FÜNF

Montag, 10. Oktober

Morgens Kräutertee oder ungesüßtes Zitronenwasser. Vormittags Wasser, mittags Gemüsebrühe, nachmittags Tee, abends Säfte, mit Wasser verdünnt.

Paul überflog die Liste, und in seinem Magen begann es zu rumoren. Kräutertee, dachte er, kein Kaffee. Das war schon mal das erste Hindernis. Die andere Sache war die Darmreinigung. Er musste sofort an die Darmspiegelung denken, zu der er sich vor einigen Jahren von Anna hatte überreden lassen, nachdem ein Freund von ihnen an Darmkrebs gestorben war. Schon am Vortag hatte er dieses Teufelszeug trinken müssen, dem zu allem Überfluss ein Mangoaroma beigefügt worden war, sodass er heute noch einen Würgereiz bekam, wenn er eine Mangofrucht auch nur erblickte.

In diesem Merkblatt wurde Glaubersalz oder der Einlauf vorgeschlagen, woraufhin er beschloss, diese Information wie eine unliebsame Mail als ungelesen in den Papierkorb zu verschieben. Ein paar Tage nichts zu essen, das ging in Ordnung. Aber das, was noch in ihm war, würde irgendwann auf natürliche Weise den Weg nach draußen finden.

»Wenn ich ein paar dieser Ratschläge ignorieren darf, würde ich es wirklich einmal mit dem Fasten versuchen«, waren Pauls Worte gewesen, nachdem Siri ihm bei einer Tasse Tee im Haus der Stille das Merkblatt gegeben hatte.

Dass er sich durchgerungen hatte, sich in Siris Gruppe anzumelden, war auf Martin Heimdahls Überredungskünste zurückzuführen. »Tu es für dich und deine Gesundheit«, war dessen Appell gewesen. »Und tu es für mich, um Licht in diesen Fall zu bringen. Ich habe keine Zeit, ich muss mein Haus wetterfest machen.«

Heimdahl hatte recht. Irgendetwas war lose auf dem Dach. Und wie es aussah, hatte das Tief sich doch gegen einen Umweg entschieden, denn es bewegte sich geradewegs auf Ostholstein zu.

Paul dachte an das üppige Frühstück, das er und Heimdahl sich gestern zubereitet hatten. Wenn er gewusst hätte, dass er sich kurz darauf zu einer Fastenkur anmelden würde, hätte er darauf verzichtet. Prompt bekam er Hunger, den er mit einem Schluck Tee zu verscheuchen versuchte. Er trank langsam, ließ die Flüssigkeit eine Weile in seinem Mund, kaute sie förmlich, bevor er sie runterschluckte. Genau so, wie Siri es empfohlen hatte.

Der Tag hatte windig begonnen, und es sah nicht so aus, als würde es noch einmal besser werden. Hoss und Yolanda waren unterwegs, sie wollten am Strand entlangwandern. Paul saß mit Siri am Tisch, und sie hatte ihn in die Praxis des Fastens eingewiesen. Dass ihm die Entlastungstage fehlten, erschwerte den Einstieg vielleicht ein wenig, aber Paul hatte versichert, dass dies kein Problem sein würde. Wenn er sich zu etwas entschlossen hatte, dann würde er dabeibleiben.

Paul hatte Siri per Kurzversion über seine momentane Lage informiert. Dass er immer noch vom Dienst freigestellt war, dass er bei Martin Heimdahl im Haus nebenan wohnte, wenn er in Havgart im Hirschfänger arbeitete oder bei seinem Vater war. Und auch, dass er momentan mit dem Gedanken spielte, wieder in seine alte Abteilung zurückzukehren, da sein alter Chef nicht, wie geplant, gegangen war und ihn sogar mehrere Male angerufen und gebeten hatte, seinen Entschluss zu überdenken.

»Martin hat mir von dieser Klarheit berichtet, die er durch das Fasten bekommen hat«, sagte er zu Siri, »und so eine Klarheit kann ich jetzt gut gebrauchen.« Er nippte an seinem Tee.

Siri nickte langsam, als dächte sie über etwas nach. »Genau das hat Mathias auch gesagt. Er bräuchte Klarheit bei dem, was er vorhatte.«

»Aber um was es dabei ging, hat er nicht gesagt?«

»Nein. Er hat sich sogar dafür entschuldigt, dass er nur so wenig von sich preisgibt«, sagte Siri.

