Kapitel 31

C heyenne erreichte das Gebäude der Computerwissenschaften für ihren ersten Mittwochskurs um viertel nach acht Uhr morgens. Genug Zeit für einen Boxenstopp .

Als sie das Ein-Personen-Badezimmer am Ende des Flurs betrat, hängte sie ihren Rucksack an den Haken und drehte sich zum Spiegel. »Was war da eben los?«

Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Augen und rief alle mentalen Bilder auf, die sie von Gewehren und anderen Schusswaffen finden konnte. Aber nichts passierte.

»Komm schon!« Sie klopfte sich auf den unteren Rücken und wartete darauf, dass die Hitze sie überspülte. Dann sah sie zu ihrem Spiegelbild auf, ihre Nasenflügel blähten sich auf und sie dachte an Ember, die im Skatepark auf den Zement fiel. Die Halbdrow biss die Zähne zusammen und rief alles hoch, was sie in der Nacht vor über zwei Wochen gefühlt hatte, bis sich ihr Gesicht rötete und sie eine Ader auf ihrer Stirn hervortreten sah. Ihr Atem stockte und sie schlug ihre Hände auf den Rand des Waschbeckens. Es kann nicht sein, dass dieser Troll die Drow direkt aus meiner Niere geschlagen hat. Oder?

Schwer atmend sah sie sich noch einmal wütend im Spiegel an und gab dann auf. Cheyenne öffnete die Vordertasche ihres Rucksacks und holte beide Handys heraus. Ihr persönliches Handy zeigte keine verpassten Benachrichtigungen an und sie verdrehte die Augen, bevor sie es wieder in die offene Tasche steckte und das Wegwerfhandy aufklappte. Nur eine ungelesene SMS von Rhyneharts Nummer.

Wir treffen uns um 15:00 Uhr im Diner. Wir brauchen dich und dein Gehirn.

In der nächsten Zeile stand die Adresse des Diners und Cheyenne schickte eine SMS, in der nur ›Okay‹ stand. Dann klappte sie das Handy zu, ließ es in ihre Tasche fallen und schnappte sich ihren Rucksack, um zu ihrer Vorlesung zu gehen. Drei Uhr schaffe ich. Ich kann nicht ständig meine Kurse verpassen.

Ihr Professor für ›Fortgeschrittene Netzwerkanalyse und Sicherheit‹ schien nicht zu bemerken, dass Cheyenne es in dieser Woche gleich zu zwei aufeinanderfolgenden Vorlesungen geschafft hatte. Er erzählte immer wieder von den verschiedenen Viren und schädlichen Programmen, mit denen man sich in die Social-Media-Konten anderer einhacken konnte, gefolgt von einer Liste bekannter Betrugsmaschen, die in den letzten zehn Jahren benutzt wurden, um ahnungslose Nutzer zur Preisgabe ihrer privaten Daten zu verleiten. Die Augen der Halbdrow schlossen sich von Minute zu Minute mehr, während sie tiefer in ihren Stuhl sank, aber auch das schien niemand zu bemerken.

Ihre anderen beiden Kurse an diesem Tag waren nicht anders. Der einzige bemerkenswerte Unterschied war das ruhige, unauffällige Mädchen, das kleiner war als Cheyenne, das während der Vorlesung zur ›Theorie der Programmiersprachen‹ ihren Blick auf ihre Halskette heftete, als hätte es noch nie Schmuck gesehen. Cheyenne starrte zurück und wartete darauf, dass die großen, blinzelnden Augen aufblickten und bemerkten, dass die Halbdrow sie beobachtete. Aber das taten sie nicht. Alle sind damit beschäftigt, mich anzustarren und es geht nicht einmal um die Gothsache.

