VERZEIHUNG?!

IN LENNOX’ OHREN RAUSCHTE es. Er saß mit all seinen Geschwistern, deren Partnern, seinen Onkeln und Tanten und seinem Neffen Aidan im Wohnzimmer von Harriswood House und starrte auf den Fernseher.

Sein Vater hatte den Weg in die Öffentlichkeit gesucht, um sein Vorleben offenzulegen und seine Familie um Verzeihung zu bitten. Lennox wusste nicht, ob er das für einen vollkommen idiotischen oder einen wahnsinnig mutigen Move halten sollte. Wenn er sich im Raum so umsah, schien es der restlichen Familie ähnlich zu gehen.

»Das ist so geil – jetzt weiß die ganze Schule, dass mein Grandpa ein cooler Popstar war!«, rief Aidan begeistert, und Lennox musste sein Urteil von eben wieder revidieren: Nicht die ganze Familie war geschockt.

Die Show ging derweil weiter, doch er nahm es zunächst nur am Rande wahr. Gerade erzählte Betty, dass sie schon seit vielen Jahren von Marlins früherer Karriere gewusst und lange überlegt habe, ob und wie sie ihn mit diesem Wissen konfrontieren sollte. Ihr neuer Roman sei ein Schritt in diese Richtung gewesen – weil Marlin all ihre Bücher las –, aber so sei es nun viel besser.

»Wie konnten Sie so viele Jahre lang ohne Ihre Musik leben?«, fragte der Moderator Marlin und hatte damit wieder Lennox’ volle Aufmerksamkeit.

»Wie kommen Sie darauf, dass ich ohne Musik gelebt habe?«, konterte sein Dad und hob mit einem ironischen Lächeln eine Braue. »Ich habe Hunderte Songs geschrieben.«

»Du hast was?«, platzte es laut aus Lennox heraus, so als könnte sein Vater den Ausbruch hören. Auch von seiner Familie nahm er ungläubiges Schnauben und fassungsloses Grunzen wahr.

»Werden wir die mal zu hören bekommen?«, erkundigte sich Shane Harmon.

»Unwahrscheinlich. Kein Mensch möchte die Lieder eines alten schottischen Hufschmieds hören. Und der Popstar Lin ist tot, schon vergessen?«

»Schade, aber vielleicht ändern Sie Ihre Meinung ja noch. Ich bin mir sicher, viele Fans würden sich freuen.«

Marlin zuckte mit den Schultern. »Ich habe zunächst mal ganz andere Herausforderungen vor mir, als mir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen«, sagte er und blickte auf eine Art in die Kamera, dass Lennox das Gefühl hatte, er spräche nur mit ihm. »Danach wird man weitersehen.«

Kurz darauf war die Talkshow beendet. Alex schaltete den Fernseher aus, und ein aufgeregtes Palaver begann. Außerdem klingelten plötzlich unzählige Handys, denn offensichtlich hatten noch mehr Leute die Talkshow verfolgt. Lennox schaute sich um. Alex hielt Colleen im Arm, Shona krallte sich erschüttert an ihren Kendrick, und Isla ließ sich von Jon sanft über den Rücken streicheln. Auch Dads Geschwister Heather und Rupert hatten mit Onkel George und Tante Alice Partner, die ihnen beistanden. Aidan hing bereits am Handy und textete zweifellos mit seinen Kumpels – und er selbst? Er verspürte eine schier unstillbare Sehnsucht nach Anna. Nach ihrem Trost, ihrer Nähe, ihren weisen Worten. In ihren Armen würde er klar denken, würde herausfinden können, was er wirklich fühlte. Doch Anna war nicht hier. Er hatte sie verloren.

