Schulter, schnappte sich ihre Schlüssel und verließ ihre Wohnung eine halbe Stunde, bevor sie normalerweise zur Uni ging.

Auf der Fahrt zum VCU-Campus setzte die Halbdrow den Blinker zu dem Starbucks-Schild auf der rechten Seite und zuckte mit den Achseln. Warum eigentlich nicht?

Sie fuhr auf den Parkplatz und stellte sich am Drive-In hinter einem himmelblauen Prius an, in dem sich eine Frau mit kurzen, braunen Haaren halb aus dem Fenster lehnte, um ihre Bestellung aufzugeben. Selbst mit hochgekurbeltem Fenster hörte Cheyenne alles, was die Frau an diesem Mittwochmorgen zu sagen hatte. Das ist der Grund, warum ich nicht zu Starbucks gehe. Ich hätte mir einfach etwas an der Tankstelle holen sollen.

Dann fuhr die Frau in ihrem Auto weiter zum Fenster, wo sie wahrscheinlich noch mehr Zeit verbringen würde und Cheyenne fuhr ihren Ford Focus bis zum Lautsprecher vor, bevor sie ihr Fenster runtermachte.

»Willkommen bei Starbucks. Bestellen Sie, wenn Sie bereit sind.« Die seltsam fröhliche Stimme ließ Cheyenne ein wenig vom Fenster wegzucken und schnell blinzeln.

»Ja, nur einen … ich weiß nicht. Einen großen Kaffee.«

»Ein Venti? Okay. Welche Röstung wollen Sie heute Morgen?«

»Ähm, koffeinhaltig.«

Ein gedämpftes Lachen kam über den Lautsprecher. »Sie sind kein Stammgast, oder?«

»Was hat es verraten?«

»Okay, ich persönlich bin ein Fan der Kolumbien-Röstung. Wir haben auch kalt gepressten, wenn Sie wollen.«

»Ja, einfach das Erste, bitte.«

»Alles klar. Das wäre dann zwei Euro achtundfünfzig. Ich sehe Sie am Fenster.«

»Danke.« Cheyenne rollte mit ihrem Auto langsam einen halben Meter vorwärts, bevor sie hinter dem Prius zum Stehen kam. Sie rieb sich die Wangen, blinzelte heftig, trommelte dann mit den Fingern auf das Lenkrad und legte den Kopf in den Nacken, während sie gelangweilt aus dem Fenster auf der Beifahrerseite schaute. Da sah sie den wandelnden Müllhaufen. »Was …?«

Alte, zerknitterte Verpackungen und ein leerer Pappbecher flogen von der Spitze des Müllhaufens, gefolgt von einem halb gegessenen Apfel und einer langen, rosafarbenen Schleife. Der Müllhaufen wanderte an Cheyennes Auto vorbei, sackte dann zu Boden und gab den Blick auf ein etwa einen halben Meter großes Männlein mit knallroter Haut frei, das mit einem übertriebenen Lächeln und großen, gelben Augen den Müllhaufen durchwühlte. Sein neonorangefarbenes Haar war zu sieben dicken Irokesen gegelt.

Cheyenne schaute sich auf dem Parkplatz um. Warum sieht niemand diesen Kerl?

Als sie zu dem kleinen, roten Kerl zurückblickte, der auf dem Gras zwischen dem Starbucks-Parkplatz und dem Parkplatz nebenan saß, schaute er in einen Rucksack rein, stellte ihn dann neben sich ab und durchwühlte weiter den Müll. Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden blickte Cheyenne auf einen grünen Rucksack, auf dessen Vorderseite der Unglaubliche Hulk Autos zerschmetterte. Oh, verdammt, nein.

Sie sprang aus dem Auto und stolperte über den Parkplatz auf das magische Wesen zu, die Fäuste an den Seiten geballt. »Hey.«

Der kleine Kerl blickte mit seinen großen, gelben Augen zu ihr hoch, schaute sich dann auf dem Parkplatz um und zeigte auf seine Brust.

»Ja, ich rede mit dir. Woher hast du den Rucksack?«

»Du kannst mich sehen.«

»Ja und ich habe dir eine Frage gestellt.« Als sie ihn erreichte, schnappte sie sich den Rucksack neben dem Männlein und verdrängte die Erinnerung an all die anderen Klamotten, die auf einem Haufen gelegen hatten, bevor sie unter Bauschutt begraben worden waren.

»Hey, Lady. Was ich aus dem Müll ziehe, geht dich nichts an.«

»Das ist kein Müll. Es ist gestohlen.«

»Ja, du hast ihn gestohlen.« Das hellrote Männlein beugte sich vor, um nach dem Rucksack zu greifen, aber die Halbdrow hob ihn aus seiner Reichweite und blickte ihn an.

»Woher hast du das?«

»Ein abgerissenes Gebäude, okay? Der Kobold hat mir gesagt, ich solle mir nehmen, was ich will. Den Hut wollte er aber nicht hergeben. Schöner, schwarzer Hut und achtunddreißig ist meine Glückszahl! Türkisfarbener Bastard. Jetzt gib ihn zurück. Ich brauche etwas, in das ich meine besten Funde stecken kann und du machst es mir ziemlich schwer.« Das Männlein nahm eine zerknitterte Zeitung aus seinem Schoß, überflog die Vorderseite und warf sie über seine Schulter, bevor er den nächsten Gegenstand aufhob – einen riesigen, schwarz-silbernen Metallschädel, der an einem schwarzen Satinband baumelte.