»Hat seine Frau sich bei euch gemeldet?«

»Ja, sie hat angerufen und gesagt, dass sie kommen will.« Siri sah bedrückt aus. »Wie schrecklich muss das für sie sein, diese Ungewissheit.« Dann sah sie Paul in die Augen. »Martin hat dich das bestimmt auch schon gefragt, aber bist du sicher, dass Mathias tot war?«

Paul erwiderte den Blick und schwieg eine Weile. Wieder sah er diese Augen vor sich, während er den schlaffen Körper in den Armen gehalten hatte. In diesen Augen war kein Leben mehr gewesen. Sollte dieser Mann plötzlich wieder vor ihm stehen, dann würde er endgültig an seinem Verstand zweifeln. »Er war tot, Siri, daran besteht kein Zweifel.«

Schweigend sah sie ihn an.

»Jemand hat ihn weggeschafft, als ich ins Haus gelaufen bin, um Martin zu wecken. So und nicht anders muss es gewesen sein.«

»Aber wer sollte so etwas tun? Und warum?«

Paul hob die Schultern. »Wie gesagt, das finden wir nur heraus, wenn wir wissen, was er hier wollte. Außer zu fasten, natürlich.«

»Er hat sich für diese Gaststätte in Havgart interessiert, das ist das Einzige, was er erzählt hat.«

Paul nickte. »Ich weiß, aber deswegen hat ihn bestimmt niemand umgebracht.« Er bemerkte das Unbehagen, das diese Feststellung in ihm auslöste, und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Um Gottes willen, dachte er, wie kann ich so etwas denken? Andererseits wurde er den Gedanken einfach nicht los, dass Johann, Ida und Olaf ihm etwas verschwiegen. Seit dem Gespräch mit Heimdahl im Hirschfänger grübelte er darüber nach. Warum musste sich alles immer als so kompliziert erweisen? Er schloss kurz die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er, dass Siri ihn genau beobachtet hatte.

»Du machst dir Sorgen wegen irgendetwas.« Sie neigte den Kopf zur Seite, was sie besonders betörend aussehen ließ.

Verblüfft registrierte er den inneren Aufruhr. Seit er nicht mehr mit Anna zusammen war, hatte er keine Frau derart anziehend gefunden.

Paul verscheuchte die Gedanken und versuchte ein Lächeln. »Ich habe so viel im Kopf und …« Er holte tief Luft. »Aber ja, es stimmt, ich mache mir tatsächlich Sorgen.« In kurzen Sätzen erzählte er von den unklaren Verhältnissen in Bezug auf den Hirschfänger. Und dass seine drei Mitstreiter, von denen einer sein Vater war, sich seltsam verhielten.

Siri hatte ruhig zugehört, hin und wieder genickt, ihn dabei aufmerksam betrachtet. Paul hatte sie immer nur kurz angesehen, den Blick dann sofort abgewandt und im Raum herumgeschaut oder auf seine Finger gestarrt, die aus Verlegenheit die Maserung der Tischplatte entlangfuhren.

Gerade als Siri etwas erwidern wollte, wurden Stimmen im Flur laut. Hoss und Yolanda kamen zurück. Paul hätte sie am liebsten sofort wieder weggeschickt, so sehr hatte er das Beisammensein mit Siri genossen. Er ließ die Hände auf die Tischplatte fallen.

»Jetzt bist du halbwegs informiert«, sagte er und trank den Tee aus, der mittlerweile kalt geworden war.

Dann bemerkte Paul noch eine weitere Stimme, und er sah, dass eine Frau den Flur betreten hatte. Das musste Mathias Lievens Frau sein, dachte er und stand auf. Auch Siri erhob sich, und beide gingen auf sie zu.

»Frau Lieven«, sagte Hoss, »wir haben uns bereits bekannt gemacht.« Dann deutete er auf Paul und Siri. »Paul Lupin von der Polizei und Siri Lundell, die Fastenleiterin.«

»Swenja Lieven.«

Sie schüttelten einander die Hände. »Legen Sie den Mantel ab, Frau Lieven, und kommen Sie herein.«

Swenja Lieven war eine elegante Frau in den Vierzigern, wie Paul schätzte. Er dachte an das Foto von Mathias Lieven, das Heimdahl ihm geschickt hatte, und für einen Moment sah er das Ehepaar Lieven vor sich stehen und dachte, dass die beiden perfekt zusammenpassten.

»Brauchen Sie mich noch?«, fragte Hoss an Paul gewandt.

Der verneinte, woraufhin Hoss das Zimmer Richtung Treppe verließ.

»Ich würde gerne bleiben«, sagte Yolanda, »ist das in Ordnung?«

»Natürlich«, erwiderte Paul.

»Ich mache uns einen Tee«, sagte Siri, nachdem alle Platz genommen hatten.

