DAS LEBEN GING WEITER. Egal, was geschah – am nächsten Tag ging die Sonne von Neuem auf und bot die Chance auf frische Entscheidungen, Richtungswechsel und überraschende Glücksmomente. Anna war Expertin in diesem Bereich. Sie wusste, dass eine optimistische Sichtweise irgendwann auch zu einem positiven Gefühl führte. Glück kam ihrer Erfahrung nach nie von außen, sondern war immer im Inneren zu suchen. Und zu finden! Mit dieser Einstellung war sie ihr ganzes Leben lang gut gefahren. Ohne diese feste Überzeugung wäre sie mit Sicherheit niemals so weit gekommen. Es ging ihr gut, sie hatte ein wunderbares Zuhause in Kirkby, sie hatte Freunde und einen Beruf, der sie ausfüllte und mit dem sie Gutes tat.
Das alles redete sie sich seit Tagen wie ein Mantra ein. Die Woche war turbulent gewesen, denn die Jahreszeit sorgte mit Erkältung und Grippe für ein konstant gut gefülltes Wartezimmer. Sie hatte jedoch nicht nur hustende und verschnupfte Patienten, sondern kümmerte sich neben Colleen auch noch um zwei weitere schwangere Frauen, die sich von ihr und Rosie Taylor, der erfahrenen Hebamme aus dem Nachbarort, betreuen lassen wollten.
Am gestrigen Freitag war sie mittags bei der Beerdigung von Granny Sandkirk gewesen und hatte am Nachmittag bei einem jungen Paar die ersten Ultraschallaufnahmen von dessen Baby gemacht, das im Frühsommer des nächsten Jahres hoffentlich gesund zur Welt kommen würde. Es war das pralle Leben, das sie in Kirkby hatte, bei dem sich Tod und Geburt buchstäblich die Klinke in die Hand gaben – und Anna liebte jeden Aspekt davon. Nur leider war das warme, karamellartige Glücksgefühl, das sie hier in den ersten Monaten fast dauerhaft empfunden hatte, verschwunden. Für ein paar kurze, süße Tage war es von etwas noch viel Schönerem abgelöst worden: von Herzklopfen, Schmetterlingen im Bauch und einem unfassbar intensiven Prickeln eine Etage tiefer. Ihr Kopf war in dieser Zeit wie im Rausch gewesen und ihre Seele wie auf Zuckerwatte gebettet – kurz: Sie hatte sich rettungslos in Lennox Fraser verliebt.
Liebe war allerdings nur dann wirklich erfüllend und beglückend, wenn sie auch auf Gegenseitigkeit beruhte. Sosehr Lennox sie zweifellos begehrt hatte – körperlich, seelisch und vor allem was die Energie betraf –, Liebe war es auf seiner Seite wohl nicht gewesen. Sie wollte ihm das gern übel nehmen, doch das gelang ihr genauso wenig, wie ihn sich vollständig aus dem Kopf zu schlagen, wie Linda und Isla es ihr dringend empfahlen. Nie zuvor hatte sie in ihrem Leben so eine Liebe zu einem anderen Menschen empfunden, das konnte und wollte sie nicht einfach abstellen. Daher ertrug sie lieber den allerersten schweren Liebeskummer ihres Lebens.
Sie hatte von Lennox seit elf Tagen nichts mehr gehört, aber natürlich ahnte sie, was mit ihm los war. Die Nachricht, dass Marlin der totgeglaubte Musiker Lin war, hatte sich in Windeseile verbreitet. Nicht nur in Kirkby – wahrscheinlich auf der ganzen Welt. Zahlreiche Journalisten waren in das Dörfchen eingefallen, um ein Interview zu ergattern oder wenigstens mit Weggefährten zu sprechen. Ein Reporter war sogar bei ihr in der Sprechstunde aufgetaucht, unter dem Vorwand, er habe sich den Fuß verstaucht. Von Isla wusste Anna, dass Marlin am Tag nach seinem Talkshow-Auftritt nach Kirkby zurückgekehrt war und eine Aussprache mit allen Familienmitgliedern gesucht hatte. Allem Anschein nach hatte man ihm großmütig verziehen. Selbst mit Lennox gab es wohl eine Annäherung, und Anna freute sich aufrichtig für alle. Wirklich!
»Weißt du inzwischen, wie die Alpakatherapie aussehen könnte?«, unterbrach Shona ihre Gedanken.
Nach ihrem Samstagsfrühstück war sie wie vereinbart zum Stall bei der Destillerie gekommen, um mit Shona und den Alpakas für den Weihnachtsmarkt am vierten Adventswochenende zu trainieren, bei dem es kleine Schnupperwanderungen geben sollte und einige der Tiere auch am Krippenspiel mitwirken würden. Im Augenblick bestand das Training vorwiegend daraus, dass sie die flauschigen Gesellen ausgiebig bekuschelten und mit ihnen spazieren gingen, damit sie sich an die Nähe von Menschen gewöhnen konnten. Das war eher unproblematisch, denn die Alpakas waren allesamt sehr freundlich und menschenbezogen, sodass Anna keine nennenswerten Probleme erwartete. Beim Thema Alpakatherapie war sie allerdings noch immer nicht weiter.
