ACHT

Paul war durchs ganze Haus gegangen. Alle Fenster zu? Eingangstür abgeschlossen? Allerdings war es eine Tür mit einer einfachen Glasscheibe, sie würde nicht das geringste Hindernis darstellen, wenn jemand ins Haus wollte. Vor allem nicht, wenn ein Unwetter wütete. Eine berstende Glasscheibe würde er nur hören können, wenn er in der Küche schlief. Sowohl er selbst als auch Johann hatten sich nie Gedanken darüber gemacht. Schließlich hatten sich beide bisher in Havgart sicher gefühlt.

Für Baptiste hatte Paul das Katzenklo aufgestellt und die Katzenklappe verriegelt. Er wollte nicht, dass das Tier diese Nacht draußen verbrachte.

Johann war sofort ins Bett gegangen, angetrunken, wie er war. Vor lauter Aufregung hatte er den ganzen Tag keinen Bissen hinunterbekommen und dann das Bier in seinen leeren Magen gekippt. Zwar hatte er es noch geschafft, ein paar Brote zu essen, doch dann war er die Treppe hochgeschlichen und in seinem Zimmer verschwunden.

Paul war einerseits müde, andererseits meldete sich ein quälender Hunger. War dies die gefürchtete Fastenflaute, von der alle ständig redeten? Auch schmerzte sein Kopf ein wenig, besonders an der Stelle, an der ihn der Schlag getroffen hatte. Zeit, ins Bett zu gehen, dachte er, ich muss schlafen, mich ausruhen. Doch er spürte eine Unruhe, die immer stärker wurde.

Er saß neben dem Kater auf der Ofenbank, lauschte dem Wind und dachte an ein halbes Hähnchen aus dem Grillwagen, knusprige überwürzte Haut und so lange über dem Feuer, dass es von allein auseinanderfiel. Eine Portion belgische Pommes dazu. Ständig schielte er zum Kühlschrank, er wusste, was alles darin war. Niemals hätte er gedacht, dass er einmal so große Sehnsucht nach einem Salamibrot haben würde. Mit einem Seufzer stand er auf und setzte Teewasser auf. Eigentlich konnte er das Zeug nicht mehr sehen. Aber er musste sich jetzt zusammenreißen, wollte durchhalten. Er würde jetzt nichts essen, nein, nein, nein, auf gar keinen Fall!

Er stellte sich ans Küchenfenster und blickte hinunter zu der Laterne, die in dem Wendehammer stand. Der Wind langte in die Äste der mächtigen Platane neben dem Löschwasserteich, sodass es aussah, als würde sie wild gestikulieren, ihn vor irgendetwas warnen wollen. Alles war in Bewegung da draußen, die Apfelbäume in Johanns Garten bogen sich, selbst die Sanddornhecke zitterte, als fröstelte sie. Die Geräusche des Windes am Haus waren musikalisch und bedrohlich zugleich. In der Wetter-App hatte er gelesen, dass der Sturm Spitzengeschwindigkeiten von einhundertzwanzig Stundenkilometern erreichen könnte. Und er hatte jetzt schon die Energie, Schornsteine umzuwerfen.

Ihm wurde mulmig bei dem Gedanken, dass Lilli jetzt am Graswarder war, ohne ihn. Aber sie war doch bei Heimdahl, der würde ohnehin kein Auge zumachen in dieser Nacht. Das Wasser hatte längst gekocht, aber Paul hatte keine Lust auf Tee und trank nur das heiße Wasser. Plötzlich knallte etwas ans Fenster, und er fuhr zusammen. Auch Baptiste war hochgeschreckt und stand mit gesträubtem Fell und erhobenem Schwanz auf der Ofenbank, die Lauscher auf Empfang gestellt.