Swenja Lieven nickte, und Paul bemerkte ihre leicht geschwollenen Augen, als hätte sie vor Kurzem geweint. Er wandte sich ihr zu. »Sie haben mit der Polizei gesprochen?«

»In Lübeck, ja. Und dann habe ich hier noch mit Herrn Heimdahl gesprochen.« Swenja Lieven sah Paul an. »Und Sie waren es, der meinen Mann gefunden hat?«

Paul nickte. »Das ist richtig. Aber ich konnte leider nichts mehr für ihn tun.« Er rückte sich auf dem Stuhl zurecht und sah wieder Swenja Lieven an.

Siri kam an den Tisch zurück und stellte eine Kanne Tee und Tassen ab.

»Frau Lieven«, fuhr Paul fort, »würden Sie mir auch noch einmal erzählen, was Sie Herrn Heimdahl erzählt haben? Zum Beispiel, warum Ihr Mann diese Kur hier machen wollte?«

»Er brauchte eine Auszeit, hat er zu mir gesagt. Er hat sehr viel gearbeitet in den letzten Jahren, so wie ich auch. Ich weiß gar nicht mehr genau, wann wir das letzte Mal Urlaub gemacht haben.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Architektin, genau wie Mathias.«

»Haben Sie an denselben Projekten gearbeitet?«

Swenja Lieven schüttelte den Kopf. »Nein, ich entwerfe Einfamilienhäuser, unter anderem. Mathias war in letzter Zeit eher als Investor unterwegs.«

Paul dachte, dass sie auf das unliebsame Thema des Verkaufs des Hirschfängers zusteuerten, also warum nicht gleich danach fragen? »Wissen Sie etwas über die Projekte hier in der Nähe? In Havgart zum Beispiel?«

»Den Hirschfänger meinen Sie?«

Paul nickte. »Zum Beispiel, ja.«

»Der hatte es ihm besonders angetan. Mathias hatte immer schon eine Schwäche für diese muffigen, in die Jahre gekommenen Landgasthäuser. Er hat schon mehrere gekauft und modernisiert, sie praktisch zu neuem Leben erweckt.«

Paul richtete sich auf. Er fühlte sich berufen, den Hirschfänger zu verteidigen. Und er war verärgert, dass sich der Ruf als altbackenes Rentnerlokal immer noch hielt. »Der Hirschfänger ist nach gründlicher Überholung neu eröffnet worden, Frau Lieven. Nichts von dem alten Mief ist erhalten geblieben.«

»Ach? Aber trotzdem, aus irgendeinem Grund hat er sich dafür interessiert. Und ich glaube, da war noch jemand, hier aus der Gegend, der sich daran beteiligen wollte.«

Paul wurde hellhörig. »Wissen Sie, wer das war?«

Sie dachte nach. »Kann sein, dass er Namen genannt hat, aber ich weiß es nicht mehr. Mathias hat nur Andeutungen gemacht. Und das ist seltsam, denn wir haben uns immer über unsere Arbeit ausgetauscht. Mathias war …« Swenja Lieven hob die Schultern, und plötzlich schimmerte eine gewisse Zerbrechlichkeit durch. »Ich weiß nicht, er war anders als sonst, das ist mir ein paar Tage vor seiner Abreise aufgefallen. Irgendetwas hat ihn beschäftigt, aber es hatte nichts mit der Arbeit zu tun.« Sie sah wieder Paul an. »Da bin ich mir ganz sicher.«

Paul dachte darüber nach. Was hatte Mathias Lieven hier gewollt? Warum das Fasten und warum das Interesse am Hirschfänger? Ob das etwas mit den ehemaligen Betreibern zu tun hatte? Aber Hauke Liebe war längst tot, und Henny lebte in einem Heim für Demenzkranke. Vertreten wurden sie von dem Anwalt, der das Kündigungsschreiben verfasst hatte. Gab es eine Verbindung zu den alten Liebes?

»Kannte Ihr Mann die Besitzer des Hirschfängers?«, fragte Paul.

»Die Besitzer? Das weiß ich nicht, wem gehört der Laden denn?«

»Einer Henny Liebe, ihr Mann hieß Hauke Liebe, aber der ist im Februar letzten Jahres gestorben.«

Sie dachte einen Moment nach. »Nein, die Namen sagen mir nichts. Aber soweit ich weiß, hat er mit einem Anwalt zu tun gehabt und nicht mit den Besitzern selbst.«

»Hieß der Anwalt Gutmuth?«

Swenja Lieven dachte nach. »Kann sein … Ich glaube, den Namen hat Mathias ein paarmal erwähnt.«

Paul nickte langsam. Dann haben wir wenigstens in diesem Punkt Klarheit, dachte er. Er hatte Heimdahl das Foto des Schreibens von diesem Gutmuth geschickt, wusste jedoch nicht, ob der schon die Zeit gefunden hatte, den Anwalt zu kontaktieren. Aber es gab keinen Zweifel mehr: Mathias Lieven wollte den Hirschfänger kaufen. Und jetzt war er tot und verschwunden.