»Hauptsächlich dreht es sich darum, dass Mensch und Tier engen Kontakt haben und sich die Gelassenheit des Alpakas auf den gestressten, kranken oder traumatisierten Menschen an seiner Seite überträgt«, wiederholte Anna das, was sie vor Wochen in einer Fachzeitschrift gelesen hatte. Im Herbst hatte das nach einem tollen Projekt für den Winter geklungen. Der Plan war, dass sie ihre üppige Freizeit für eine ausführliche Recherche und womöglich auch Weiterbildung im Bereich tiergestützter Therapieformen verwendete, sodass sie mit Shona im nächsten Jahr mit einem sinnvollen Konzept an den Start gehen konnte. Fast musste sie darüber lachen, dass sie damals in ihrer Naivität noch reichlich Freizeit erwartet hatte. Das war erst ein paar Wochen her, doch ihr Leben hatte sich seitdem grundlegend geändert. Genau wie ihre Arbeitszeiten.
»Wir sind also noch immer auf demselben Stand wie vor anderthalb Monaten«, fasste Shona grinsend zusammen.
»Wenn deine Recherchen nicht mehr erbracht haben, dann ist das wohl so«, sagte Anna und seufzte. Sie kraulte den schokoladenbraunen Ringo, dessen dunkle, sanfte Augen vor lauter Wonne halb geschlossen waren und der ein merkwürdiges Summgeräusch von sich gab, das bei Alpakas für Wohlbefinden stand, wie sie mittlerweile wusste. Ähnlich dem Schnurren von Katzen.
»Es beruhigt mich jedenfalls, dass du es auch nicht hinbekommen hast«, entgegnete Shona fröhlich. »Ich meine, du hast doch sonst immer alles so perfekt im Griff. Ich dagegen …«
»Du hast ja auch nicht gerade Langeweile«, tröstete Anna. »Ich meine, mit der Destillerie, deinen vielen Tieren, Kendrick und nun auch noch den neuesten Entwicklungen in deiner Familie.«
»Ja, schon, aber bei mir geht’s nicht oft um Leben und Tod.«
»Bei mir glücklicherweise auch nicht. Aber zurück zur Alpakatherapie. Wenn wir das wirklich durchziehen wollen, brauchen wir ein sinnvolles Konzept und idealerweise auch einen qualifizierten Therapeuten. Solange die Leute einfach nur mit den Alpakas kuscheln und mit ihnen herumspazieren, ist es ja kein Problem, aber wenn Menschen mit Angststörungen und ähnlichen psychischen Problemen kommen, die sich wohl gut behandeln lassen, sind wir beide nicht dafür ausgebildet, angemessen damit umzugehen.«
»Also du doch ganz bestimmt«, sagte Shona im Brustton der Überzeugung. »So wie du Lennox in den Griff gekriegt hast.«
»Der hat keine psychische Störung, er war nur eine verlorene Seele. Oder vielmehr eine, die sich verlaufen hatte – verloren ist er natürlich auch nicht.« Sie merkte, wie ihr Farbe ins Gesicht schoss, und war sich gerade nicht sicher, ob Shona sie absichtlich aufs Glatteis geführt hatte oder ob es Zufall war.
»Dich hat’s ganz schön erwischt mit meinem Bruder, was?« Shona schenkte ihr einen mitfühlenden Blick, und Anna schämte sich dafür, dass sie sich über die Empathiefähigkeit der temperamentvollen jüngsten Fraser-Tochter wunderte.
Statt zu antworten, zuckte sie nur mit den Schultern. Was sollte sie darauf auch erwidern, wenn es so offensichtlich war?
»Lenny ist ein Idiot, wenn er dich laufen lässt«, sprach Shona ungerührt weiter.
»Ist er nicht«, nahm Anna ihn in Schutz. »Er kann ja nichts dafür, dass er nicht das Gleiche empfindet wie ich.« Hm, jetzt hatte sie es ausgesprochen. Es tat weh, aber es war auch befreiend, und sie stellte fest, dass es an der Nähe der kleinen Flauschkamele lag, dass sie sich entspannt und sicher genug fühlte, um darüber zu reden. Ausgerechnet mit Shona darüber zu reden.
»Ich glaube, dass mein Trottelbruder gar nicht weiß, was er fühlt. Zumindest bei Themen, die nichts mit Musik und ihm selbst zu tun haben, ist er schrecklich ahnungslos.«
»Vielleicht ist das aber auch nur besonders konsequent? Musik ist sein Leben, da hat nichts anderes Platz.« Anna hatte den letzten Satz nur ganz leise in Ringos Ohr gemurmelt, doch Shona hatte es trotzdem gehört.
»Bullshit!«, entgegnete sie nur, als wäre damit alles gesagt.
»Oder ich bin einfach nicht die Richtige für ihn«, fuhr Anna mit ihrer Selbstzerfleischung fort und fragte sich, wohin das noch führen sollte und warum sie nicht einfach die Klappe hielt.