Die letzte Stunde endete um halb zwei Uhr nachmittags, nachdem Professor Dawley ihnen eine Aufgabe gegeben hatte, die Cheyenne nicht hörte. Das Rascheln und Schlurfen von zehn Studentinnen und Studenten, die ihre Sachen zusammensuchten, rüttelte sie aus ihrem Halbschlaf und sie verzog das Gesicht, weil ihr der Rücken wehtat. Ihre geprellten Rippen pochten schmerzhaft, als sie gegen die Kante des langen Tisches stieß, bevor sie aufstand, aber sie biss die Zähne zusammen und stieß einen langen, langsamen Seufzer aus.

Professor Dawley blinzelte sie an und nickte. »Wir sehen uns am Freitag.«

Cheyenne winkte halbherzig mit der Hand und warf sich ihren Rucksack über die Schulter. »Ja.«

Toll. Jetzt wird sie es merken, wenn ich nicht auftauche.

Sie ging schnell den Flur hinunter und warf einen Blick auf die anderen Studierenden, die durch das Gebäude liefen und sich auf den Weg zu und von ihren anderen Kursen machten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, aber es war nicht die magische Art. Das ist ein ernstes Problem.

Mattie Bergmanns Bürotür stand wie immer offen, als Cheyenne kurz vor 14:00 Uhr auftauchte. Die Halbdrow ging hinein, schloss die Tür hinter sich und ging direkt zum Schreibtisch.

»Du hast dein übliches Klopfen vergessen«, sagte Mattie und musterte die Halbdrow von oben bis unten. »Und du siehst furchtbar aus.«

»Raue Nacht. Schlechte Träume. Komischer Morgen. Dann musste ich mich durch alle meine Kurse quälen und das hat auch nicht geholfen.« Cheyenne ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen und strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht. »Ich habe ein Problem.«

Mattie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Ich glaube nicht, dass ich es erraten könnte, wenn du mir zehn Versuche gäbest. Es sei denn, es ist diese Hose.«

»Nein, ich meine es ernst. Ist es …?« Die Halbdrow schloss ihre Augen. »Gibt es eine Möglichkeit, seine Magie zu verlieren

Die Professorin lachte und schaute verwirrt, während ihre grünen Augen Cheyennes Gesicht musterten. »Nur wenn du verflucht oder vergiftet wurdest. Oder fast getötet.«

»Was ist mit doll geschlagen?«

Mattie stieß ein Lachen aus, hielt dann eine Hand auf ihren Mund und holte tief Luft. »Was hast du getan, dass du geschlagen wurdest?«

»Ich habe nichts getan. Am Anfang.« Als Mattie nur eine Augenbraue hochzog, lenkte die Halbdrow ein. »Vielleicht bin ich gestern Abend in eine Kneipenschlägerei geraten.«

»Aha. Du glaubst, dabei wurde dir deine Magie genommen?«

»Es war eine Kneipenschlägerei in Peridosh.«

Die Augen der Professorin weiteten sich und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das sie nur mit Mühe unterdrücken konnte. »Du lernst also den magischen Untergrund von Richmond kennen, was?«

»So ähnlich. Aber das ist es, was ich wissen will. Irgendein Troll hat mich irgendwo in der Nähe meiner Niere erwischt und ja, es tut weh, aber das ist auch der Punkt, an dem alles beginnt, wenn ich …«

»Whoa, whoa. Okay. Mach mal langsam.« Mattie leckte sich über die Lippen. »Du solltest vor allem ein Auge auf die Niere werfen. Wenn du Blut in der Toilette siehst …«

»Ja, ich weiß, wie der Teil funktioniert.«

»Okay.« Mattie hob entschuldigend beide Hände und nickte. »Hör zu. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ein Troll dich nicht so hart geschlagen hat, dass er die Drow aus dir herausgeholt hat. Okay?«

»Warum kann ich dann nichts tun? Keinerlei Magie. Keine Formveränderung. Nicht einmal Funken. Das macht mir irgendwie Angst.«

»Ja, das kann ich sehen.« Die Professorin verschränkte wieder die Arme und blickte von Cheyennes Gesicht weg. »Warum erzählst du mir nicht von der Halskette?«

