ANOTHER WORLD

LENNOX WAR NUN GENAU drei Wochen in Kirkby und hatte mehr zum Nachdenken bekommen als in den letzten drei Jahren. Die klaren Ansagen von Shona und Alex waren schmerzhaft gewesen, aber eindeutig getrieben von liebevoller Anteilnahme und erstaunlicher Hellsichtigkeit. Richtig umgehauen hatten ihn aber die beiden Frauen, die ihm bislang fremd gewesen waren: Anna und Betty. Anna, die ihn mit simplem Körperkontakt im Innersten berührt hatte und deren feine Antennen ihn magisch anzogen. Und Betty, die resolute, imposante Frau, die gern den Anschein erweckte, über den Dingen zu stehen. Wobei, vielleicht war es gar nicht verwunderlich, dass zwei Künstler einander erkannten?

Er musste endlich Verantwortung für sein Leben übernehmen – das war im Grunde das, was ihm alle gesagt hatten. Manchmal mit eindeutigen Worten, manchmal leicht verbrämt. Dabei hatte er gedacht, dass er längst selbstbestimmt lebte. Schließlich war er mit sechzehn Jahren ausgezogen und nach dem beschaulichen Kirkby im trubeligen London gelandet. Natürlich war er nicht allein gewesen, er hatte Isla gehabt. Aber die war ebenso überwältigt gewesen von den Möglichkeiten der Großstadt.

Doch seine Schwester hatte den entscheidenden Vorteil gehabt, dass sie ein klares und eindeutiges Ziel vor sich gesehen hatte, das zufällig auch dem klaren und eindeutigen Ziel entsprach, das sie nach außen kommunizierte. Jeder hatte gewusst, dass sie Köchin werden wollte. Er dagegen hatte zwar ein klares und eindeutiges Ziel gehabt – Musiker zu sein –, hatte aber behauptet, er wolle Jura studieren. Es kam also wohl nicht nur darauf an, was man fühlte, sondern auch darauf, wie man handelte und wie man sich nach außen gab. Isla hatte von seinem Musikertraum gewusst und ihn ermutigt, das Jurastudium gar nicht erst anzutreten und sich stattdessen an einer Musikhochschule zu bewerben. Er hatte es nicht getan. Warum, war ihm bis heute nicht ganz klar.

Denn was hätte sein Vater schon machen können? Ihm die Unterstützung streichen? Womöglich hätte er ein Stipendium bekommen oder sich mit Gigs oder Kellnerjobs ein Zubrot verdienen können. Abgesehen davon hätte er es seinem Vater auch gar nicht sagen müssen. Zumindest fürs Erste nicht. Marlin Fraser war selbst nie nach London gekommen. Lennox’ Tante Heather, deren Schwiegervater eine international operierende Großkanzlei betrieb, hatte ein paar Strippen gezogen und für Nichte und Neffe eine Wohnung in der Stadt organisiert, die beiden dorthin gebracht und darauf geachtet, dass sie ein kleines Netzwerk an nützlichen Kontakten hatten. Heathers Tochter Robin, die acht Jahre älter war als er, hatte zu diesem Zeitpunkt als Junganwältin in der Londoner Niederlassung der Familienkanzlei gearbeitet und auch ein Auge auf die Cousine und den Cousin gehabt. Aber Marlin hätte es vermutlich niemals gemerkt, wenn Lennox einfach sein Ding durchgezogen hätte.

Warum hatte er es dann nicht getan? Warum hatte er sich verpflichtet gefühlt, zu seinem Wort zu stehen und das zu tun, was er angekündigt hatte? Jura? Ernsthaft? Selbst Robin hatte nur ungläubig den Kopf geschüttelt. Langsam glaubte er selbst, dass man ihm mit dem London-Aufenthalt eine einmalige Chance auf dem Silbertablett präsentiert hatte: die Chance, zu rebellieren! Konnte das wahr sein? Hatten womöglich alle damit gerechnet, dass er weit weg von zu Hause seinen Traum verwirklichen und darauf pfeifen würde, was er vorher gesagt hatte? Wäre das am Ende sogar für seinen Vater okay gewesen?

Dieser Gedanke traf ihn mit solcher Wucht, dass ihm der Atem stockte. In der Rückschau sah alles plötzlich so einfach und klar aus, doch damals war es ein endloser innerer Kampf gewesen, der ihn bis heute zermürbt und aufgerieben hatte. Am Ende vollkommen unnötig? Er schluckte heftig und konnte doch nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen schossen und die Trauer darüber, dass er sich so viele Jahre lang selbst sabotiert hatte, aus ihm hervorbrach.

Er wusste nicht, wie lange er geweint hatte, aber als ihn ein Schnauben ganz nah an seinem Ohr aus seiner Starre löste, war es schon ziemlich dämmrig. Er hatte sich vorhin wieder Tilly ausgeliehen und war mit ihr zu einem Ausritt aufgebrochen. An seinem Lieblingsplatz im Wald war er abgesessen, hatte das Pferd an der Quelle trinken lassen und ein paar Textideen für einen Song in sein Notizbuch geschrieben.

»Na, du Gute«, sagte er heiser zu der freundlichen Stute und streichelte ihr weiches Maul. »Sollen wir heimreiten?«

Wieder schnaubte sie und stupste ihn an der Schulter an. Er kramte in seiner Jackentasche und fand noch eine der Haferkugeln, die er vor ein paar Tagen für die Pferde gebacken hatte. Aus feinen und groben Haferflocken, vollständigen Haferkörnern, Melasse, Lavendelblüten und Honig. Seine Testobjekte waren allesamt begeistert gewesen, und Tilly bildete da keine Ausnahme. Krachend zerkaute sie die harte Kugel und forderte gleich Nachschub, indem sie weit weniger sanft als vorhin seine Jacke untersuchte.

»Leider nichts mehr da«, bekannte er lachend. »Aber ich backe morgen noch eine Riesenportion, ehe Kristie wieder das Kommando über die Backstube übernimmt.« Er schob den Pferdekopf zur Seite, damit er aufstehen konnte. Dabei fiel das Notizbuch zu Boden, das er völlig vergessen hatte. Er hob es auf und schaute noch einmal auf die Seite mit seinen letzten Eintragungen. Der Songtext begann mit der Frage »Is it time for another other world?« – »Ist es Zeit für eine weitere andere Welt?« Ein Wortspiel, das sich um einen seiner Lieblingssongs drehte.