»Verdient hat er dich jedenfalls nicht.«
In diesem Punkt schienen sich ja alle einig zu sein. Linda und Isla erzählten ihr das schon seit Tagen, aber dass nun auch noch Shona in dieses Horn stieß, löste in Anna etwas aus: Ärger! Sie merkte, dass sie wirklich sauer wurde. Nicht auf Lennox, sondern vor allem auf Lennox’ Schwestern, die von ihrem Bruder offenbar eine verheerend schlechte Meinung hatten. Linda durfte so etwas sagen. Sie hatte keinerlei emotionale Bindung zu Lennox, sondern sorgte sich nur um das Seelenheil ihrer besten Freundin. Das war in Ordnung. »Warum habt ihr eigentlich ein so schrecklich negatives Bild von eurem Bruder?«, fragte sie etwas schroffer als beabsichtigt. »Er ist ein wunderbarer Mann, hochintelligent, sensibel und kreativ, und er hat es nicht verdient, dass seine eigenen Geschwister schlecht über ihn reden.«
Shona schien von Annas Ausbruch nicht beeindruckt zu sein – im Gegenteil. Sie grinste breit und befand: »Wie ich eben schon sagte, er verdient dich nicht.«
»Aber …«, plusterte sich Anna auf, doch Shona winkte ab.
»Lass es gut sein. Ich verspreche, ich misch mich nicht ein. Es geht mich auch nichts an. Ihr seid erwachsen und könnt euren Kram allein regeln. Ich würde mich freuen, wenn er zu Verstand käme, denn ich hätte dich gerne als Schwägerin. Was seine Intelligenz betrifft – zumindest die emotionale –, habe ich allerdings meine Zweifel. Aber womöglich fällt ihm demnächst ja mal auf, dass ihn eine Gitarre nicht so gut wärmt wie ein anderer Mensch.«
Anna seufzte. »Merkst du’s? Die Alpakatherapie wirkt schon.«
»Stimmt. Vielleicht sollten sich Lennox und Dad mal aus Seans Geräteschuppen rauswagen und lieber eine Runde mit meinen Schnuffis schmusen. Wer weiß, zu welchen Erkenntnissen sie dann kämen?«
»Dein Dad und Lennox machen zusammen Musik?« Anna war so verblüfft, dass sie abrupt stehen blieb und dafür einen verwunderten Blick von Ringo kassierte.
»Ja. Seit Dad Lennox am Mittwochmittag heimgesucht hat, um sich mit ihm auszusprechen, ist er laut Tante Alice praktisch ununterbrochen da. Keine Ahnung, was sie machen. Kann ja auch sein, dass sie sich prügeln.«
Das hielt Anna für unwahrscheinlich. Sie nahm stark an, dass sie tatsächlich musizierten. Vermutlich war das die einzige Sprache, in der sie sich zurzeit miteinander unterhalten konnten. Bei dem Gedanken wurde ihr warm ums Herz – durchaus auf eine etwas wehmütige Art, aber im Grunde ihres Herzens freute sie sich für beide Männer, die sehr darunter gelitten haben mussten, dass ihre Leidenschaft so lange verstummt beziehungsweise mit einem scheinbaren Makel versehen gewesen war. »Vielleicht haben sie sich wirklich versöhnt? Das fände ich sehr schön. Für euch alle.«
Shona schüttelte den Kopf. »Ich kann das alles immer noch nicht so richtig fassen. Ich meine, mein Dad war ein Popstar! Das ist doch total irre, oder?«
»Schon ziemlich, das kann nicht jeder von sich behaupten.«
»Was macht dein Vater eigentlich?«, wollte Shona wissen, und Anna erstarrte innerlich.
Es war das erste Mal, dass ihr in Kirkby jemand eine so konkrete Frage zu ihrer Herkunft stellte. Das war für sich genommen schon ein mittleres Wunder, denn nichts liebten Schotten bekanntlich mehr, als über ihre weitläufigen Familien zu philosophieren und idealerweise irgendwelche entfernten Verwandtschaftsverhältnisse aufzudecken. Doch Anna hatte es in ihrem Leben zur Meisterschaft darin gebracht, zwar wie ein offenes Buch zu wirken, aber fast nichts von sich preiszugeben. Die allermeisten Dorfbewohner hatten sich damit zufriedengegeben, dass sie schlicht Annabel Campbell aus Edinburgh war. Isla und Lennox wussten lediglich, dass sie bereits als Jugendliche in eine betreute Wohngemeinschaft gezogen war und dass ihre damaligen Mitbewohner noch heute ihre besten Freunde waren.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete sie nach einer Pause wahrheitsgemäß. »Meine Mutter hat mich mit sechzehn bekommen, zwei Jahre später ist sie an einer Überdosis gestorben. Ich weiß nicht viel von ihr, und wer mein Vater ist, werde ich wohl nie erfahren.«
Nun war es Shona, die abrupt stehen blieb und Anna schockiert anstarrte. »Echt? Scheiße. Das ist ja krass. Hätte ich nie gedacht – du wirkst ja so kultiviert und …«
»Ich kenne es nicht anders«, unterbrach Anna sie lahm. Das war der Grund, warum sie nicht gern über ihre Herkunft sprach. Die Leute machten sich dann automatisch ein seltsames Bild. Im besten Fall hatten sie Mitleid, im schlimmsten kamen Vorurteile dazu.
»Sorry, das war blöd von mir«, ruderte Shona erstaunlich feinfühlig zurück. Vermutlich musste auch Anna gegen ein Vorurteil ankämpfen und Shona aus der Schublade holen, in die sie sie verfrachtet hatte.