»War ihr Mann erfolgreich?«, fragte er unvermittelt. »Entschuldigen Sie die direkte Frage, aber wenn wir die Situation richtig einschätzen wollen, wäre es interessant zu wissen, wie seine Geschäfte liefen.«

»Er war äußerst erfolgreich, so viel kann ich Ihnen sagen.« Von Zerbrechlichkeit war bei der Frau nun nichts mehr zu spüren. Aufrecht saß sie da, und Paul bemerkte eine Härte um ihren Mund. »Sie wollen bestimmt auch wissen, ob er Feinde hatte. Herr Heimdahl hat auch danach gefragt.«

»Und?«, griff Paul die Bemerkung auf.

»Neider hatte er bestimmt. Es gab Kollegen, die verärgert waren, wenn Mathias ihnen ein Objekt vor der Nase weggeschnappt hatte. Er verfügt über ein weltweites Netzwerk, das er sich im Laufe der Jahre aufgebaut und von dem er profitiert hat. Deshalb kann er auch kurzfristig, quasi aus dem Stand, große Summen aufbringen. Aber Feinde?« Sie hob die Schultern.

Weltweites Netzwerk, dachte Paul. Und dann interessiert ihn der olle Hirschfänger? Das verstehe ich nicht. Laut sagte er: »Bei Geld hören Freundschaft oder Partnerschaft schnell auf.«

Swenja Lieven nickte. »Das stimmt wohl.« Dann wandte sie sich an Yolanda, die bisher schweigend am Tisch gesessen, aber aufmerksam zugehört hatte. An ihrem Gesichtsausdruck konnte Paul ablesen, dass sie sehr mit Mathias Lievens Frau mitfühlte. »Hat er Ihnen denn nichts erzählt?« Swenjas Blick ging zwischen Yolanda und Siri hin und her.

Beide richteten sich auf.

»Nein, leider«, sagte Yolanda dann. »Wir haben uns natürlich unterhalten, über die Kur, unsere Ess- und Lebensgewohnheiten und so weiter.« Sie hielt einen Moment inne. »Er wollte ›ein paar Recherchen anstellen‹, so hat er es ausgedrückt. Und dafür bräuchte er einen klaren Kopf. Deshalb ist er aufs Fasten gekommen.«

Swenja Lieven hatte stirnrunzelnd zugehört, schwieg aber. Von oben ertönte das Klappen einer Tür, kurz darauf kam Hoss die Treppe herunter.

»Entschuldigung, aber ich musste mich kurz frisch machen.« Er ging in die Küche, holte sich eine Tasse und setzte sich an den Tisch.

»Hat Mathias Ihnen etwas erzählt?«, fragte Paul. »Warum er fasten wollte oder warum er sich für den Hirschfänger in Havgart interessiert hat?«

»Ich glaube, er wollte etwas Grundlegendes in seinem Leben ändern«, sagte Hoss.

Swenja Lieven hob den Blick und sah Hoss fragend an.

»Er hat das nicht so gesagt wie ich gerade, aber ich hatte den Eindruck, er meinte es so.« Hoss hielt die Tasse in beiden Händen, als wollte er sich wärmen, sein Gesicht verriet, dass er versuchte zu deuten, was Mathias gesagt hatte. »Er wirkte wie jemand auf dem Sprung.«

»Was meinen Sie damit«, fragte Swenja Lieven.

Hoss richtete den Blick auf sie. »Kann ich schwer sagen, aber das war mein Eindruck.«

Yolanda nickte. »Wollten Sie vielleicht umziehen?«

Eine Unsicherheit legte sich auf das Gesicht der Frau, die bis eben noch recht selbstbewusst gewirkt hatte. »Nein, im Gegenteil. Mathias war so gut im Geschäft wie nie.«

»Menschen teilen sich auch mit, indem sie etwas nicht sagen«, sagte Yolanda. »Und Mathias hatte definitiv vor, etwas Neues zu beginnen. Diesen Eindruck hatte auch ich, und damit meinte er nicht nur seine Essgewohnheiten.«

Eine Weile herrschte Schweigen, und Paul dachte, dass sie erst einmal nicht weiterkommen würden.

»Haben Sie Kinder, Frau Lieven?«, wollte Paul noch wissen, bevor er die Befragung beendete.