Bei seinen Auftritten spielte er neben eigenen Stücken auch einige Coverversionen, vorwiegend Lieder von Britpop-Künstlern der Achtzigerjahre wie Eurythmics, Tears for Fears oder Starlight Lin. Von Letzteren stammte Another World, ein gleichermaßen mitreißender wie melancholischer Song, der davon handelte, dass man sich andere Lebensumstände wünschte – ohne Krieg und ohne Umweltverschmutzung auf globaler und ohne Herzschmerz und Einsamkeit auf persönlicher Ebene. Dieser Song war fünfunddreißig Jahre alt – älter als er selbst –, und doch war der Text so aktuell, als wäre er von heute. Sein eigener Text war eine Mischung aus liebevollem Zitat und der ziemlich resignierten Erkenntnis, dass sich die Welt leider nicht zum Besseren entwickelt hatte.

Seufzend steckte er das Notizbuch in die Tasche, zog den gelockerten Sattelgurt wieder fest und saß auf. Abgesehen von seinem allgemeinen Weltschmerz ging es ihm eigentlich prächtig. Das Leben in Kirkby tat ihm wirklich gut. Er schlief viel besser, hatte mehr Energie und war kreativ wie lange nicht. Dass gleichzeitig ein lang vermiedener Denkprozess ins Rollen kam, der zu ziemlich schmerzhaften Erkenntnissen führte, war wohl eine Nebenwirkung, die er in Kauf nehmen musste. Vermutlich musste es sein, dass er sich diesen Dämonen stellte.

Gemächlich ritt er in der Abenddämmerung zurück zum Stall und summte dabei eine Melodie, die zu seinem neuen Text passen könnte. Dabei fragte er sich, wie die beiden Musiker von Starlight Lin die Welt heute interpretieren würden. Leider würden er und die Welt es niemals erfahren, denn das Duo war zwei Jahre nach dem Nummer-eins-Hit Another World bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Wahrscheinlich wären sie entsetzt und traurig darüber, dass sich nichts geändert hatte.

• • •

»Ich kann es nicht fassen, dass du tatsächlich gekommen bist!« Anna umklammerte Linda wie eine Ertrinkende die rettende Holzplanke. Als ihre Freundin ihren Besuch vorgestern Nachmittag mit reichlich kryptischen Worten per WhatsApp-Nachricht angekündigt hatte, war sie noch geneigt gewesen, das als Scherz zu betrachten. Linda hatte einen ziemlich schrägen Humor und scheute nicht vor aufsehenerregenden Aktionen zurück, nur um sich ein gespanntes Publikum zu sichern. Doch sie hatte es ernst gemeint mit ihren Besuchsabsichten und hatte sich strikt geweigert, am Telefon von der erstaunlichen Erkenntnis zu berichten, für die sie angeblich Hochprozentiges brauchten. Nun stand sie an Annas Türschwelle – jeder Zentimeter der Paradiesvogel, als den man sie kannte.

»Und ich kann es nicht fassen, dass du an meinen Worten gezweifelt hast«, entgegnete Linda und lachte ihr dunkles, kehliges Lachen. »Es wurde Zeit, dass ich mir deine Eremitage in der Wildnis mal ansehe.«

Anna nahm ihr den kleinen Koffer ab und schloss die Tür hinter ihnen. »Du übertreibst schamlos. Ich lebe weder in einer Einsiedelei, noch qualifiziert sich Kirkby auch nur ansatzweise als Wildnis, aber ich bin so froh, dass du hier bist. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe.«

»Mau!«, schaltete sich Elvis ein und schmiegte sich begeistert an Lindas nackte Endlosbeine, die zwischen dem Saum ihres knappen Minirocks und der Kante ihrer schwindelerregend hohen Ankleboots genug Schmusefläche für den verknallten Kater boten.

Anna sparte sich einen Kommentar über das Outfit ihrer Freundin. Erstens war sie die schrillen Aufzüge seit Jahren gewohnt, und zweitens war sie sicher, dass Linda extra für Kirkby noch eine Schippe draufgelegt hatte – in der Hoffnung, die vermeintlich rückständigen Dörfler schocken zu können. »Wo parkst du denn?«, fragte sie stattdessen.

»Auf dem Parkplatz neben dem Rathaus«, antwortete Linda grinsend. »Ich wollte mich ein bisschen umsehen, für den Fall, dass du mich in deiner Bude einsperrst und erst am Sonntag wieder gehen lässt.«

»Warum sollte ich? Ich habe für heute Abend extra einen Tisch im Pub reserviert, um dir einen großen Auftritt zu ermöglichen.«

»Im Pub? Bin ich dir also nicht euer grandioses Sternerestaurant wert?«, erkundigte sich Linda gespielt gekränkt.

»Doch, aber da ist das Publikum so weltläufig, dass du keinen Unterschied zu Edinburgh oder sogar London feststellen könntest. Und dein Ziel ist es doch, für maximale Unruhe im Dorf zu sorgen, oder?« Sie zwinkerte ihr zu und ging dann in die Küche. »Kaffee oder Aperitif?«

»Dafür, dass du so irre clever bist, stellst du manchmal ganz schön dumme Fragen, Süße«, entgegnete Linda. »Wo kann ich mich denn frisch machen?«

Anna deutete auf die Badezimmertür und begann, zwei Gin Tonics vorzubereiten. Elvis maunzte laut. »Was ist los? Hast du bei deinen Streifzügen nichts zu fressen bekommen?«, fragte sie ihn, füllte dann aber brav seinen Napf.

»Herrlich!«, befand Linda kurz darauf mit einem Blick auf die gut gefüllten Gläser und ließ sich in die weichen Sofapolster sinken.

Anna stellte einen Teller mit dem restlichen Shortbread auf den Couchtisch, reichte Linda den Longdrink und nahm selbst Platz. »Cheers«, prostete sie ihr zu und trank einen großen Schluck.

»Wow, der ist gut!«, lobte Linda und klang dabei so überrascht, dass sich Anna fast eine Spur gekränkt fühlte. Als hätte sie schon mal schlechten Alkohol serviert.