»Schon gut. Ich weiß ja, wie es sich anhört. Nach totalem Unterschichtstrash und einer vorgezeichneten Zukunft als Sozialfall.«
»Ja, schon irgendwie«, gab Shona zu. »Aber es war trotzdem blöd von mir. Du hast dein Leben ganz offensichtlich besser im Griff als die meisten Leute, die ich kenne. Mich eingeschlossen. Vielleicht bist du ja auch adoptiert worden oder so. Ich hatte einfach immer angenommen, dass du aus einer etwas spießigen, aber total soliden Mittelschichtfamilie stammst – und ich frage mich gerade, warum ich überhaupt keine Ahnung von deiner Vergangenheit habe.« Sie schaute Anna halb zerknirscht, halb neugierig an.
»Weil ich damit nicht hausieren gehe. Aber ich will deine Neugier gern befriedigen: Ich wurde nicht adoptiert. Ich habe nach dem Tod meiner Mum erst bei meiner Tante gelebt, anschließend in diversen Pflegefamilien. Nirgendwo hat es richtig gepasst. Ich war wohl ein ziemlich anstrengendes Kind. Mit vierzehn bin ich dann in eine betreute Wohngruppe für verhaltensauffällige Jugendliche gekommen.«
»Ich kenn dich vielleicht nicht besonders gut, Anna, aber ich würde dich weder als anstrengend noch als verhaltensauffällig bezeichnen«, sagte Shona resolut. »Du bist warmherzig, hilfsbereit und einer der nettesten Menschen, die ich kenne.«
»Ich freu mich, wenn du mich so siehst, aber ich hatte tatsächlich keinen besonders guten Start, und mein Lebensweg hätte mehrmals in ganz andere Richtungen führen können. Ich hatte Glück, dass ich schon sehr früh eine Kraft in mir gefunden habe, die es mir ermöglicht hat, die für mich beste Richtung zu wählen. Und ich habe Freunde gefunden, mit denen ich mich auf fast unheimliche Art ergänzt habe. Solche Wohnexperimente können ja auch gewaltig schiefgehen – für uns war es die Rettung.«
»Wow, mir wird gerade mal wieder bewusst, wie privilegiert ich eigentlich bin.« Shona war ganz nachdenklich geworden. »Ich bin zwar auch ohne Mutter aufgewachsen und mit der Bürde, dass ich nur am Leben bin, weil sich meine Mum für mich und gegen ihre Krebstherapie entschieden hat. Das war manchmal schon ziemlich hart, aber letztlich hatte ich eine total behütete und glückliche Kindheit, in der es mir an nichts gefehlt hat – am wenigsten an Liebe und Aufmerksamkeit. Ich glaube, ich habe das immer viel zu sehr als selbstverständlich betrachtet.«
»Es ist doch schön, wenn man so sorglos ins Leben starten kann«, entgegnete Anna. »Dafür muss man sich nicht schämen.«
»Nein, das nicht. Aber man könnte dankbarer sein, als ich es je war.« Sie waren bei ihrer Alpakarunde in Sichtweite von Seans Hof gekommen und sahen, dass auf dem Parkplatz vor der Remise ein Transporter von einer Klavierspedition parkte.
»Mir scheint, Lennox hat jetzt auch ein Klavier«, bemerkte Anna.
»Und mir scheint, Dad will in drei Tagen alles gutmachen, was er bei Lennox all die Jahre versäumt hat«, murmelte Shona. »Lass uns zurückgehen. Ich hab gerade keine Lust, mit einem der beiden Kerle zu sprechen.«
Das war Anna ganz recht. Einerseits war sie zwar neugierig, wie sich die Lage zwischen Lennox und Marlin entwickelte, aber andererseits fühlte sie sich der Situation nicht wirklich gewachsen. Als ahnte Ringo etwas von ihrer fragilen Stimmungslage, stupste er sie freundlich an der Schulter an.
»Weiß Lennox Bescheid?«, erkundigte sich Shona nach ein paar Minuten, in denen sie gedankenverloren und schweigend nebeneinander hergelaufen waren.
»Über meine traurige Herkunft?« Anna schüttelte den Kopf. »Nicht so richtig. Er hat nie gefragt, und ich habe es ihm nicht erzählt. Spielt aber auch keine Rolle.«
»Na ja«, kam es gedehnt von Shona, die es offensichtlich anders sah. »Ich meine, du weißt von unserer Familie fast alles, und er weiß von dir praktisch nichts.«
»Ich habe ihm nichts verschwiegen. Meine Geschichte ist kein Geheimnis, er hat mich schlicht nicht gefragt.«
»Irgendwas sagt mir, dass du auch niemanden nach unserer Geschichte gefragt hast, dass du aber trotzdem Bescheid weißt, weil du irgendwas an dir hast, wegen dem man dir unaufgefordert sein Innerstes offenbart.« Shona warf ihr einen herausfordernden Blick zu.