»Du benimmst dich doch sonst auch immer wie ein Hund«, sagte Paul zum Kater und dachte daran, wie Baptiste Johann immer auf seinen täglichen Spaziergängen die Küste entlang begleitete. »Warum kannst du dich dann nicht auch wie ein Wachkater benehmen und anschlagen, wenn da draußen jemand ist?«

Paul schaltete die Lampe aus, dann schaute er wieder aus dem Fenster. Es war bereits nach Mitternacht, trotzdem lag ein oranger Schein über dem Himmel, als würde es irgendwo brennen. Dieses seltsame Licht verstärkte Pauls Unruhe noch mehr. Er dachte an ein Inferno, an nahendes Unheil. Etwas, das wie eine Plastikfolie aussah, segelte unten an der Laterne vorbei und erinnerte ihn an eine riesige Ohrenqualle. Er fragte sich, ob gerade ein Ast ans Fenster geknallt war. Immerhin war die Scheibe ganz geblieben. Es gab an diesem Haus weder Luken noch Rollladen; sobald er Zeit hatte, würde er sich darum kümmern, egal, ob Johann damit einverstanden war oder nicht. Rollladen, Rouladen, gefüllt mit Speck, Gurke oder anderem Gemüse. Johann war ein Meister darin, auch sie standen auf der Speisekarte des Hirschfängers. Der Hunger verstärkte sich so sehr, dass es Paul körperliche Schmerzen bereitete.

»Oh, Verlangen, weiche von mir«, murmelte er und füllte erneut die Tasse mit Wasser.

Wieder ließ er den Blick durch den Garten und runter zur Dorfstraße wandern, die ein wenig von dem Licht der Straßenlaterne abbekamen, und da sah er ihn wieder. Dieser Schatten war wieder da. Genau an derselben Stelle wie Samstagabend, als er mit Lilli hier gewesen war. Paul beugte sich nach vorn und kniff die Augen zusammen. War dies nur eine Täuschung? Kam das vom Fasten? Oder wollte sein Innerstes, dass da jemand war? Jemand Unbekanntes, jemand, dem sie alle unerklärlichen Dinge zuschieben konnten, die hier geschahen? Der Todesengel vom Graswarder? Die Gestalt bewegte sich. Nein, die war echt!

»Es reicht!« Er spürte, wie Wut in ihm hochstieg. Wut über dieses Arschloch, das seine Spielchen mit ihnen trieb. Wut über sich selbst, da er keine Ahnung hatte, wer und warum. Er stürzte zur Tür und rannte hinaus, stoppte abrupt, lief wieder zurück, holte den Schüssel und schloss von außen ab. Es konnten ja auch mehrere sein. Dann lief er den Garten hinunter, sprang über das Gartentor und lief zu der Platane, doch da war niemand mehr, natürlich.

Der Wind traktierte Pauls Haare, als würde er sie ausreißen wollen, während Paul sich immer wieder um die eigene Achse drehte. Er suchte nach einer Stelle, wo der Unbekannte hätte Schutz finden können, aber im Grunde kam alles hier unten in Frage. Er könnte auf Hinrichs Hof sein, er könnte den Feldweg entlanggelaufen sein und hinter einem der Büsche dort hocken. Paul lief auf das kleine ehemalige Bedienstetenhäuschen zu, das an Johanns Garten angrenzte, umrundete es einmal und rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Auch die Fenster waren alle zu.

Um aus Havgart rauszukommen, gab es nur die Dorfstraße. Es sei denn, er würde den Feldweg zum Wald nehmen. Aber dort war es stockfinster. Und eine Taschenlampe würde ihn sofort verraten. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und die Tropfen stachen wie hauchdünne Nadeln in sein Gesicht. Er wandte sich ab und lief zurück ins Haus.