»Der Gin ist aus Kirkby, den haben Isla und Shona Fraser kreiert. Er heißt Alpaca Thistle

»Bescheuerter Name, aber lecker.« Linda grinste. »Na ja, mit irgendwas muss man sich in der Wildnis ja die Zeit vertreiben.«

»Du bist wirklich unmöglich.« Anna wusste, dass Linda sie nur necken wollte, doch bei ihren Worten blieb ein kleiner Stich zurück. Kirkby war inzwischen ihre Heimat geworden. Sie liebte den Ort und seine Einwohner und wünschte sich, dass Linda ihre Gefühle, wenn schon nicht teilen, dann wenigstens nicht lächerlich machen würde. Aber das behielt sie für sich. Sie hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion. Außerdem würde Linda an diesem Wochenende ohnehin selbst erleben können, wie cool Kirkby in Wirklichkeit war.

»Dafür liebst du mich«, sagte Linda und streckte eine Hand nach Anna aus. »Hey, kein Grund, so einen Flunsch zu ziehen. Ich veräpple dich nur, weil ich in Wirklichkeit so traurig bin, dass du aus Edinburgh weggegangen bist. Ich vermisse dich nämlich sehr. Wir alle vermissen dich sehr. Du warst das Herz unserer kleinen Familie.«

»Finlay ist das Herz«, widersprach Anna und dachte an ihren Freund, dem sie so vieles zu verdanken hatte. Vor allem ihre Liebe zum Yoga.

»Dann bist du eben unsere Seele. Und selbst wenn du nur ein Finger oder eine Zehe wärst, würden wir dich vermissen.«

»Ich vermisse euch auch«, gab Anna zu und fühlte sich zunehmend wehmütig.

»Warum kommst du dann nie zu Besuch?«

»Du weißt, warum.« Anna seufzte. Sie hatten dieses Gespräch schon so oft geführt. Sie war absolut überzeugt davon, dass man sich an einem neuen Ort schneller heimisch fühlte, wenn man den vorherigen mied. Vor allem dann, wenn man dort gern gelebt hatte. Ähnlich war es mit gescheiterten Beziehungen. Da war es sicherlich auch besser, wenn man nach der Trennung keinen Kontakt mehr zu seinem Expartner hielt. Zumindest solange der Schmerz noch spürbar war. Nicht dass sie Expertin wäre, in beiden Fällen …

»Ja, ich weiß. Auch wenn ich es ganz anders sehe. Aber jetzt bin ich ja hier und freue mich auf ein schönes Wochenende mit dir, und vielleicht sind deine Wurzeln inzwischen stark genug, dass du dich demnächst auch schmerzfrei wieder in die alte Heimat bewegen kannst.«

»Davon gehe ich aus. Aber jetzt will ich langsam mal wissen, warum genau du hier bist. Was hast du entdeckt, das du mir nicht am Telefon erzählen konntest? Oder war das am Ende nur eine seltsame Ausrede für dich selbst? Meinetwegen hättest du es nämlich nicht so spannend machen müssen. Mich hätte schon die schlichte und grundlose Ankündigung, dass du zu Besuch kommst, in Ekstase versetzt.«

»Ehrlich gesagt habe ich gehofft, dass dich jemand anders in Ekstase versetzt«, nahm Linda prompt den unbedacht hingeworfenen Faden auf. »Wie sieht’s aus? Bist du bei Lennox inzwischen weitergekommen?«

»So kann man es nicht ausdrücken.« Anna seufzte und reichte Linda den Teller mit den Keksen. »Erstens hatte ich ja gar nicht geplant, ›weiterzukommen‹ – was auch immer das heißt –, und zweitens habe ich ihn seit unserem Telefonat kaum noch gesprochen. Er hat sich nämlich zu einem spontanen Karrierewechsel entschlossen und die Bäckerei seiner Cousine übernommen. Probier mal, die sind von ihm.«

»Shortbread in Katzenköpfchenform?« Linda nahm sich ein Stück und biss ein Ohr ab. »Köstlich«, schmatzte sie. »Aber wieso wird ein Musiker plötzlich zum Bäcker?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, entgegnete Anna. »Er wollte seiner Cousine die Teilnahme an einer Tanzlehrerausbildung auf der Isle of Skye ermöglichen, aber ich wusste nicht, dass er professionell genug ist, um praktisch aus dem Stand alles zu übernehmen. So trivial ist Backen ja nun auch nicht. Und das Shortbread ist sensationell.«

»Das stimmt, aber ich denke, dass er als Musiker noch besser ist«, sagte Linda und klang ein bisschen nachdenklich. »Es wäre jammerschade, wenn er diesen Karrierepfad verlassen würde.«

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass es für immer sein soll. Irgendwann dieses Wochenende kommt Kristie zurück, und dann dürfte sein Gastspiel in der Backstube ohnehin wieder beendet sein.«

»Hast du dir inzwischen mal ein paar Videos mit Auftritten von Len X angesehen?«, bohrte Linda nach.

»Ja, ein oder zwei«, gab Anna zu – und das war auch nicht gelogen. Ein oder zwei verschiedene Clips pro Tag – mehr war es nicht gewesen, auch wenn sie manche in Dauerwiederholung hatte laufen lassen. Doch das musste Linda nicht wissen, sonst würde ihre schmutzige Fantasie endgültig keine Grenzen mehr kennen. »Möchtest du noch einen Schluck?«, fragte sie rasch und deutete auf Lindas leeres Glas. Ihr eigenes war dagegen noch halb voll.

»Einen kleinen vielleicht noch. Der ist wirklich außergewöhnlich lecker. Geschmacklich erinnert er mich an eine blühende Sommerwiese, und wenn ich die Augen schließe, sehe ich tatsächlich Disteln vor mir – obwohl ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie Disteln schmecken.«

»Ich werde Shona und Isla ausrichten, dass ihr Konzept selbst bei Menschen wie dir funktioniert.« Anna stand auf und holte die Gin- und die Tonicflasche aus der Küche.

»Wer sind denn bitte schön Menschen wie ich?«, fragte Linda leicht indigniert.