Anna lachte auf, vielleicht eine Spur zu laut. »Du übertreibst schamlos, so ist es nun auch wieder nicht. Und ich weiß sicher nichts über dein Innerstes.« Das stimmte, sie wusste nichts. Allerdings hatte sie eine ganz gute Vorstellung. Bei Lennox und Isla war sie sich sogar recht sicher, was sie bewegte und wie genau sie tickten. »Ich gebe aber zu, dass es praktisch ist, wenn mir die Menschen freiwillig von ihren Befindlichkeiten erzählen, das erleichtert meinen Job als Ärztin ungemein.«
»Lenk nicht ab. Es geht hier nicht um deinen Job, und wir sind keine Patienten. Aber ich finde, dass Partner schon auf einem ähnlichen Informationsniveau sein sollten, damit eine Beziehung eine Chance hat.«
»Da gebe ich dir vollkommen recht. Aber erstens wird sich an Lennox’ Einstellung auch dann nichts ändern, wenn er weiß, dass ich elternlos und ziemlich prekär aufgewachsen bin, und zweitens steht eine Beziehung auch gar nicht zur Debatte.«
»Glaub du nur deine Wahrheit«, sagte Shona und lachte. »Ich diskutiere nicht mit Sturschädeln.«
»Sturschädel?« Anna schüttelte grinsend den Kopf. »Und das aus dem Mund einer Fraser. Ihr habt das Konzept Sturheit doch praktisch erfunden.«
»Mag sein. Und deshalb ist es auch so wichtig, dass andere, schlauere Menschen den ersten Schritt machen. Weißt du, was ich denke?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen will.«
»Ich denke, dass du meinen Bruder wirklich liebst, und ich weiß, dass du ihm guttun würdest. Ich denke weiter, dass er auch gut für dich sein könnte.«
»Vor ein paar Minuten hast du noch etwas anderes behauptet«, unterbrach Anna sie.
»Stimmt. Aber da kannte ich noch nicht alle Fakten«, behauptete Shona siegesgewiss. »Ich glaube, ihr seid euch in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich und könntet zusammen ein ziemlich unschlagbares Team sein. Ich glaube aber auch, dass du Angst hast, verletzt zu werden, und dass du dir deshalb einredest, er würde sich nicht wirklich für dich interessieren und so.« Sie schaute Anna triumphierend an.
Anna hielt diese These für ziemlich steil, auch wenn möglicherweise mehr als ein Funken Wahrheit darin enthalten war. Vor allem in dem Teil, der sich auf ihre mutmaßliche Feigheit bezog. Dass Shona bei ihrer Einschätzung allerdings eine Hundertachtzig-Grad-Wende vollzogen hatte, nur weil sie jetzt von Annas trauriger Kindheit wusste, fand sie nicht nur kühn, sondern auch fragwürdig. »Das Letzte, was ich will, ist, dass jemand aus Mitleid mit mir zusammen ist«, platzte es aus ihr heraus.
»Mitleid? Nein. Ganz bestimmt nicht. Aber ich glaube, dass du eine ähnlich verlorene oder suchende Seele bist wie mein Bruderherz. Das könnte ein verdammt starker Kitt sein.«
Anna konnte das nicht so sehen. Oder wollte es nicht. Das käme ja einem Eingeständnis der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit gleich. »Wie auch immer«, wechselte sie das Thema. »Was wir auf jeden Fall ganz sicher wissen, ist, dass Alpakatherapie funktioniert!«
Sie waren am Stall angekommen und brachten die beiden Tiere zu ihren Kollegen auf die Weide.
»Ja, meine Süßen sind wirklich unglaublich«, sagte Shona und zog ihr Handy hervor. Dann schlug sie sich mit einer ausgesprochen übertrieben wirkenden Geste die Hand vor den Mund. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich dringend etwas in Inverness abholen muss. Ist es schlimm, wenn du noch ein bisschen allein weitermachst und auch noch mit Petunia, Alvarez und Hamish übst?«
Anna unterdrückte ein Lächeln. Es war offensichtlich, dass Shona andere Pläne hatte – welche auch immer, so genau wollte sie es gar nicht wissen. Sie selbst hatte jedenfalls nichts dagegen, noch etwas mehr Zeit mit den Alpakas zu verbringen, die anscheinend ziemlich gut das Denken anregten und ihr vielleicht sogar helfen konnten, ihre verwirrten Gefühle zu sortieren. »Klar, kein Problem. Viel Spaß in Inverness.«
• • •
»Es klingt fantastisch«, rief Lennox begeistert, nachdem er die ersten Töne auf dem Flügel angeschlagen hatte, der eben geliefert worden war. Sein Vater hatte eben mal so einen Bechstein-Konzertflügel bei einem Händler in London gekauft. Das Instrument war gebraucht, aber tadellos in Schuss und hatte sicher immer noch einen mittleren bis höheren fünfstelligen Pfundbetrag gekostet. Es war absolut dekadent – und absolut großartig. Er hatte schon immer ein richtiges Klavier haben wollen, das einfach einen ganz anderen Klang hatte als selbst das beste Keyboard oder E-Piano.
»Die Akustik hier ist wirklich bemerkenswert«, lobte Marlin und strahlte wie ein Fünfjähriger beim Anblick des Weihnachtsbaums.
»Sensationell«, bestätigte Lennox und überlegte schon, was er mit dem Flügel alles anstellen würde. Die letzten Tage waren ein einziger Rausch gewesen. Im positiven Sinn. Er wusste zwar immer noch nicht, ob er seinem Vater verzeihen konnte, aber das spielte im Moment auch keine Rolle. Die Musik war ein machtvolles gemeinsames Element, und wenigstens in dieser Sprache verstanden sie sich blind. Er war fasziniert von den Stücken und Fragmenten, die Marlin in den letzten Jahrzehnten geschrieben hatte, und sein Vater war beeindruckt von seinen Songs und handwerklichen Fähigkeiten.