Frustriert, den Kopf gesenkt, um sich vor den Attacken von Regen und Wind zu schützen, stieg er die Verandatreppe hinauf. Und da sah er Baptiste, der ihm entgegenkam. Sein klägliches Miauen war so laut, dass Paul es trotz des Getöses hören konnte. Sofort schrillten sämtliche Alarmglocken in seinem Hirn. Er bückte sich, nahm den Kater in den Arm. »Ruhig, mein Kleiner«, raunte er ihm zu, während er sich umsah. Dann drückte er die Klinke der Tür hinunter, die Tür war unverschlossen. Er dachte einen Moment nach. Er hatte die Tür gerade eben abgeschlossen, ganz sicher. Hier war jemand zugange, der einen Schlüssel hatte. Und das konnte doch nur Johann gewesen sein. Oder Lilli. Aber es war kein Auto draußen. Er trat ein, schloss die Tür wieder und schaltete das Licht ein.

»Johann?« Er lauschte, aber der Wind war so laut, dass er sowieso nichts hören konnte. Dann setzte er den verstörten Kater auf der Ofenbank ab, wo er stocksteif stehen blieb. Und dann sah Paul es. Die nasse Fußspur zog sich von der Eingangstür durch die Küche bis in den Flur.

Jemand war im Haus.

Einen Moment lang stand er unbeweglich da. Instinktiv griff er sich an die Hüfte, wo früher das Holster mit der Dienstwaffe gesessen hatte. Er schloss kurz die Augen, dann schlich er zur Anrichte und nahm das große Kochmesser, das auf dem Schneidebrett lag.

Langsam öffnete er die Tür zum Flur und lauschte mit angehaltenem Atem, doch der Sturm übertönte alles. Er stieß die Luft aus der Lunge, das tat er immer, wenn er sich auf etwas vorbereitete, das er nur schwer einschätzen konnte.

Er machte das Licht im Flur an, auf keinen Fall würde er hier im Dunkeln herumschleichen. Ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, dieses Mal schaute er auch hinter die Tür. Verdammt, es gab so viele mögliche Verstecke hier! Zum Beispiel den Keller. Doch er stieg jetzt langsam die Treppe empor, er musste nach seinem Vater schauen. Nicht auszudenken, wenn Johann etwas zugestoßen war. Eine winzige Hoffnung flackerte auf, dass Johann selbst draußen gewesen war. Vielleicht wollte er nachsehen, wo Paul sich herumtrieb. Oder prüfen, ob am Haus oder am Schuppen alles in Ordnung war.

Oben angekommen, schaute er kurz in die Kammer, in der er oder Lilli schliefen, wenn sie hier zu Besuch waren. Dann sah er in Johanns Schlafzimmer, und das Schnarchen seines Vaters verriet ihm, dass alles in Ordnung war. Aber auch, dass es nicht Johann gewesen sein konnte, der draußen herumgeschlichen war. Er umfasste das Messer noch fester und ging wieder hinunter. Auf halber Treppe blieb er stehen, die Geräusche des Sturms waren auf einmal so wie draußen.

Die Haustür!

Er sprang die Treppe hinunter, stürzte in die Küche und erkannte, dass die Tür zur Veranda offen stand. Gerade sah er jemanden unten am Bedienstetenhäuschen um die Ecke verschwinden.

Wieder rannte er durch den Garten auf die Dorfstraße hinaus. Es fiel ihm schwer, bei dem starken Wind und dem noch heftiger gewordenen Regen die Augen offen zu halten. Der Wind kam aus Nordwest, und genau in diese Richtung war der Eindringling gelaufen. Paul blieb stehen, versuchte, sich mit dem angewinkelten Arm vor dem Wind zu schützen, doch vergebens, er konnte beim besten Willen nichts sehen.

Er gab auf.

Ein zweites Mal lief er unverrichteter Dinge ins Haus zurück und fühlte sich erbärmlich. Er hatte versagt, auf ganzer Linie. Aber wie sollte man auch reagieren und handeln, wenn man nicht die geringste Ahnung hatte, worum es hier ging? Was hatte dieser Jemand hier gesucht? Zweimal war er hier gewesen, einmal hatte er Paul niedergeschlagen, und jetzt war er getürmt. War er fündig geworden?