»Ja, drei. Die beiden Älteren sind schon aus dem Haus, die Jüngste ist sechzehn und wohnt noch bei uns.«

»Und die Eltern von Ihrem Mann, was ist mit denen?«

»Seine Mutter lebt noch. Sie wohnt in einem Seniorenheim hier in der Nähe. Sie ist schon etwas verwirrt.«

»Haben Ihr Mann oder Sie Kontakt zu ihr?«

»Oh ja, Mathias liebt sie sehr, wir sind auch regelmäßig da.«

»Wie heißt das Heim?«

»Es ist das Friedland, in Großenbrode. Es liegt am Kurpark, in der Nähe des Südstrands.«

Paul nickte, er kannte das Haus. Es war aufgrund enormer Asbestbelastung in die Schlagzeilen geraten und dann saniert worden.

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Paul. »Bleiben Sie in Heiligenhafen?«

Sie nickte. »Zumindest ein oder zwei Nächte. Ich schaue jetzt nach einem Zimmer.«

Aus Swenja Lievens Handtasche, die sie auf dem Boden abgestellt hatte, ertönte ein »Ping«. Sie bückte sich, zog ihr Smartphone heraus und erstarrte beim Blick auf das Display. »Das ist Mathias«, sagte sie, und Paul sah, dass sie blass wurde. Sie öffnete die Nachricht und las vor: »›Sorry für die Sorgen, die ich dir bereite, aber es geht nicht anders. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich wieder, M.‹« Sie blickte auf, Tränen stiegen ihr in die Augen.

Paul griff sofort nach dem Smartphone und las die Nachricht ebenfalls. »Haben Sie Herrn Heimdahl die Handynummer Ihres Mannes gegeben?«

Swenja Lieven nickte. »Ja, er hat sie aufgeschrieben.«

Paul stand auf, fischte nach seinem eigenen Smartphone und rief Heimdahl an. Während der Ruf sich aufbaute, öffnete er die Terrassentür und ging nach draußen. »Martin, gerade ist eine WhatsApp von Mathias Lieven bei seiner Frau eingegangen. Könnt ihr versuchen, den Standort rauszufinden? Sie sagt, ihr habt die Nummer.«

»Ja, haben wir. Was hat er geschrieben?«

»Dass sie sich keine Sorgen machen soll, er würde sich wieder melden.«

»Ich bin unterwegs, ich sag den Kollegen Bescheid, die kümmern sich drum.« Paul hörte, dass Heimdahl aufgelegt hatte, um keine Zeit zu verlieren. Er ging wieder rein und schloss die Tür. »Die Kollegen versuchen, das Telefon zu orten.«

Swenja Lieven sah auf, sie wischte sich Tränen von der Wange. »Das passt alles überhaupt nicht zu Mathias.«

»Sie sollten antworten, um zu sehen, was passiert.« Paul legte ihr Smartphone auf den Tisch zurück und setzte sich. »Fragen Sie ihn, wo er steckt und warum er abgereist ist.«

Sie tippte die Nachricht ein und versendete sie.

Dann saßen sie da und warteten. Und tatsächlich kam auch gleich die Antwort.

Bald, Liebes, bald Smiley

»Klingt das nach Ihrem Mann?«

»Ja, manchmal hat er ›Liebes‹ zu mir gesagt.«

»Hat er Sie auch in Nachrichten so genannt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Kann sein.« Dann scrollte sie durch die Nachrichten, bis sie eine fand, die sie Paul zeigte.

Tut mir leid, Liebes, schaffe es nicht zum Essen, bis später Smiley

Paul sah, dass neue Tränen die Wangen herabliefen. Er sah zu Siri und nickte ihr unmerklich zu, dann stand er auf und ging wieder auf die Terrasse. In diesem Moment sah er, dass ein Anruf von Heimdahl einging.

»Das Smartphone von Mathias Lieven ist in Heiligenhafen, Parkplatz Steinwarder.«

»Da ist doch sein Wagen geparkt.«

»Ja. Tenning und Blume sind gleich da, um zu gucken, ob Lieven dort ist oder wer sich da Verdächtiges rumtreibt.«

»Lieven bestimmt nicht«, sagte Paul.

»Ist seine Frau noch bei euch?«

»Ja, Siri kümmert sich gerade um sie. Sie ist total fertig.«

»Konntest du mit ihr reden? Ist ihr noch irgendwas eingefallen?«

»Nein, nichts, was uns vielleicht weiterbringt.« Paul hörte Stimmen, und Heimdahl klang plötzlich gehetzt. »Ich habe gerade auf eBay noch ein paar Sandsäcke gefunden, in Lübeck. Du erinnerst dich vielleicht, dass irgendwelche Arschlöcher alle meine Säcke kurz vor dem letzten Hochwasser geklaut haben? Aber die Kollegen sind weiter an der Ortung, falls das Smartphone noch eingeschaltet ist. Ich melde mich.«

Paul beendete das Gespräch und blickte ins Haus. Hoss und Yolanda waren nicht mehr da. Siri saß neben Swenja, sie hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und redete beruhigend auf sie ein. Gott sei Dank, dachte er. Siri war genau die Richtige. Sie würde der armen Frau Trost und Hilfe sein. Viel besser, als ich das kann. Ich bin nur der Überbringer der schlechten Nachricht, nämlich, dass Mathias Lieven mit Sicherheit tot ist. Und dass er definitiv keine WhatsApp mehr schreiben kann.