Marlin war wie entfesselt, seit er seine Kunst nicht mehr buchstäblich im stillen Kämmerlein ausüben musste, sondern sie endlich wieder frei entfalten konnte. Wenn sie gemeinsam musizierten, verstanden sich Vater und Sohn auf eine Weise, wie Lennox es sich selbst in seinen kühnsten Träumen niemals ausgemalt hatte. Beide hatten sich nach einem richtig guten Klavier gesehnt. In Harriswood House gab es zwar einen alten Kasten, auf dem Lennox als Kind und Jugendlicher gespielt hatte – und Marlin noch früher –, aber dieses Instrument war seit ewigen Zeiten nicht mehr gestimmt worden und diente seit Jahren nur noch als eine Art Außenstelle der Hausbar. Doch hier, in der ehemaligen Remise, gab es Platz genug, und Marlin hatte nicht lange gefackelt.
Fühlte Lennox sich überrumpelt oder gar gekauft? Vielleicht, aber vor allem fühlte es sich gut an, sich auf diese Weise ausdrücken zu können und zum ersten Mal überhaupt vom eigenen Vater verstanden zu werden. Er beschloss, etwaige Problemgedanken zu verschieben. So viele Jahre hatte er mit Grübeleien verbracht, die zu nichts geführt hatten, außer zu Frust. Jetzt wollte er einfach mal ein bisschen genießen. Er wusste nicht, was genau in seinem Vater vor sich ging, aber er hatte das Gefühl, dass sie in diesem Punkt exakt gleich tickten.
»Huhu! Könnt ihr vielleicht mal aufhören mit dem Lärm?«
Lennox stoppte abrupt und sah sich seiner kleinen Schwester Shona gegenüber, die mit ausladenden Gesten und lautem Geschrei Aufmerksamkeit forderte. Er hatte sie nicht reinkommen gehört, und wenn das irritierte Stirnrunzeln seines Vaters ein Indiz war, dann galt das auch ihn.
»Das ist kein Lärm«, sagte Marlin indigniert. »Lennox testet unseren neuen Flügel. Wo hast du nur so fantastisch Klavier spielen gelernt?«
»Ich hatte ein paar Jahre Unterricht in der Schule, erinnerst du dich nicht mehr? Und dann habe ich mir von Kollegen einiges abgeschaut. Aber ich habe noch nie auf so einem tollen Instrument gespielt. Du musst das unbedingt mal ausprobieren.«
»Ich störe eure Bromance nur ungern, aber ich hätte ein Anliegen!«, mischte sich Shona wieder ein.
»Muss das wirklich jetzt sein?«, brummte Marlin.
»Ja, es muss jetzt sein«, beharrte sie. »Aber es betrifft eigentlich nur Lennox. Du kannst also ruhig weiterspielen.«
Lennox musste grinsen, weil seine Schwester sich anhörte wie eine Kindergärtnerin, die einem ihrer Schützlinge großzügig noch fünf Minuten mehr im Sandkasten zugestand. Er stand vom Hocker auf, um seinem Dad den Platz zu überlassen, und lotste Shona nach draußen. Denn es stimmte schon, wenn man volle Pulle in die Tasten haute, war es verdammt laut.
»Was ist los?«, fragte er.
»Es geht um Anna.«
»Um Anna?« Er spürte einen kleinen Stich in der Brust. Sehnsucht. Große Sehnsucht sogar. Und Sorge. »Ist was mit ihr? Ist etwas passiert?«
»Es geht ihr gut. Zumindest körperlich. Aber sie ist verdammt unglücklich wegen dir.« Shona blickte ihn eindringlich an, als wollte sie sicherstellen, dass er sie auch verstand.
»Wegen mir?« Er starrte sie verblüfft an. Warum sollte Anna unglücklich sein? Sie hatte doch mit ihm Schluss gemacht.
»Sie liebt dich, du Trottel!«
»Sie hat die Sache zwischen uns beendet.« Weil sie der Meinung gewesen war, dass er etwas anderes wollte als sie – oder umgekehrt. Vermutlich hatte sie damit sogar recht gehabt. Nur dass er weder so genau wusste, was sie wollte, noch wie seine Zukunftspläne aussehen könnten. Er hatte da nicht weiter gedacht als bis zu dem Punkt, an dem er jetzt war: ein eigenes Studio und die Möglichkeit, seine Musik zu machen. War da noch Platz für etwas anderes? Hatte sein Vater als Grund für seinen krassen Schnitt nicht die Erfahrung genannt, dass eine Musikerexistenz nicht mit einem Familienleben vereinbar war? Shona starrte ihn an. Hatte sie etwa schon weitergeredet? »Wie gesagt, sie hat die Sache beendet«, wiederholte er noch einmal.