»Nein.« Cheyenne riss ihm auch die Kette aus der Hand. Sie durfte es nicht zu lange ansehen, sonst würde sie hier vor dem Starbucks im Berufsverkehr die Nerven verlieren. »Was hast du noch aus dem Gebäude mitgenommen?«

»Hey, wenn du das Zeug unbedingt behalten wolltest, hättest du es nicht wegwerfen sollen. Herrje.« Er verdrehte die Augen und durchwühlte noch mehr Gerümpel, wobei er lose Papiere und eine Kette mit unechten Perlen wegwarf. »Niemand will es haben, bis er sieht, dass jemand anderes es hat.«

»Hast du mich gehört?«

»Nichts . Kapiert? Das waren die einzigen beiden Dinge in dem Haufen, die meine Zeit wert waren, also gib sie zurück.«

Cheyenne schluckte und schüttelte den Rucksack vor seinem Gesicht. »Hast du von all den vermissten Kindern gehört?«

Der magische Winzling erstarrte und legte den Kopf schief. »Mann, woher zum Teufel weiß ein Mensch von all dem Zeug?«

»Weil ich kein Mensch bin.« Die Halbdrow hob eine Hand und machte sich bereit, kurz in ihre Drowgestalt zu schlüpfen, um einen Beweis für ihre Aussage zu bringen, aber nichts geschah. Was? Sie blickte auf ihre leere Hand hinunter, die immer noch menschlich aussah und noch blasser schien neben den schwarz lackierten Nägeln. »Ich …« Sie ballte ihre Faust und versuchte es noch einmal, aber die Hitze, die normalerweise an ihrer Wirbelsäule aufloderte, zündete nicht einmal.

Der kleine, orangefarbene Müllsammler stieß ein schrilles Gackern aus, umschlang mit den Armen seinen Bauch und schaukelte so weit zurück, dass er fast ins Gras kippte. »Oh, wow ! Hast du dir in einem Moshpit zu oft den Kopf gestoßen oder was? ›Kein Mensch‹.« Er lachte, seine gelben Augen weiteten sich, als er sich zu ihr zurücklehnte und auf sie zeigte. »Oder du bist ein Blindgänger. Mach mal halblang.«

Was ist mit meiner Magie los? Cheyenne starrte auf ihre Hand, blinzelte erneut und machte einen schnellen Schritt auf das gackernde Wesen zu. Es hielt sofort inne, starrte sie an und leckte sich die Lippen. »Das Zeug gehört den Kindern. Nicht dir. Bleib beim Plündern von Müllhalden, kapiert?«

»Sagt der nicht-menschliche Mensch. Du kannst diesem Wichtel nicht sagen, was er tun soll.« Seine Stimme brach ein wenig, als sie ihn anschaute.

»Ich kann noch viel mehr als das. Lass mich dich nicht mit noch mehr Sachen aus dem Gebäude finden.«

Er schnaubte und wühlte weiter in dem Gerümpel auf seinem Schoß. »Wie auch immer.«

Mit großen Augen ging Cheyenne zurück zu ihrem Auto, den Rucksack und das Satinband der Halskette fest in der Hand. Sie erreichte den Focus gerade, als der Prius der Frau vom Fenster wegfuhr und die Halbdrow setzte sich eilig hinter das Lenkrad. Sie stellte den Rucksack und die Halskette vorsichtig auf dem Rücksitz ab und warf noch einmal einen Blick in den Seiten- und Rückspiegel. Der lästige, kleine Wichtel war weg; leere Verpackungen und der Rest der Zeitung flatterten im Wind auf dem Gras. Wenigstens weiß ich jetzt, was sie sind.

Sie rollte bis zum Fenster vor und schenkte der Barista ein schwaches Lächeln.

»Hier ist Ihr Kaffee. Sie wollten weder Sahne noch Zucker?«

»Nein, danke.« Cheyenne steckte ihre Hand in ihre Jackentasche und seufzte. Andere Jacke. »Tut mir leid. Eine Sekunde.«

Sie griff in die Vordertasche ihres Rucksacks und suchte nach Kleingeld, als eines der Handys darin anfing zu summen. Wer auch immer es ist, er kann warten. Sie zog ein Bündel Scheine heraus, suchte einen Fünfer und reichte ihn ihr.

»Einer dieser Morgen, hm?« Die Barista lächelte und nahm das Geld der Halbdrow.

»Ja. Deshalb brauche ich einen Kaffee.«

Das Mädchen reichte Cheyenne den großen Pappbecher und schenkte ihr ein noch breiteres Lächeln. »Lassen Sie mich Ihr Wechselgeld holen.«

»Behalten Sie es einfach.« Ohne auf eine Antwort zu warten, legte die Halbdrow den Gang ein und fuhr von dem Parkplatz, bevor sie von fünfzig Autos aufgehalten wurde, anstatt von einer Frau, die fünfzig Kaffee bestellte. Sie nippte an ihrem Kaffee, als sie in Richtung VCU-Campus fuhr und schürzte die Lippen. Okay, gut. Besser als der von der Tankstelle.

Sie stellte ihn in den Getränkehalter, um sich wieder anzuschnallen und warf dann einen Blick auf die Sachen, die sie dem Wichtel abgenommen hatte und die nirgendwo hätten liegen bleiben dürfen. Was soll ich damit machen?