***

Paul lag auf dem Bett in Zimmer Nummer zwei und starrte an die Decke. Genau so hatte Mathias Lieven hier gelegen, dachte er. Hatte an dieselbe Decke gestarrt und sich vermutlich ähnliche Gedanken gemacht wie er gerade. Keine feste Nahrung mehr, kein Kauen, nur Trinken. Er schloss die Augen. Auf was lasse ich mich eigentlich da ein? Was, wenn mein Körper anders reagiert, als Siri Lundell es beschrieben hat? Was, wenn mein Kreislauf versagt, ich ohnmächtig werde oder das Herz einfach stehen bleibt?

Er erinnerte sich wieder an Siris Worte: »Der Körper gibt beim Fasten nur das ab, was er nicht braucht und was ihn belastet. Du brauchst also keine Angst zu haben, dass wichtige Organe leiden könnten. Im Gegenteil. Dein Körper findet jetzt Zeit, aufzuräumen und sich auf sich selbst zu besinnen.«

Körper aufräumen … Zimmer aufräumen. Er musste wirklich einmal das Zimmer bei Heimdahl ausmisten. Dann würde es ihm auch seelisch besser gehen. Hing das nicht alles zusammen? Mein Körper und ich. Ich muss mich auch auf mich selbst besinnen. Obwohl er sich immer noch in seinem verlängerten Sabbatical befand, war er im Grunde noch nicht dazu gekommen. Wo waren die ganzen Monate geblieben, die er zwischen seiner Hamburger Wohnung und dem Zimmer in der Strandvilla am Graswarder gependelt war?

Paul schloss die Augen. Siris Gesicht tauchte auf, wie sie ihn angelächelt hatte, als er ihr gesagt hatte, dass er sich ihrer Gruppe anschließen wolle. Es lag an ihm – wenn er den Einstieg ins Fasten schaffte, würde er sie jeden Tag sehen. Dieser Gedanke machte ihm Mut. Aber auch, dass die anderen ihm das Du angeboten und ihn somit in ihren Kreis aufgenommen hatten.

Paul hatte überlegt, zwischendurch in den Hirschfänger zu fahren, um dort zu arbeiten. Aber diese Möglichkeit hatte er sofort wieder verworfen, aus Sorge, er könnte schwach werden und etwas essen. Also hatte er Frau Marten angerufen und sie gefragt, ob sie ihn für ein paar Tage vertreten könne. Sie hatte zugesagt.

Er dachte wieder an Mathias Lieven und stellte sich vor, wie er hier auf dem Bett gelegen und nachgedacht hatte. Über etwas, das weitreichende Folgen haben würde. Aber der Kauf einer alten Landkneipe allein konnte einem Profi wie Lieven nicht so zugesetzt haben, dass er sich von allem zurückzog, um über sein Leben nachzudenken. Da war was anderes, das er losgetreten hatte. Und das musste Paul herausfinden. Aber im Moment machte ihm das Loch in seinem Magen zu schaffen. Er richtete sich auf. Wie konnte man durch Hungern einen klaren Kopf bekommen, wenn man ständig an ein Käsebrot denken musste?

Paul traf Martin Heimdahl am Strand vor dessen Villa. Er hatte die ausziehbare Leiter aufgestellt und war dabei, die Fenster im ersten Stock zu inspizieren. Paul war einmal dabei gewesen, als das Hochwasser bis ans Haus herangekommen und die Gischt bis an die oberen Fenster gespritzt war. Er erinnerte sich, dass er sich gefühlt hatte wie in einem Meerwasseraquarium, während die Wellen gegen das Küchenfenster geklatscht waren.

»Und? Wie sieht es aus?«, rief er Heimdahl zu.

»Verheerend.«

»Echt? Kann ich irgendwas tun?«

»Aufräumen vielleicht?«

Paul seufzte auf, als ihm klar wurde, dass Heimdahl gerade in das Fenster des Gästezimmers schaute, das er so zugemüllt hatte. »Das wollte ich gerade machen«, rief er nach oben.

»Die Fenster sind noch gut.« Heimdahl stieg die Leiter wieder herunter.