»Wie ebenfalls schon gesagt: Das hat sie nur aus Selbstschutz getan.« Shonas Augen flackerten. »Versuch doch mal, dich wenigstens fünf Minuten lang auf ein reales Gespräch zu konzentrieren und nicht nur auf das, was in deinem wirren Kopf abgeht.«
Da hatte sie eindeutig einen Treffer gelandet. Er versuchte, das wilde Rauschen seiner Gedanken zu ignorieren und sich ganz auf seine Schwester zu fokussieren. »Aus Selbstschutz also? Aber das macht doch keinen Sinn.«
»Natürlich macht es Sinn!«, beharrte Shona. »Damit hat sie verhindert, dass du eure Beziehung beendest. Am Ende noch mit den Worten: ›Sorry, meine Musik ist mir wichtiger!‹«
»So etwas würde ich nie sagen!«
»Tatsächlich?«
»Jedenfalls nicht zu Anna.«
»Ach, jetzt wird’s interessant.«
Das wurde es tatsächlich. Lennox hörte tief in sich hinein. Er hatte immer gedacht, dass Musik das Allerwichtigste in seinem Leben wäre – und vor die Wahl gestellt, würde er jetzt deutlich lieber Klavier spielen, als mit Shona zu diskutieren. Und doch unterhielt er sich mit seiner Schwester. Noch lieber als bei einem Plauderstündchen unter Geschwistern oder einer Musiksession mit seinem Vater wäre er jetzt bei Anna. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Denn das bedeutete, dass es etwas gab, das ihm noch wichtiger war als seine Musik – oder vielmehr jemanden. »O«, murmelte er leise.
»O?«
»Ich glaube, ich muss dringend mit ihr reden«, erklärte er und spürte plötzlich eine Ungeduld in sich, die ihn umhaute.
»Das glaub ich auch.« Shona grinste und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange. »Gern geschehen! Sie ist übrigens bei meinen Alpakas und trainiert mit ihnen. Ach ja, frag sie nach ihrer Vergangenheit.«
Zu Fuß waren es nur ein paar Minuten von Seans Hof und Lennox’ Studio zu Shonas Alpakastall bei der Destillerie, und doch kam ihm der Weg endlos vor – was vermutlich daran lag, dass die Gespräche, die er im Kopf mit sich selbst führte, im realen Leben Stunden in Anspruch genommen hätten. Warum war es Shona so wichtig, dass er sich nach Annas Vergangenheit erkundigte? Und was konnte Anna von ihm wollen, das er nicht wollte? Ihm war gerade klar geworden, dass es nichts und niemand Wichtigeres in seinem Leben gab. Er wollte mit ihr zusammen sein, die Abenteuer angehen, die das Leben noch bereithielt. Er wollte ihr die Länder zeigen, die er auf seinen Reisen kennengelernt hatte, sich von ihr in die Geheimnisse des Yogas einführen lassen und geheime innere Welten entdecken. Er wollte von ihr hören, wie ihr Tag in der Praxis gewesen war, und ihr seine neuen Songs vorspielen. Er wollte mit ihr im Arm einschlafen und jeden Morgen davon aufwachen, dass ihre blonden Locken ihn im Gesicht kitzelten. Scheiße – er war rettungslos verliebt in sie und hatte es bis eben nicht begriffen.
Auf den letzten Metern rannte er fast. Auf der Weide standen einige Alpakas, doch von Anna war nichts zu sehen. Er ging in den Stall, und tatsächlich, da war sie, in der großen Laufstallbox, hielt eines der wolligen Tiere im Arm und sprach mit unnatürlich hoher Stimme mit ihm.
Er räusperte sich, weil er sie nicht erschrecken wollte, doch natürlich fuhr sie gleich herum.
»O mein Gott, du bist es«, keuchte sie, die Wangen vor Verlegenheit gerötet. »Ich bin total erschrocken.«
»Das tut mir leid. Was machst du denn da? Shona meinte, du trainierst?« Er schaute fragend zwischen ihr und dem Alpaka hin und her, das ihn mit großen, sanften Augen gelassen musterte.
»Ich habe versucht, ein übergriffiges Kind zu simulieren«, entgegnete sie und wurde womöglich noch röter. »In zwei Wochen sollen die Alpakas beim Weihnachtsmarkt für Schnupperwanderungen zur Verfügung stehen – also, wahrscheinlich nur für kurze Spaziergänge um den Dorfplatz herum –, und ich schätze, dass viele Kinder sich voller Begeisterung auf sie stürzen, sie umarmen und ihnen in die Ohren kreischen werden.«
»Verstehe.« Er konnte ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. Sie sah so zauberhaft aus mit ihren flammend roten Wangen, den leicht verwuschelten blonden Locken, in denen ein paar Strohhalme steckten, und dem Blick, in dem eine unwiderstehliche Mischung aus Sehnsucht und Hoffnung schimmerte. »Mir scheint, dein Versuchsobjekt hat es gut überstanden. Wer ist das denn? Einer der Beatles?«
Anna lachte leise. »Nein, das ist Hamish. Mit den Beatles waren Shona und ich schon draußen.«
»Schade, die Jungs hätte ich gern näher kennengelernt.«
»Da ist doch nur ein Junge dabei – Ringo nämlich. Die anderen sind Mädchen«, klärte sie ihn lächelnd auf. »Joanna, Georgia und Paula. Und Paula ist die Mama von Fohlen Stella.«
Er erinnerte sich nun daran, wie ihm Shona ihre Biester vor ein paar Wochen vorgestellt und wie er seine ignorante kleine Schwester damit aufgezogen hatte. Doch im Grunde war ihm das alles egal. Er wollte nicht über Alpakas sprechen, sondern einfach nur mit Anna zusammen sein. »Verstehe«, murmelte er daher wieder und streckte eine Hand aus. Am liebsten hätte er damit über Annas weiches Haar gestrichen, doch er wollte sie nicht überrumpeln. Stattdessen kraulte er Hamishs braun-weiß geschecktes Fell.