»Na so versierte urbane Schnapsdrosseln, wie du eine bist«, entgegnete Anna lächelnd und goss nach. »Soweit ich weiß, haben die beiden nicht versucht, auch noch Alpakas aromatisch abzubilden. Das ist nur der Markenname.«

»Das beruhigt mich enorm …« Linda hob eine Braue. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich mehr wissen will.«

»Schade, denn es gäbe eine Menge zu erzählen. Shona hat inzwischen eine richtige Alpakaherde, und wir sind dabei, ein Konzept für Alpakawanderungen einerseits und Alpakatherapie andererseits auszuarbeiten. Ich lese mich gerade ein. Alpakas gelten wohl als ziemlich perfekte Therapietiere – sie sind freundlich, geduldig und haben derart seelenvolle Augen, dass jeder sofort Vertrauen zu ihnen fasst.«

»Und sie sind zum Gähnen langweilig.« Linda winkte ab. »Nichts gegen diese Plüschis, wirklich nicht, aber deshalb bin ich nicht hier.«

»Einen Versuch war’s wert. Freiwillig willst du mir ja nicht verraten, was der Grund für deinen überraschenden Besuch ist.« Anna grinste und prostete ihrer Freundin erneut zu.

»Das erfährst du noch früh genug. Aber zurück zu deinem Len. Du hast also ein paar Videos von ihm gesehen, ja?«

»Hab ich ja gesagt.«

»Und?«

»Was und? Ich verstehe ja nicht viel von Musik, aber ich höre ihm gern zu, wenn er singt – egal, ob es seine eigenen Songs sind oder Coverversionen. Er hat eine unglaubliche Bühnenpräsenz und mehr Ausstrahlung als so mancher Popstar. Gegen ihn finde ich einen Ed Sheeran fast ein bisschen lahm.«

»Und das aus deinem Mund.« Linda machte große Augen, denn sie wusste um Annas große Ed-Sheeran-Schwäche.

»Ich weiß auch nicht. Die beiden sind etwa gleich alt, und natürlich ist Ed unfassbar viel bekannter und erfolgreicher, aber Lennox wirkt … ich weiß nicht, wie ich’s beschreiben soll.«

»Ed Sheeran macht dir gute Laune und Len ein feuchtes Höschen«, stellte Linda vergnügt fest. »Ich bin langsam richtig gespannt auf diesen Wunderknaben. Denkst du, er ist gleich auch im Pub?«

»Keine Ahnung, ich hab ihn nicht nach seinen Plänen gefragt.« Anna räusperte sich. Insgeheim wünschte sie sich, dass er da sein würde, doch andererseits war es Linda ohne Weiteres zuzutrauen, dass sie Anna völlig vor ihm blamierte. Und sie war sich nicht sicher, wie der empfindsame Lennox auf die ausgesprochen extrovertierte und direkte Linda reagieren würde. »Es wäre vielleicht besser, wenn er nicht da ist«, fügte sie daher hinzu.

»Warum? Hast du Angst, dass ich ihn dir ausspannen könnte?«

Anna verdrehte die Augen. »Quatsch. Außerdem kann man nichts ausspannen, was nicht vorher eingespannt wurde. Aber du könntest ihn …«

»Verschrecken? Auf unzüchtige Gedanken bringen?« Lindas kehliges Lachen dröhnte in Annas Wohnzimmer. Offenbar fand sie das alles wahnsinnig lustig. »Keine Sorge, seine zarte Künstlerseele ist sicher vor mir. Im Gegenteil, ich halte ihn für wahnsinnig talentiert und würde ihn gern fragen, ob er Lust auf ein paar Gigs in unserer Winterfestivalreihe hat.«

»Echt?« Nun war Anna überrascht. Mit so einer konkreten Ansage von ihrer Freundin hätte sie nicht gerechnet. Linda war verantwortlich für das Künstler-Booking beim Fringe-Festival und auch bei den zahllosen kleineren Konzertreihen, die übers Jahr in Edinburgh stattfanden. Sie kannte sich in der Szene wirklich gut aus und hatte ein untrügliches Gespür für neue, heiße Talente.

»Ja. Ganz echt. Aber vorher muss ich noch eine Sache mit ihm klären, die mir keine Ruhe lässt.«

»Das hört sich schon wieder reichlich ominös an.« Anna runzelte die Stirn. »Bist du am Ende gar nicht wegen mir hier, sondern seinetwegen?«

»Sei nicht albern, Süße. Natürlich bin ich wegen dir hier. Aber meine aufregende Entdeckung hat rein zufällig auch was mit ihm zu tun.«

»Rein zufällig?«

Linda zuckte mit den Schultern. »Nicht meine Schuld, dass der Zufall seine verrückten fünf Minuten hatte. Und wann gibst du endlich zu, dass du in ihn verknallt bist?«

»Sobald es so weit ist. Was ich für extrem unwahrscheinlich halte.« Ihre innere Stimme meldete sich leicht protestierend zu Wort, aber Anna ertränkte sie mit den letzten Schlucken von ihrem Drink. Sie hatte keine Lust auf verwirrende innere Dialoge, zusätzlich zu den nicht minder verwirrenden äußeren. »Wollen wir langsam los? Ich bin mir sicher, dass sich Kirkbys High Society schon vollzählig im Pub versammelt hat, um meinen Gast kennenzulernen.« Sie stand auf und brachte die leeren Gläser in die Küche. Ihr Spruch war zwar nur so dahingesagt gewesen, doch sie fürchtete, dass mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit darin steckte. Jon hatte sich bei ihrer Tischreservierung gestern jedenfalls sehr interessiert nach Details erkundigt.

Tatsächlich war der Wise Pelican gerammelt voll, als Anna und Linda den Pub eine knappe Viertelstunde später betraten, und wie im Film schienen die Gespräche schlagartig zu verstummen. Anna konnte es den Leuten kaum verübeln, denn so einen schillernden Paradiesvogel wie Linda sah man in Kirkby nicht allzu oft. Ihre Freundin genoss den Auftritt offensichtlich. Sie reckte ihre stattlichen hundertfünfundachtzig Zentimeter Körperlänge, die sie auf den schwindelerregend hohen High Heels balancierte, noch ein Stückchen höher, schwang ihre schmalen Hüften ein bisschen mehr als unbedingt nötig und warf sich schwungvoll die schwarze Lockenmähne über die Schulter. Anna musste sich ein Lachen verbeißen, denn es war wirklich urkomisch.