Paul beschloss, Johann zu wecken. Sie mussten das Haus absuchen und herausfinden, ob etwas fehlte. Und dann würde er Heimdahl anrufen, der würde sowieso nicht schlafen.

***

Martin Heimdahl hatte die restlichen Sandsäcke vor die Terrassentür gepackt. Dieses Mal hatte er bis zur letzten Minute gewartet, damit die Säcke nicht wieder geklaut wurden. Die wasserdichten Türen hatten sich bei der letzten Sturmflut bewährt, aber sicher war sicher. Ein letzter Blick nach draußen. Die See hatte jetzt die Oberhand, der Strand war verschwunden, und es würde nicht mehr lange dauern, bis das Wasser das Haus erreichte. Er schloss die Luken und anschließend die Türen. Dabei setzte er ein Stoßgebet ab, dass Gott auch dieses Mal seine schützende Hand über das Haus halten möge. Wie jedes Mal bei Hochwasser.

In diesem Moment verstärkte sich das Tosen von Wind und Wasser noch mehr, als wollten die Mächte da draußen klarstellen, dass sie jetzt nichts mehr aufhalten könne. Beten zwecklos, dieses Mal kriegen wir euch. Heimdahl konnte die See und den Sturm nicht mehr auseinanderhalten, es war ein einziges Wüten, das direkt aus der Hölle zu kommen schien.

Da waren sie wieder, jene Momente, in denen Martin Heimdahl das Leben am Strand verfluchte. Er verfluchte das Erbe, das er angetreten hatte. Er verfluchte die Bürden, die ihm dadurch auferlegt wurden. Die nicht enden wollende Arbeit, das Geld, das dieses Haus verschlang, all die Sorgen und, wie gerade jetzt, die nackte Angst.

Wie schon so oft zuvor bei einer Sturmflut dachte er, dass er gerne auf die schönen Tage, die er hier verbracht hatte, verzichten könnte. Jedes Mal kostete es ihn mehr Kraft und Nerven und mehr Überwindung, nicht einfach die Haustür zuzuziehen und das verteufelte Haus seinem Schicksal zu überlassen. Aber er musste auch an Bente denken. Seine Mutter wie auch schon deren Eltern waren hier aufgewachsen, hatten ihre Leben hier verbracht. Bente liebte das Haus. Und Heimdahl liebte seine Mutter. Er würde es nicht übers Herz bringen, alles aufzugeben. Er war es ihr schuldig.

»Vielleicht finde ich deshalb keine Frau, weil keine in einem Haus leben möchte, das eines Tages von der See verschlungen wird«, hatte er letztens noch zu Paul gesagt.

»Ich denke, du findest deshalb keine Frau, weil du nie Zeit hast und immer nur arbeitest«, hatte Paul erwidert.

»Genau, weil ich immer an der Strandvilla werkeln muss.«

Heimdahl machte sich zur Kontrollrunde durchs Haus auf. Fenster prüfen, Terrassentüren, waren alle Luken geschlossen? Er stieg die Treppe hinauf, er wollte auch nach Lilli schauen, die sich ins Gästezimmer zurückgezogen hatte, aber bestimmt nicht schlafen konnte. Er sah einen Lichtschein unter der Tür, als er oben angekommen war, und klopfte an.

»Komm rein«, hörte er Lillis Stimme.

»Geht’s dir gut?« Heimdahl trat ein und sah Lilli an, die in ihrem Bett saß, das Smartphone vor ihrer Nase.

»Ich kann nicht schlafen.«

»Natürlich nicht. Stell dich auf eine lange Nacht ein, Lilli. Aber so schlimm wird’s schon nicht werden«, versuchte Heimdahl, ihr Mut zu machen. »Das Haus hat bisher jeden Sturm überstanden.« Von den diversen Wassereinbrüchen erzählte er ihr besser nichts.