Paul erinnerte sich, dass sie erst im letzten Herbst die Fenster im Erdgeschoss gestrichen hatten. Und auch die seezugewandte Seite des Hauses hatte einen neuen Anstrich bekommen. Aber Wind und Wetter, vor allem die salzhaltige feuchte Luft, setzten den Strandvillen zu, sodass sie regelmäßig prüfen mussten, ob ein neuer Anstrich fällig war.

»Hast du noch Sandsäcke ergattert?«, fragte Paul, als Heimdahl wieder unten stand.

»In Lübeck gab’s noch welche, hab Glück gehabt.« Er schaute an der Fassade hoch. »Die Holzluken oben an deinem Fenster sind nicht richtig fest, daher das Klappern.«

Paul sah ebenfalls hoch. »Okay, ich kümmere mich drum.«

Heimdahl ging weiter, fuhr mit dem Fuß über den Sand und zog ein paar Strandrosen heraus. Paul lehnte sich an die Hauswand und spähte zum Haus der Stille hinüber. Dort sah er Oliver Hendricks vor dem Haus stehen und die Fassade inspizieren.

Paul ließ den Blick an der Wasserkante entlangwandern, und plötzlich sah er wieder diese unscharfen Bilder, aber dieses Mal wie ein Traum oder wie ein Beobachter. Er sah, wie ein betrunkener Mann in Jeans und T-Shirt ein lebloses Bündel aus dem Wasser fischte. Er sah zu, unbeteiligt, stand an der Wasserkante und bemerkte, wie der Saum seiner Jeans von den seichten Wellen erfasst wurde, die gemächlich angeschlichen kamen und sich langsam wieder zurückzogen. Im Traum sah er dann an sich herunter, die nackten Füße auf den Algen. Und dann kam eine Erinnerung wieder, die er nicht geträumt hatte, aber an die er ständig denken musste: Warum war der Saum seiner Jeans vor der Bergung des Toten nass und sandig gewesen?

Heimdahl hatte gesagt, dass sie vorher am Strand allerhand Unfug angestellt hatten. Aber warum glaubte er selbst noch immer, dass er mit diesem Lieven geredet hatte?

Paul wandte sich ab, lief die schräge Steinmole hinunter und betrachtete das Haus. Das letzte Hochwasser hatte dem Strand arg zugesetzt, aber die Buhnen vor den Villen hatten einen Teil des Sandes gehalten. Er tat es Heimdahl nach und zog ein paar Strandrosen aus dem Sand. Immer wieder wurden sie von Touristen angesprochen, warum sie diese schönen Pflanzen entfernten, denn für die gehörten sie zum typischen Bild eines Ostseestrandes. Und sowohl er als auch die anderen Villenbewohner erklärten dann geduldig, dass sie stattdessen Strandhafer pflanzten, weil dieser tiefer wurzelte und somit den Dünen mehr Schutz bot.

Paul war in seine Arbeit vertieft, als Heimdahl sich ihm näherte. »Laut Vorhersage nähert sich das Tief von Nordwest, schöne Scheiße.«

»Okay, dann an die Arbeit«, sagte Paul, »ich schaue mir die Luken oben an.«

Heimdahl betrachtete ihn, dann grinste er. »Machst du das jetzt wirklich, das Fasten? Hat sie dich rumgekriegt?«

»Du hast mich rumgekriegt. ›Tu es für mich. Bring Licht in den Fall. Ich flehe dich an!‹ Schon vergessen?« Paul winkte ab. »Spaß beiseite. Nach dieser Nacht war mir klar, dass es so nicht weitergehen kann. Wir haben maßlos übertrieben, und so etwas darf einfach nicht passieren, verdammt. Ich hatte den totalen Filmriss, so was kann böse enden.«

Heimdahl nickte. »Jaja, du hast ja recht. Ich rechne dir das auch hoch an.«

»Ich tu es für uns beide. Ich muss versuchen, die Ereignisse dieser Nacht auf die Reihe zu kriegen. Und ich muss endlich wissen, was ich überhaupt will. Vielleicht schaffe ich es, wieder klarzusehen.«

Heimdahl klopfte Paul auf die Schulter, dann rieb er sich die Hände. »Ich mache das mit den Luken, nachher fällst du mir aufgrund von Kreislaufschwäche noch vom Dach.«

Beide sahen nun zum Haus der Stille hinüber, wo Oliver Hendricks und ein anderer Mann große Platten an der Hauswand abstellten. Gerade reichte Oliver dem Mann etwas, der dann um die Hausecke verschwand. Oliver sah zu ihnen herüber und machte sich auf den Weg zu ihnen.