»Welch ein Glanz in meiner bescheidenen Hütte«, sagte Jon grinsend zur Begrüßung. »Darf ich die Damen an ihren Tisch führen?« Er lotste sie an einen Tisch in der Nähe des Tresens, wo man den ganzen Pub im Blick hatte und selbst auf dem Präsentierteller saß. Der Wirt musterte Linda derart unverhohlen, dass Anna es fast peinlich fand. Ausgerechnet von Jon hätte sie so ein Verhalten nicht erwartet. Doch dann überraschte er sie mit dem Ausruf: »Wir kennen uns, nicht wahr? Du arbeitest fürs Fringe-Festival.«

»Stimmt.« Linda schaute ihn ihrerseits durchdringend an und schien zu überlegen, ob sie ihn kannte. »Haben wir uns schon mal gesehen?«

»Einmal kurz, ganz flüchtig. Ich bin Jon Grant, die Werbeagentur meiner Familie hat vor ein paar Jahren den Marken-Relaunch fürs Fringe gemacht. Vermutlich kennst du eher meine Schwester Carla.«

Linda nickte. »Du bist Carlas Bruder?«, fragte sie verblüfft. »Ich dachte, du leitest die Niederlassung in London?«

»Das habe ich bis vor anderthalb Jahren auch gemacht, zusammen mit meinem älteren Bruder. Doch dann habe ich die Werbung an den Nagel gehängt.«

»Und bist nach Kirkby abgewandert, um als Pubwirt zu arbeiten?« Nun klang Linda fast schon fassungslos.

»Es gibt schlimmere Schicksale.« Jon grinste breit. »Ich find’s großartig hier, und Anna scheint sich auch wohlzufühlen.«

»Ihr seid doch alle irre«, murmelte Linda und blickte mit leicht geöffnetem Mund zwischen Jon und Anna hin und her, als wäre sie sich nicht ganz sicher, was sie von alldem halten sollte.

»Volltreffer, Jon. Du hast geschafft, was vorher noch nie jemandem gelungen ist: Linda ist sprachlos.« Anna lachte glockenhell. Der Geräuschpegel in der Kneipe hatte wieder das übliche Niveau erreicht. Entweder diskutierten die Leute gerade über die Neuankömmlinge, oder – und das kam ihr wahrscheinlicher vor – sie hatten schlicht ihre Gespräche von vorher wieder aufgenommen. »Wo habt ihr beiden euch denn schon mal gesehen?«, wollte sie noch wissen.

»Ich glaube, das war bei einer Weihnachtsfeier vor zwei oder drei Jahren, oder?«

Linda nickte erst, dann schüttelte sie den Kopf. »Ja, kann sein. Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum plötzlich alle in dieses Kaff ziehen.«

»Wart’s ab. Vielleicht willst du ja auch nicht mehr zurück.«

»Das halte ich für extrem unwahrscheinlich.« Linda schnaubte, schien sich jedoch langsam wieder zu fangen. »Aber ich bin sehr gespannt, was der weise Pelikan an kulinarischen Highlights zu bieten hat.«

»Ich bring euch gleich die Karte«, versprach Jon. »Als Tagesgericht haben wir frischen Fischeintopf und ein wirklich mörderisch scharfes Curry. Was wollt ihr denn trinken?«

»Der Fischeintopf ist sensationell«, schwärmte Anna. »Sollen wir den nehmen? Dann könnten wir eine Flasche Weißwein dazu trinken.«

»Ookay«, erwiderte Linda gedehnt. Ganz traute sie dem Laden wohl noch nicht. »Was habt ihr denn für Weine?«

»Ich kann euch gerne unsere Weinkarte bringen, aber ich würde einen südafrikanischen Chenin blanc empfehlen«, antwortete Jon.

»Es gibt hier eine Weinkarte? In einem Dorfpub in der Wildnis?«

»Linda, langsam wird’s echt ein bisschen blöd mit deinen Vorurteilen«, sagte Anna, eine Spur genervt. »Wir sind hier nicht in der Wildnis, und ja, es gibt eine Weinkarte. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn Jon liebt gute Küche und gute Getränke, und außerdem ist er mit Isla Fraser verlobt. Glaubst du, eine Sterneköchin würde zulassen, dass es im Restaurant ihres Freundes Speisen und Getränke in unterdurchschnittlicher Qualität gibt? Ich würde einfach mal behaupten, dass das Essen hier im Pub besser ist als das in den meisten der Läden, die du in Edinburgh so gerne frequentierst. Denn da geht es vorwiegend um Show und weniger um Qualität.«

»Wow, das ist auch eine Premiere«, bemerkte Jon und klang beeindruckt.

»Was?«, fragten Anna und Linda gleichzeitig.

»Dass die immer freundliche Anna verärgert ist.« Er schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Dann darf ich euch also zweimal Fischeintopf und eine Flasche Chenin servieren? Wasser dazu?«

»Gern.« Anna nickte bestätigend und fügte dann noch hinzu: »Und ich bin nicht wirklich verärgert.«

»Ich hab’s schon kapiert«, sagte Linda zerknirscht, als Jon verschwunden war. »Sorry, dass ich den Bogen überspannt habe.«

»Schon gut. Aber da du ja die große Vorreiterin für Toleranz und Offenheit bist, fände ich es schön, wenn du diese Tugenden auch in Bezug auf meine neue Heimat in Stellung bringst. Ich fühle mich nämlich sehr wohl hier, und wenn du mal die Augen aufmachst, erkennst du vielleicht auch, warum das so ist.« Für Anna war das Thema damit beendet. Sie hatte keinen Bedarf an mehr Drama und wollte einfach nur den Abend mit ihrer ältesten und liebsten Freundin genießen.

Es wurde dann auch ein sehr lustiger Abend, mit jeder Menge wechselnder Tischgenossen. Shona und Kendrick schauten kurz vorbei und sagten Hallo, Hailey leistete ihnen bei einem sündigen Schokoladendessert Gesellschaft, und eben war auch noch Bürgermeister Collum McDonald dazugekommen, der seine Faszination nicht verbergen konnte.

»Ein Musikfestival würde in Kirkby auch funktionieren«, sagte er im Brustton der Überzeugung, sodass Anna sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte.