»Das will ich hoffen.« Lilli schaute wieder auf ihr Handy. »Papa hat gerade geschrieben, er kann dich nicht erreichen. Du sollst mal zurückrufen.«

»Und was er will, hat er nicht geschrieben?«

»Nee, vielleicht will er wissen, wie es mir geht. Er denkt bestimmt, ich wäre so wie er und würde nicht ehrlich antworten, damit ich ihm keine Sorgen bereite.« Lilli musste grinsen. »Kannst ihm sagen, dass es mir wirklich gut geht. Außer, dass ich vor Angst nicht schlafen kann.«

Heimdahl lachte. »Genau so werde ich es weiterleiten.« Er wandte sich wieder ab. »Komm runter, wenn du willst. Da ist es nicht so laut wie hier unterm Dach«, rief er ihr noch zu.

Unten angekommen, sah er sofort auf seinem Smartphone nach, zwei Anrufe von Paul waren eingegangen und eine Nachricht:

Das ist jetzt kein Quatsch, es war wieder jemand im Haus. Er ist mir entwischt. Wir gucken gerade, ob was fehlt. Was macht Lilli? Geht’s euch gut? Sag ihr nichts von dem Einbruch.

Heimdahl musste die Nachricht zweimal lesen. »Das gibt’s doch nicht«, murmelte er und wählte Pauls Nummer. Er ließ es lange klingeln, doch Paul meldete sich nicht. Dann schickte er eine Nachricht, in der er fragte, ob sonst alles okay sei, er würde auf keinen Fall jetzt rauskommen. Obwohl Heimdahl wusste, dass Paul das auch nicht erwartete.

Mehrere kräftige Böen prügelten auf die Seeseite des Hauses ein, und Heimdahl drückte die Augen zu.

»Gütiger Gott«, rief er, »lass uns nicht im Stich!«

Genau in diesem Moment knallte ein so lauter Donner über dem Haus, während gleichzeitig mehrere Blitze durch die Ritzen der Luken zuckten, dass er zusammenfuhr.

Dann ging das Licht aus.

Er seufzte auf. Dieses Mal zogen die Wettergötter wirklich jedes Register. Aber er hatte natürlich vorgesorgt. Diese Marotte hatte er von seiner Mutter übernommen, und es war beruhigend, nach einem Stromausfall nicht so ganz im Dunkeln zu sitzen. Sofort machte er sich auf den Weg, um Lilli zu holen, doch die kam ihm schon auf der Treppe entgegen.

»Das ist jetzt echt unheimlich«, sagte sie und huschte ins Wohnzimmer.

»Der Strom ist ausgefallen, nicht so schlimm. Komm, setz dich aufs Sofa, kuschle dich in die warme Decke. Ich mach uns einen Kakao.«

»Martin? Wir haben keinen Strom!« Lilli hüpfte auf das Sofa, als wäre es ein Rettungsboot und schlüpfte unter die Wolldecke.

»Na und? Mir doch egal.« Heimdahl kramte in seinem Küchenschrank und holte einen Campingkocher sowie eine Flasche Spiritus heraus.

Lilli musste lächeln. »Ihr Strandbewohner, ihr seid immer auf alles vorbereitet.«

»Natürlich.« Er holte noch ein paar Kerzen, zündete sie an und stellte sie auf den kleinen Tisch neben das Sofa. »So, jetzt wird’s gemütlich. Wir können nun nichts mehr tun, außer zu warten.«

»Ich habe auch keinen Handyempfang mehr«, sagte Lilli mit besorgter Miene. »Hat Papa sich gemeldet?«

»Ja, hat er, alles in Ordnung. Er hat nach dir gefragt.«

»Hoffentlich haben sie Baptiste nicht rausgelassen.«

»Nein, bestimmt nicht, mach dir keine Sorgen.« Heimdahl hatte Spiritus in den Kocher gefüllt, die Flamme entzündet und füllte Milch in einen Topf.