»Wenn du magst, können wir eine kleine Runde mit ihm, Petunia und Alvarez drehen«, sagte sie nun. »Und uns dabei unterhalten. Ich schätze mal, deswegen bist du hier, oder?«
»Hm.«
»Shona hat dich geschickt, was?« Sie lächelte, doch er meinte, etwas Wehmut darin zu erkennen. »Wenn du aber lieber wieder zurück in dein Studio willst, ist das okay. Ich komm hier auch allein zurecht.«
»Shona hat mich nicht geschickt«, stellte er klar. »Sie hat mir nur die Augen geöffnet. Und ich will sehr gerne mit dir und den kleinen Biestern spazieren gehen.«
Sie nickte nur und drückte ihm wortlos den Führstrick von Hamish in die Hand. Dann klickte sie bei zwei weiteren Tieren, von denen er annahm, dass es sich dabei um Petunia und Alvarez handelte, Zügel an die Halfter und führte sie aus dem Stall. »Was hat Shona denn gesagt, das dir die Augen geöffnet hat?«, erkundigte sie sich schließlich.
»Sie hat mir gesagt, dass du nur aus Selbstschutz mit mir Schluss gemacht hast, aus Angst davor, von mir zu hören, dass mir meine Musik wichtiger wäre als du«, fasste er ohne weiteres Federlesen zusammen.
»Mit dieser Idee hat sie mich auch konfrontiert«, gab Anna zurück – und das war nicht die Reaktion, mit der er gerechnet hatte.
»Stimmt es nicht?«
»Erstens habe ich nicht mit dir Schluss gemacht …«
»Hast du wohl! Du hast gesagt, dass wir nicht dasselbe wollen und dass ich gehen soll. Das klingt in meiner Welt eindeutig nach Trennung.«
»In meiner Welt ist das eher ein Streitgespräch gewesen. Ich war müde, gekränkt und, ja, auch ziemlich genervt von deiner Ignoranz. Und ich hatte keine Lust, auf diesem Niveau weiterzureden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber ich bin keine Expertin im Schlussmachen oder Streiten. Bislang habe ich beides eher vermieden.«
»Dann habe ich das wohl falsch verstanden«, brummte Lennox und fühlte sich massiv aus dem Konzept gebracht. »Aber was hast du denn damit gemeint, dass wir nicht dasselbe wollen? Was genau willst du?«
Anna antwortete nicht sofort, sondern stapfte, flankiert von den zwei Alpakas, weiter den Weg entlang und starrte in die Ferne. Als er schon fast damit rechnete, dass er keine Antwort bekommen würde, sagte sie schließlich: »Ich weiß es nicht ganz genau, weil ich damit nicht wirklich Erfahrung habe, aber ich glaube, ich will eine richtige Beziehung. Ich will Teil eines Paares sein, vielleicht irgendwann sogar selbst eine Familie gründen. Und ich bin mir nicht sicher, ob das der richtige Weg für dich ist. Oder überhaupt ein wünschenswerter. Und falls doch, ob ich dann die passende Begleiterin für diesen Weg wäre. Ich meine, du bist im Vergleich zu mir so kosmopolitisch, warst schon in der halben Welt unterwegs, während ich in meiner Nische zufrieden bin. Ich weiß nicht, ob ich Spaß daran hätte, herumzugondeln. Außerdem ist da noch deine Musik. Ich merke doch, wie glücklich sie dich macht und wie sehr sie dich ausfüllt. Ist da noch Platz für mehr?«
»Ich will das jedenfalls sehr hoffen«, entgegnete er mit fester Stimme. »Mein Vater hat mir gesagt, dass es für ihn fast unmöglich war, seine beiden Leben miteinander zu vereinbaren. Auf der einen Seite der erfolgreiche, weit gereiste Musiker, auf der anderen der bodenständige Familienvater. Das war der Grund, warum er einen großen Teil seiner Persönlichkeit buchstäblich beerdigt hat. Ich glaube nicht, dass er mit dieser Entscheidung glücklich war. Nein, ich weiß inzwischen, dass er es nicht war.«
»Ihr habt euch also ausgesprochen? Das freut mich sehr«, nutzte sie seine kurze Atempause.
»Ja, aber dazu komme ich später. Ich wollte erst etwas anderes sagen: Ich denke, dass es ein Fehler von Dad war, die beiden Bereiche seines Lebens so strikt zu trennen. Ich weiß, dass er es getan hat, um seine Familie zu schützen und uns aus den Medien rauszuhalten und so, aber für ihn muss es sich trotzdem immer wie eine unerträgliche Entscheidung angefühlt haben. Entweder Musiker oder Familienvater. Dabei hätte er doch beides sein können.« Er seufzte.
»Hinterher ist man häufig schlauer.«
»Vielleicht. Aber man kann auch aus Fehlern lernen. Aus seinen eigenen und aus denen anderer Menschen.« Lennox blieb stehen und wartete, bis Anna ebenfalls anhielt und ihn erwartungsvoll ansah. »Ich will jedenfalls beides. Musik und Liebe.«