»In Kirkby kann alles funktionieren«, stimmte sie ihm augenzwinkernd zu.

»Natürlich, aber gerade nach Musik sind die Highlander verrückt, und für die Besucher wäre es ein tolles Angebot. Ich könnte mir vorstellen, dass wir die Stewarts mit ins Boot holen und Monroe Manor zum Hauptveranstaltungsort machen. Auf den Ländereien wäre auch genug Platz für Camping im Sommer …«

»Collum!«, unterbrach ihn Hailey lachend. »Krieg dich wieder ein. Selbst wenn du Tante Heather und Onkel George mit ins Boot bekämst – was ich nicht für superwahrscheinlich, aber auch nicht für vollkommen abwegig halte –, wie willst du das gegen Onkel Marlin durchsetzen? Der würde auf die Barrikaden gehen.«

»Ja, und? Der alte Zausel macht doch nichts lieber, als querzuschießen. Das hält ihn jung.« Collum schien dieses Argument nicht zu beeindrucken. »Für so ein Festival wäre es natürlich toll, wenn wir die Expertise und die Kontakte eines Profis nutzen könnten«, fuhr er fort und sah Linda mit einem derart treuherzigen Hundeblick an, dass Anna sich vor Lachen an ihrem Wein verschluckte.

»Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, entgegnete Linda mit huldvollem Lächeln. »Aber es gibt zwei Hindernisse. Mindestens.«

»Hindernisse sind dafür da, dass man sie aus dem Weg räumt!« Collum richtete sich auf und wirkte dabei wie ein Gockel, der seine Federn aufplustert.

»Erstens«, fuhr Linda fort, »gibt es in der Gegend ja schon seit Jahren das ›Belladrum Tartan Heart Festival‹, das so etabliert ist, dass man gar nicht erst zu versuchen braucht, ihm Konkurrenz zu machen. Und zweitens habe ich bereits einen Job, der mir Spaß macht und mich fordert.«

Collums Gefieder büßte sichtlich Volumen ein, wie Anna amüsiert feststellte, doch er ließ nicht locker. »Gut, das Belladrum hatte ich kurzzeitig nicht auf dem Schirm. Aber man könnte es ja anders aufziehen und einen anderen Fokus wählen. Vielleicht kleinere Indoor-Events im Winter. Da käme wieder das Haus der Stewarts ins Spiel. Aber was deinen Job betrifft, darüber könnte man doch bestimmt reden, oder?«

»Eher nicht«, gab Linda augenzwinkernd zurück. »Versteh mich nicht falsch, hier ist es zweifellos hübsch, und langsam verstehe ich auch den Reiz, den Kirkby auf Anna und Jon ausübt. Aber ich bin eine lupenreine Großstadtpflanze und halte es für extrem unwahrscheinlich, dass sich das jemals ändern wird.«

»Außerdem ist Colleen unsere Event-Koordinatorin«, warf Anna ein. »Schon vergessen?«

»Wie könnte ich?«, verteidigte sich Collum. »Ich habe den Job ja extra für sie geschaffen. Aber Colleen hat keine Ahnung von Musik – soweit ich weiß, jedenfalls –, und außerdem ist sie schwanger.«

»Aber nicht mehr so lange. Das Baby kommt in ein paar Wochen zur Welt, und im Frühjahr oder im Sommer wird sie wieder arbeiten«, sagte Anna.

»Was ist außerdem aus deinen Plänen für das Outlander-Erlebniscenter geworden?«, wollte Hailey wissen.

»Outlander-Erlebniscenter?«, hakte Linda ein. »Das klingt spannend.«

»Ist es auch, und ich bin nach wie vor dran. Aber die Genehmigungsverfahren ziehen sich, und ich schätze, wir müssen das Konzept noch einmal grundlegend überarbeiten. Mir schwebt einerseits eine Art Dauerausstellung vor, die das ganze Jahr geöffnet ist und sicher viele Besucher anziehen würde, andererseits eine Veranstaltungsreihe im Sommer, bei der wir die ikonischsten Szenen der Romanreihe nachstellen. Da käme dann auch wieder Musik ins Spiel. Das könnte man prima mit einem Konzert-Event kombinieren.«

»Und natürlich mit Wettbewerben, wer der beste Jamie-Doppelgänger ist, stimmt’s? Dafür würde ich mich glatt als Jurorin anheuern lassen.« Linda ließ ihr dunkles Lachen hören, was Collum dazu brachte, heftig zu schlucken und sein Gefieder wieder zu plustern.

Langsam bekam Anna Mitleid mit ihm und wollte schon eingreifen, doch dann fing sie einen Blick von Hailey auf, die unauffällig den Kopf schüttelte. Das sollte wohl heißen, dass man den armen Bürgermeister ruhig ein bisschen schmoren lassen sollte.

»Ich denke, das ließe sich einrichten«, erwiderte er und räusperte sich heftig. »Darf ich die Damen noch auf eine weitere Runde einladen?«

»Aber unbedingt!« Linda zeigte ihr Haifischlächeln und setzte dann zum Todesstoß an: »Ich könnte mir übrigens gut vorstellen, dass du einer der heißesten Anwärter auf den Sieg wärst«, gurrte sie – und diesmal war es Hailey, die sich an ihrem Bier verschluckte, so heftig, dass Anna kurz davor war, erste Hilfe zu leisten.

»Du bist wirklich wahnsinnig witzig«, japste Hailey um Atem ringend in Richtung Linda.

Anna schüttelte den Kopf, sagte aber nichts, und Collum schien sich nicht gekränkt zu fühlen. Ganz im Gegenteil. Mit stolzgeschwellter Brust wandte er sich zum Tresen um und rief: »Jon, bringst du uns bitte meinen Whisky und vier Gläser?«

»Du hast hier deine eigene Flasche Whisky?« Linda hob eine Braue, und Anna applaudierte ihrer Freundin im Stillen dafür, dass sie bewundernd und nicht ironisch klang, obwohl sonnenklar war, dass Linda sich nach Strich und Faden über den armen Kerl lustig machte.