Von draußen schwappte Wasser gegen die Hauswand, die See war angekommen.

Lilli schrak zusammen. »Sind das etwa die Wellen?«, fragte sie mit großen Augen und zog die Decke enger um sich.

»Ja, aber es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört.«

Das stimmte natürlich nicht. Er hoffte wieder, dass seine Gebete von vorhin erhört wurden. Da er jedoch sonst nie betete, sondern immer nur, wenn die See tobte und er um sein Haus und sein Leben bangte, konnte es auch gut sein, dass der liebe Gott und seine Helfer ihn ignorierten. Kommst nur, wenn du Schiss hast, sonst lässt du nichts von dir hören, könnten sie denken.

Er füllte das Kakaopulver in die Tassen und verrührte es mit etwas warmer Milch zu einem Brei. Dabei ging ihm durch den Kopf, dass er um ein Vielfaches mehr fluchte, als er betete. Vermutlich neutralisierte er jedes Gebet mit dem anschließenden Fluch wieder, sodass sich mittlerweile ein Überschuss an Flüchen angesammelt hatte, die er mit Beten nie wieder ausgleichen konnte. Vielleicht sollte er mehr positiv denken und auf das Gute hoffen. Gut möglich, dass er sich dann besser fühlen würde.

Er füllte die Tassen mit Milch auf, rührte sorgfältig und überlegte kurz, sich etwas Amaretto dazuzugeben, verwarf den Gedanken aber wieder, er musste einen klaren Kopf behalten. Dann ging er mit den Tassen zum Sofa.

»Du bist dann echt hier am Strand aufgewachsen, das ist ja wie im Paradies, wenn es nicht gerade stürmt«, sagte Lilli, nachdem sie eine Weile schweigend dem Wind und den Wellen zugehört hatten.

»Nur im Sommer, die restliche Zeit über schenkst du der See dann nicht mehr so viel Beachtung. Sie wird zur Gewohnheit. Routine lässt den Reiz verblassen, sagte mein Vater immer.«

»Ich werde die ganze Nacht kein Auge zutun«, sagte Lilli. Sie stand auf und versuchte, durch die Luken etwas zu erkennen. Die Wellen schienen jetzt Türhöhe erreicht zu haben. Heimdahl stand auf und prüfte, ob irgendwo Wasser eindrang, konnte aber nichts finden.

Ja, Lilli hatte recht, es würde eine lange Nacht werden.

»Als würden da draußen ganz viele Drachen kämpfen«, sagte Lilli, »das hört sich gar nicht mehr wie ein Sturm an.«

»Oder als würde man mit einer Achterbahn an einer wild gewordenen Büffelherde vorbeifahren«, sagte Heimdahl. »So habe ich mir das als Kind immer vorgestellt.«

»Ich würde das ja zu gerne sehen. Kann ich mal von oben gucken?«

»Du wirst nicht viel erkennen, es ist stockdunkel draußen.«

»Ach komm, nur ganz kurz.« Sie setzte nun genau dieses Gesicht auf, wie sie es sonst immer bei Paul tat, wenn sie etwas von ihm wollte. Ein albernes Blinzeln in Kombination mit übertriebenem Grinsen. Heimdahl bemerkte dann immer, dass Paul sich viel zu schnell rumkriegen ließ.

»Aber nur kurz«, sagte er.

Da das Fenster nach Osten hinausging und somit auf einer eher geschützten Seite lag, konnte er es wagen, für einen Moment die Luken zu öffnen. Er musste zugeben, dass ihn der Anblick der tosenden See immer wieder in den Bann zog. Das Fenster öffnete sich nach innen, sodass er nur die Luken festhalten musste, die nach außen aufgingen. Kaum hatte er das Fenster geöffnet, erfüllte den Raum ein Lärm, der klang wie ein endloser tiefer Schrei.