»Hey«, rief Heimdahl ihm zu. »Sind die Platten für die Türen?«

Oliver winkte ihnen zu. »Hallo, ja, zweimal ist mir jetzt das Wohnzimmer vollgelaufen, wie du vielleicht weißt.«

Heimdahl nickte. »Klar weiß ich das noch. War ein totales Chaos.«

»Ich muss nur noch die Schienen rechts und links der Tür festmachen und ein Gummi als Abschlusskante besorgen.«

»Wäre das nicht auch was für dich?«, sagte Paul an Heimdahl gewandt.

»Bisher geht es eigentlich«, entgegnete Heimdahl. »Habe erst vor ein paar Jahren wasserdichte Türen und Fenster eingebaut. Später vielleicht, mal sehen.«

Oliver wandte sich an Paul. »Und du bist jetzt ebenfalls ein Kurgast, habe ich von Siri gehört?«

Paul nickte. »Ich probiere es zumindest, keine Ahnung, ob ich das durchhalte. Ich darf nur nicht an Martins gegrillten Fisch denken, dann könnte ich rückfällig werden.«

»Die ersten drei Tage sind wohl die schlimmsten, sagt Siri zumindest. Ich selbst habe es noch nie ausprobiert.« Oliver grinste. »Aber bei so netter Betreuung hätte ich schon mal Lust, mich darauf einzulassen.«

Nette Betreuung, dachte Paul, hatte der ein Auge auf Siri geworfen? Dieses Grinsen sprach zumindest dafür. Er seufzte. Themenwechsel, dachte er. »Was ist mit Swenja Lieven, ist sie noch da?«

»Nein, sie hat sich ein Zimmer am Hafen genommen, im Meereszeiten. Ich habe die ganze Geschichte immer noch nicht begriffen«, sagte Oliver Hendricks und sah Paul an. »Du warst es also, der den Mann gerettet hat?«

Paul nickte. »›Gerettet‹ ist gut. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.«

»Kanntest du den Mann denn?« Heimdahl sah Oliver Hendricks an.

»Flüchtig, ich habe ihn gesehen, einmal hier draußen, beim Tai-Chi am Strand. Aber ich habe nicht mit ihm geredet. Und seine Frau tut mir echt leid. Es ist schrecklich, wenn man keine Gewissheit hat. Und ein angeblich Toter, der dann verschwindet, das ist wirklich verstörend.« Er sah Paul an. »Aber du hast ja nun seinen Platz eingenommen.« Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Und dann die verrückte Geschichte mit unseren Vätern, die sich nach einer Ewigkeit wiedergetroffen haben.«

Paul lachte. »Oh ja, Johann – oder Johnny – ist ganz aus dem Häuschen. Sie wollen zusammen Musik machen.«

Oliver lachte ebenfalls. »Ich weiß, in eurem Laden, im Hirschfänger. Ich finde das einfach großartig. Seit Jim deinen Vater getroffen hat, ist er wie ausgewechselt, ich erkenne ihn kaum wieder.«

»Geht Johann auch so«, sagte Paul. »Die Erinnerungen an die alten Zeiten tun ihm gut. Wusstest du, dass die beiden zusammen beim Love and Peace Festival auf Fehmarn aufgetreten sind?«

»Klar, ich glaube, das war der Höhepunkt im Leben meines Vaters.« Er lachte kurz. »So chaotisch es war, so sehr hat er davon gezehrt, glaube ich. Wisst ihr schon, wann die beiden auftreten wollen? Das will ich mir natürlich nicht entgehen lassen.«

»Keine Ahnung. Ich sage dir Bescheid, wenn ich mehr weiß.«

»Super, würde mich freuen.« Oliver Hendricks deutete mit der rechten Hand hinter sich, »dann mache ich mal weiter.«

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Paul. »Ich bin nachher auch wieder im Haus der Stille.«

»Nein, erst mal nicht. Ich montiere die Platten erst, wenn es ernst wird. Ich will euch nicht jetzt schon einsperren.« Lachend wandte er sich ab und ging davon.

Heimdahl stand mit verschränkten Armen am Strand und sah auf sein Haus. »Eine schöne Wohnung mit Dachterrasse. Weit weg vom Strand. Nie mehr im kniehohen Wasser am Herd stehen. Ruhig schlafen und das Klappern der Holzluken gemütlich finden.« Er sah Paul an. »Deine Wohnung in Hamburg, darum beneide ich dich.«

Paul verzog das Gesicht. »Du wohnst in einer der teuersten Immobilien der westlichen Hemisphäre. Eine Anzeige bei Immobilienscout, und du könntest dir fünf Eigentumswohnungen in Hamburg an der Elbchaussee kaufen.«

»Wie oft war ich schon kurz davor? Aber ich bring es einfach nicht übers Herz.«

»Komm, hör auf zu jammern.« Paul legte den Arm auf Heimdahls Schulter. »Ich räume jetzt mein Zimmer auf, und dann mache ich die Luken fest.«