»Ich habe sogar mein eigenes Fass! Aber es dauert noch ein paar Jahre, bis man den trinken kann. Das war die Erstabfüllung aus unserer neuen Destillerie. Shona hat im Sommer einige Fässchen für einen guten Zweck versteigert. Natürlich habe ich da auch zugeschlagen. Aber bis es so weit ist, dass wir diesen Tropfen genießen können, habe ich immer eine Flasche von meinem Lieblingswhisky bei Jon im Regal.«

»Wie das halbe Dorf, weil es günstiger ist, das Zeug flaschenweise zu ordern statt glasweise«, zerstörte Hailey grinsend die Wirkung seiner Worte.

»Das ist Ausdruck meiner Gastfreundschaft«, verteidigte er sich.

»Das ist eher Ausdruck typisch schottischer Sparsamkeit!«, beharrte Hailey.

»Egal wie, ich bin gespannt, worauf ich mich freuen darf«, warf Linda ein und ließ ihren Blick durch den Gastraum schweifen. »Wer sind eigentlich die Leute an dem Tisch da drüben, die uns die ganze Zeit schon so finster anstarren?«, wollte sie wissen.

»O, das sind der Pfarrer, die Königin, der Pferdeflüsterer und der Hufschmied«, zählte Anna auf und winkte dem Quartett fröhlich zu. Ihr waren die Blicke der vier auch schon aufgefallen. Irgendwas schien ihnen massiv zu missfallen. Ob es die schillernde Linda war? Oder hatten sie womöglich ein paar Gesprächsfetzen mitgehört? »Outlander« und »Musikfestival« dürften Stichworte sein, die bei Marlin für reichlich miese Laune sorgten.

»Klingt nach einer interessanten Runde«, befand Linda grinsend. »Der eine Typ kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Interessierst du dich für Pferde? Mein Dad taucht relativ oft in irgendwelchen Fachzeitschriften auf, und ab und zu auch im Fernsehen. Vielleicht hast du ihn da ja gesehen?«, mutmaßte Hailey. »Er ist der Große mit dem wirren roten Bart.«

»Pferde?« Linda schüttelte sich. »Gott bewahre. Nein, den mein ich auch nicht, sondern den drahtigen Typen neben ihm.« Sie runzelte die Stirn.

»Das ist Marlin Fraser, der Vater von Lennox, Shona, Isla und Alex – und Onkel von Hailey«, erklärte Anna. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, woher du ihn kennen könntest. Er lebt ziemlich zurückgezogen und vermeidet es, Kirkby zu verlassen. Er kann es auch nicht leiden, wenn hier im Ort zu viel Trubel ist und zu viele Touristen unterwegs sind. Deshalb ist er auch so massiv gegen das Erlebniscenter.«

Linda zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber das Gesicht kommt mir total bekannt vor. Vielleicht täusche ich mich aber auch und verwechsle ihn.«

»Marlin Fraser ist der geheimnisvollste Mann hier im Ort«, stellte Jon fest, der gerade mit dem Whisky und den Gläsern an den Tisch trat und die letzten Sätze offensichtlich noch mitgehört hatte.

»Eher der geheimniskrämerischste«, korrigierte Hailey und rollte mit den Augen.

»Zweifellos der renitenteste und sturste«, versuchte Collum, das noch zu toppen.

»Klingt fast so, als müsste ich ihn unbedingt kennenlernen.« Linda grinste.

»Aber jetzt trinken wir erst mal auf diesen schönen Abend und darauf, dass wir uns kennengelernt haben«, sagte Collum eilig, offensichtlich bemüht, Lindas Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. Er goss recht großzügige Mengen in die Gläser und prostete den Frauen zu. »Linda, ich freue mich sehr, dich getroffen zu haben, und hoffe, dass du Anna in Zukunft häufiger besuchst. Solltest du jemals nach einem neuen Job Ausschau halten oder doch Lust aufs Landleben verspüren, dann wende dich bitte jederzeit vertrauensvoll an mich.«

»Und wenn die Hölle zufriert, bist du auch der Erste, bei dem ich Unterschlupf suche«, fügte Linda frech hinzu, schenkte dem Bürgermeister dann aber einen kecken Augenaufschlag. »Cheers!«

»Slàinte«, setzten Collum und Hailey dagegen, und auch Anna hielt es mit dem gälischen Wort.

»Slàinte«, beugte sich schließlich auch Linda den lokalen Gepflogenheiten – nicht ohne leicht die Augen zu verdrehen.

Anna schaute auf die Uhr. Es war schon nach elf, und sie sah jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder sie versackten völlig in der Kneipe und wären dann morgen total ausgeknockt. Oder sie gingen nach Hause. Zumal Linda ihr ja noch eine Erklärung schuldete. Anna war zwar immer noch nicht sicher, dass sich das Ganze am Ende nicht doch als irgendeine Finte erweisen würde, aber sie wollte es unbedingt herausfinden. Das kam ihr selbst etwas merkwürdig vor, denn übermäßig neugierig war sie normalerweise nicht. Doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass etwas Größeres im Busch war und dass es schlau wäre, sich dafür noch einen Rest Nüchternheit zu bewahren. Sie gähnte demonstrativ und zupfte Linda am Ärmel. »Ich glaube, es wird Zeit für uns. Vielen Dank für den Whisky, Collum.« Um weitere Diskussionen zu vermeiden, stand sie auf und ging zum Tresen, um das Abendessen zu bezahlen, holte ihre und Lindas Jacke von der Garderobe und scheuchte ihre Freundin Richtung Ausgang.

»Gerade als der Abend anfing, spaßig zu werden«, beklagte sich Linda und warf beim Rausgehen noch mal einen Blick auf Marlin Fraser.

»Der Abend ist ja noch nicht vorbei«, entgegnete Anna, als sie draußen vor der Tür waren, und kuschelte sich fröstelnd in ihre warme Jacke. Die klare, kühle Nachtluft belebte ihre Sinne. »Ich will jetzt keine weiteren Ausreden mehr hören, sondern endlich erfahren, was diese erstaunliche Entdeckung ist, wegen der du angeblich hier bist.«

»Die hat womöglich gerade noch eine spannende Facette dazubekommen.« Lindas Stimme hatte einen merkwürdigen Tonfall angenommen, aber sie wehrte sich nicht, als Anna sie zu ihrer Wohnung scheuchte.