Heimdahl hatte die starke Taschenlampe geholt und Lilli in die Hand gedrückt. »Stell dich vor mich«, sagte er dann zu ihr.

Lilli bückte sich, kroch unter seinen Armen hindurch und stand nun vor dem Fenster.

»Jetzt öffne die Riegel.«

Vorsichtig schob sie erst den oberen und dann den unteren beiseite, während Heimdahl die beiden Metallgriffe festhielt, damit ihm die Luken nicht aus den Händen flogen. Dann öffnete er sie langsam. Der Wind fuhr um die beiden Flügel herum und kam stoßweise ins Zimmer. Zwischendurch fühlte es sich fast so an, als würde ein Sog entstehen und sie beide aus dem Fenster ziehen.

»Wow, das ist …« Lilli gingen die Worte aus. »Aaaah!«, rief sie stattdessen und beugte sich etwas hinaus.

»Mach die Lampe an!«, schrie Heimdahl.

Lilli hielt die Lampe mit beiden Händen, während der Strahl einen kleinen runden Ausschnitt der tosenden See beleuchtete wie das Scheinwerferlicht auf einer Bühne. Deutlich konnten sie das Weiß der sich brechenden Wellen erkennen. Und es schien, als wäre der Himmel von einem ganz schwachen orangefarbenen Licht erfüllt. Höllenfeuer, dachte Heimdahl sofort. Da draußen war nichts mehr wie zuvor. Wie auf der Arche Noah. Oder besser eine Flotte von Archen, denn alle Villen lagen jetzt hart am Wasser, bereit, abzulegen und sich vom sicheren Land zu lösen.

Lilli wippte vor Begeisterung auf und ab. »Guck mal, nebenan ist Licht. Die haben auch Kerzen.«

Heimdahl konnte durch die Luken der Nachbarvilla einen Lichtschein erkennen. Natürlich hatte Oliver vorgesorgt und ebenso wie er selbst einen Vorrat an Kerzen, Petroleum und Gas für die Kocher bereitgestellt. Auch im Haus der Stille würden sie heute Nacht nicht schlafen. Und das Zimmer Nummer zwei war verwaist, der ursprüngliche Gast Mathias Lieven war verschwunden. Der Nachfolger, sein bester Freund Paul, war vielleicht genau in diesem Moment dabei, sich einem Unbekannten gegenüberzustellen, der etwas im Hause Lupin suchte. Eigentlich war es unverantwortlich, dass sie sich noch in Johanns Haus aufhielten. Sie konnten alle nicht einschätzen, wie groß die Gefahr wirklich war.

Lilli stieß einen weiteren Begeisterungsschrei aus. Sie hatte sich an ihn gedrückt, und mit der Sicherheit eines starken Mannes im Rücken wohnte sie dem Spektakel bei, das sie vermutlich nie mehr in ihrem Leben vergessen würde.

»Guck mal«, rief sie plötzlich, »da läuft jemand den Weg runter.«

»Wo?« Heimdahl beugte sich über Lilli und sah das umherspringende Licht einer Taschenlampe.

Lilli schlüpfte unter Heimdahls Armen hindurch, er zog die Luken zu und verriegelte alles wieder. Dann griff er nach der Taschenlampe und lief los. »Vielleicht wollte jemand zu uns, und wir haben es nicht gehört«, rief er Lilli noch zu und sprang die Treppe hinunter.

Fluchend zog er die Kapuze der Jacke hoch und lief mitten hinein in den Sturm, der sich anhörte wie das hämische Lachen des Teufels.

***

Er hatte eine Weile gebraucht, bis er seinen Vater dazu hatte überreden können, diesen klapprigen Wohnwagen zu verlassen und in seine sichere Wohnung überzusiedeln. Wenigstens so lange, bis das Unwetter abgezogen war. Hierzu musste er gegen die ohnehin eigenwilligen Ansichten Jims ankämpfen, was aufgrund zunehmenden Altersstarrsinns immer schwieriger wurde.