»Was?« Cheyenne blickte auf den Anhänger, der vorne auf ihrem Rollkragenpullover lag und runzelte die Stirn. »Das könnte eines der Dinge sein, von denen du nicht hören willst.«

»Cheyenne, ich weiß, dass du die nicht von der FRoE bekommen hast. Die würden das Herz der Mitternacht nicht erkennen, wenn man es ihnen ins Gesicht halten würde.«

Die Halbdrow warf einen schnellen Blick auf ihre Professorin und ihr Mund stand offen. »Du weißt, was das ist?«

»Ich weiß, was der Stein ist und wie er verwendet wird. Mein Gefühl sagt mir, dass du das nicht weißt. Woher hast du ihn?«

»Von einem Freund.« Ihr Lächeln wirkte nicht überzeugend.

»Ich verstehe.« Mattie beugte sich vor. »Hat dir dieser Freund gesagt, was der Stein tut?«

»Äh …« Ich bewege mich hier auf einem schmalen Grat. »Wir haben uns darüber unterhalten, dass meine Magie zu hell und zu laut wird. Dieses Ding soll sie dämpfen.«

Die Professorin weitete nur die Augen und presste die Lippen aufeinander.

»Oh. Ernsthaft?« Cheyenne zog den Anhänger an der Kette hin und her und wünschte, sie würde sich lockern. »Er hat ›dämpfen‹, nicht ›komplett ausschalten‹ gesagt.«

»Sieht aus, als hättest du deine Antwort gefunden.«

»Okay.« Die Halbdrow löste die Kette von ihrem Hals und hielt sie in einer Hand fest. Dann schlüpfte sie in ihre Drowgestalt. Sie nickte, während sie ihre lila-graue Hand ansah und wechselte dann wieder in ihre blasse, menschliche Haut. Hoffentlich hatte Corian einen guten Grund dafür, mir das nicht zu erklären. Mit einem Seufzer legte sie die Kette um den Rollkragen ihres Pullis und schloss sie wieder. »Jetzt fühle ich mich offiziell wie eine Idiotin.«

»Oh, das ist nicht das Peinlichste, was in diesem Büro passiert ist, Mädchen. Glaub mir.« Mattie kicherte und betrachtete den Anhänger ein weiteres Mal. »Außerdem ist es fast unmöglich, die genaue Wirkung eines Zaubers zu kennen, wenn du ihn nicht selbst anwendest. Vor allem, wenn man einen Stein wie diesen benutzt. So einen habe ich schon lange nicht mehr gesehen, Cheyenne. Dein neuer Freund ist nicht zufällig ein Drow, oder?«

»Nein.« Cheyenne nahm ihren Rucksack wieder hoch und starrte auf das Pult ihrer Professorin, als sie ihn sich über die Schulter warf. »Er ist nur mit einem befreundet, wie es scheint.«

»Ah. Da hat er den Stein bestimmt her, da bin ich mir sicher.« Die Professorin schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die Halskette. »Interessante Wahl, das über die Grenze zu bringen.«

»Ja, nun, er ist ein interessanter Typ.« Und nervtötend. »Oh, hey. Wie spät ist es?«

Mattie warf einen Blick auf ihren Computer. »Viertel nach zwei. Hattest du schon die Gelegenheit, dir einen der Zaubersprüche anzusehen?«

»Ja, schon.« Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Ich werde dich auf dem Laufenden halten. Ich muss jetzt los, aber danke, dass du mich beruhigt hast.«

»Kein Problem.« Die Professorin zwinkerte ihr zu. »Versuch, dich nicht mehr zu prügeln, ja? Und geh zum Arzt, wenn du dich nicht gut fühlst.«

»Mir geht es gut. Wirklich.« Als sie die Tür öffnete, nickte die Halbdrow ihrer Professorin noch einmal zu, bevor sie in den Flur hinaustrat. Es gibt so viele Dinge, die sich nicht richtig anfühlen. Ein Arzt wird nichts davon in Ordnung bringen.