Oben angekommen zog Linda, noch in Jacke und Schuhen, ihr Tablet aus der Handtasche und rief ein Video auf, das Anna bereits kannte: Lennox, wie er den alten Starlight-Lin-Hit Another World beim diesjährigen Fringe-Festival sang.

»Ich kenne das Video«, sagte Anna. »Cooler Song, großartiger Sänger.« Sie hatte keine Ahnung, worauf Linda hinauswollte. Das war jedenfalls keine erstaunliche Entdeckung.

»Hast du auch die Kommis gelesen, die darunter aufgelistet sind?«, wollte Linda wissen und schälte sich aus ihrer Jacke.

»Nein. Warum auch?«

»Deswegen.« Linda scrollte durch die zahlreichen Kommentare und las dann einige davon vor: »Pass mal auf. Da hätten wir diesen hier: ›Hammer-Typ – klingt so krass wie das Original, dass ich Gänsehaut bekomme!‹ Oder diesen: ›Ist euch schon mal aufgefallen, dass Len X wirklich haargenau so klingt wie Lin von Starlight Lin? Er sieht dem Sänger sogar ähnlich!‹ Oder diesen hier: ›Ich war vor fünfunddreißig Jahren bei einem Konzert von Starlight Lin und musste jetzt drei Mal nachschauen, von wann dieses Video ist. Das kann nicht sein!!‹«

»Ist ja schräg«, gab Anna zu, fand es aber immer noch nicht wirklich spektakulär. Dann war Lennox eben ein begnadeter Sänger, der rein zufällig eine ähnliche Stimme wie ein anderer hatte. »Aber ist es auch so außergewöhnlich, dass du deshalb extra von Edinburgh nach Kirkby gekommen bist?«

»Warte es einfach ab.« Linda rief ein weiteres Video auf. Diesmal war da die Originalband zu sehen, die Another World darbot. Es stimmte, die Stimmen klangen ähnlich, aber keinesfalls identisch. Was Anna allerdings stutzig machte, war der Habitus des Sängers – die Art und Weise, wie er sich bewegte, wie er das Mikrofon hielt, zwischendurch immer mal die Augen schloss, nur um später wieder selbstvergessen ins Leere zu blicken. Das alles war ihr auch bei Lennox aufgefallen.

»Vielleicht kennt Lennox dieses Video und hat versucht, sein Idol so präzise wie möglich nachzuahmen?« Das könnte eine schlüssige Erklärung sein. Allerdings auch eine, die Anna irrational enttäuschte. Sie hätte Lennox nicht zugetraut, dass er einen anderen Sänger einfach kopierte. Das passte doch gar nicht zu ihm, oder?

»Hältst du das für sehr wahrscheinlich? Ich nicht. Wenn du dir nämlich die Videos mit seinen eigenen Songs anschaust, dann ändert sich an seiner Performance nichts. Er singt jedes Lied mit der gleichen Intensität, egal ob Coverversionen oder eigenes Material. Und er wirkt dabei absolut authentisch. Man kann ganz sicher eine genaue Kopie hinkriegen – Coverbands beweisen das ja jeden Tag –, aber das hier ist echt, da bin ich mir total sicher. Falls Lennox es nämlich wirklich auf Kopien oder Parodien anlegen würde, dann wäre das ja wohl auch bei den anderen Bands so. Er covert ja auch Songs von Tears for Fears und Eurythmics, die reichlich exaltierte Performances hatten. Aber auch bei deren Liedern bleibt er sich selbst treu.«

»Hm.« Anna kratzte sich nachdenklich am Kopf. Es war viel Wahres an Lindas Worten, aber einen Sinn ergab es trotzdem nicht. »Vielleicht ist es einfach nur Zufall? Ich meine, so unfassbar originell und außergewöhnlich ist es ja nicht, wie sich Lennox und dieser Lin auf der Bühne geben. So eine Ähnlichkeit kann doch rein zufällig sein.«

»Mag sein, aber das erklärt nicht, dass die beiden sich so ähnlich sehen«, gab Linda zu bedenken.

»Ich weiß nicht. Wo kann man denn eine Ähnlichkeit feststellen? Höchstens beim Körperbau.« Sie deutete auf das stark geschminkte Gesicht des Starlight-Lin-Sängers. »Gibt es irgendwo Fotos von ihm und seiner Partnerin, die sie ohne Make-up zeigen?«

»Ich habe keins gefunden. Aber die kantige Kinnpartie, der intensive Blick – ich finde, das sieht echt verdammt ähnlich aus.«

»Meinst du? Aber was für eine Erklärung hast du dafür? Die beiden Musiker von Starlight Lin sind doch vor über dreißig Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Lennox kann gar nicht Lin sein – auch wenn die Namensähnlichkeit auffällig ist.«

»Natürlich kann er es nicht selbst sein. Aber er könnte sein Sohn sein!«, ließ Linda ihre Bombe platzen.

»Sein Sohn? Aber Lennox ist doch viel zu jung. Er ist höchstens dreißig und demnach Jahre nach dem Tod des Sängers geboren. Außerdem lebt sein Vater ja noch. Du hast ihn vorhin doch selbst gesehen.«

»Ja, hab ich. Und dabei ist mir aufgefallen, dass dieser alte, schlecht gelaunte Mann denselben Körperbau hat. Genau so könnte ein gut gealterter Lin heute aussehen. Er erinnert mich total an Sting. Der hat seinen Look über die Jahrzehnte zwar mehrfach komplett geändert, aber die schiere Physis ist immer noch unverwechselbar.«

»Was willst du damit andeuten?«, fragte Anna atemlos.

»Vielleicht ist Lin gar nicht gestorben, sondern lebt heutzutage als Hufschmied in einem öden Kaff in den Highlands.« Linda blickte sie herausfordernd an. »Allein der Name Lin – das könnte ja auch eine Abkürzung von ›Marlin‹ sein, oder?«

Es klang derart absurd, dass es beinahe wahr sein könnte. So viele Ungereimtheiten würden plötzlich einen Sinn ergeben: Marlins stattliches Vermögen, seine Zurückgezogenheit, seine Ablehnung gegenüber Lennox’ Musik. In Annas Ohren rauschte es, und ihr wurde schwindlig. Das wäre …

»Hast du Whisky im Haus?«