Oliver fühlte sich in Johannistal sicher, aber die Sorge um die Strandvilla war ein ständiger Begleiter, besonders in solchen Nächten wie dieser. Aber dank der mit den Metallplatten gesicherten Türen und Fenster hatte er ein besseres Gefühl als die Jahre zuvor.

Die meisten Campinggäste hatten den Platz dann kurz vorher verlassen, nachdem die Wetternachrichten Orkanstärke nicht mehr ausgeschlossen hatten. Und die, die unbedingt in Heiligenhafen bleiben wollten, waren für diese Nacht in Pensionen und Hotels umgezogen. Darauf hatte Oliver bestanden und sich auch um die Reservierungen gekümmert.

Er saß mit Vanessa im Wohnzimmer, und der Fernseher lief, irgendeine schwedische Krimiserie, er hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Eine App seines Smartphones meldete, dass in Teilen Heiligenhafens der Strom ausgefallen war, unter anderem auch am Graswarder. Auch ein Funkmast war betroffen. Er dachte, wenn es jetzt Probleme im Haus der Stille gab, würde Siri oder einer der anderen ihn nicht erreichen können.

»Der Strom am Graswarder ist ausgefallen«, sagte er zu Vanessa, die mit angezogenen Beinen auf dem Sofa saß und fernsah.

Sie wandte sich ihm zu. »Ach ja? Gott sei Dank nicht hier. Haben deine Gäste genug Kerzen und Taschenlampen im Haus?«

»Ja, ich habe extra noch welche besorgt, als ich gehört habe, welche Stärke das Tief hat.«

»Dann kann es sich deine Siri mit den anderen ja gemütlich machen, das freut dich doch bestimmt.«

Vanessa sah ihn lächelnd an, doch Oliver sah darin wieder nur Zynismus, Boshaftigkeit. Konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

»Es ist nicht meine Siri«, sagte er in dem Bemühen, ruhig zu bleiben. Keine neuen Streitereien, nicht heute Nacht.

»Stimmt, sie hat sich ja jetzt diesem Ex-Kommissar an den Hals geworfen. Dem, der neuerdings bei Martin Heimdahl wohnt, ach, welch Zufall.«

Oliver sah sie mit gerunzelter Stirn an. Woher wusste sie, dass Paul und Siri sich nicht ganz abgeneigt waren? Vorsichtig ausgedrückt, denn es war ja wohl erst ein schüchterner Anfang. So zumindest hatte es ausgesehen, als sie im Hirschfänger dagestanden waren, Arm in Arm.

»Dieser Kommissar ist ja auch ein charmanter Kerl«, sagte Vanessa. »Wilde Haare, gekonnt unrasiert, gut gebaut. Und er scheint höflich zu sein.«

Und das bin ich natürlich nicht, dachte Oliver. Laut sagte er: »Wie kommst du darauf, dass Siri sich für den interessiert? Hast du sie zusammen gesehen?«

»Im Hirschfänger, ich war auch da, aber du hast mich natürlich nicht bemerkt, hattest nur Augen für die beiden«, entgegnete Vanessa und stand auf. »Ich hol mir was zu trinken, willst du auch was?«

»Nein, danke, ich habe noch.« Er versuchte, sich zu erinnern. Er hatte sie tatsächlich nicht gesehen. »Wo hast du denn gestanden? Und warum bist du nicht zu mir gekommen?«

»Wozu hätte ich das tun sollen? Ich vermute, du wärst nicht in Jubel ausgebrochen«, rief sie aus der Küche.

Oliver trank von seinem Cognac. Ich trinke ein bisschen zu viel in letzter Zeit, dachte er. Aber er wusste nicht, wie er diese Nacht sonst rumkriegen sollte.