Die Stimmung im Raum erschien ihm mit einem Mal unerträglich. Er musste raus, brauchte Abstand von allem. Hastig stand er auf und verließ grußlos und fast fluchtartig erst das Wohnzimmer, dann das Haus, mit dem er so viele ambivalente Erinnerungen verband. Fast tat es ihm leid, dass er Alex’ Drängen zu diesem gemeinsamen Fernsehabend gefolgt war. Alex hatte am Nachmittag einen Anruf von Betty Murray erhalten, die ihn eindringlich aufgefordert hatte, sich mit der gesamten Familie diese Talkshow anzusehen. Wäre Lennox bloß in seinem Studio geblieben, dann hätte er noch ein paar Stunden länger seine glückliche Ignoranz genießen können.

Draußen war es stockdunkel und unangenehm nieselfeucht. Dicke Wolken verdeckten die Sterne, sodass ihn die Düsternis umfing wie eine schwere, erstickende, eiskalte Decke. Statt der erhofften Klarheit empfand er nur Beklemmung. Entschlossen machte er sich auf in Richtung Kirkby. Dort sorgte wenigstens die allgegenwärtige Weihnachtsbeleuchtung für einen kleinen Hoffnungsschimmer. Er stand auf dem Dorfplatz und musste sich entscheiden, ob er nach links in Richtung seines Studios gehen sollte oder nach rechts, zu Anna. Es drängte ihn zu ihr, aber er wusste nicht, ob er es überhaupt wagen sollte. Die Funkstille, die seit fast einer Woche zwischen ihnen herrschte, war vielsagend und schien unüberwindlich. Doch wenn er aus den Fehlern seines Vaters etwas lernen wollte, dann vielleicht dies: dass manches immer schwieriger wurde, je mehr Zeit ins Land ging.

Beherzt steuerte er also ihr Haus an, nur um festzustellen, dass dort alles dunkel war. Kein Licht brannte in ihrer Wohnung. Er überlegte, ob er klingeln sollte, aber wecken wollte er sie auch nicht. Es war zwar erst halb zehn, und er hielt es für unwahrscheinlich, dass sie schon schlief, aber sicher konnte er sich nicht sein. Ihr Auto stand ebenfalls nicht auf seinem angestammten Platz. Wo mochte sie sein? War sie am Ende zu seinem Studio gefahren? Sein Herz schlug bei diesem Gedanken schneller, und er machte sich mit raschen Schritten auf den Weg. Auf halber Strecke huschte Elvis an ihm vorbei.

»Was machst du denn hier?«, rief er dem Kater hinterher.

»Mau« war die einsilbige Antwort, doch immerhin blieb das Tier stehen und sah ihn unentschlossen an.

»Warst du bei mir? Etwa mit Anna?«, fragte er und kam sich nur minimal dämlich vor, weil er sich ernsthaft eine Antwort erhoffte.

»Mau.«

Tja, was hieß das jetzt? »Komm doch wieder mit«, bat er, aber Elvis warf ihm einen abschätzigen Blick zu, drehte sich um und lief dann zügig weiter in die andere Richtung.

»Dann halt nicht«, brummte Lennox, seltsam enttäuscht. Vielleicht war es besser, wenn der Kater nicht dabei war, sollte Anna auf ihn warten.

Doch Anna war nicht da. Seans Hof lag wie verlassen in der Dunkelheit. Nur im ersten Stock des Wohnhauses funzelte ein gelblicher Lichtschein, ansonsten war alles schwarz wie in einem Höllenschlund. Ohne die Taschenlampe an seinem Handy hätte er nicht einmal den Pfad zu seiner Remise gefunden, geschweige denn das Schlüsselloch an der Tür.

Auch drinnen fühlte sich alles kalt und abweisend an – aber das konnte auch eine Spiegelung seines eigenen Innenlebens sein. Was für ein verstörender Gedanke! Der leider auch dann nicht wegging, als er alle verfügbaren Lampen anknipste und den Elektrokamin anstellte. Er nahm seine Lieblingsgitarre zur Hand und schlug ein paar Akkorde an, doch sein Kopf war leer. Genau wie sein Herz. Keine Melodie wollte aus ihnen herauskommen – und das war vielleicht das gruseligste Gefühl des ganzen Abends.

• • •

»Noch einmal mein aufrichtiges Beileid«, murmelte Anna, als sie sich gegen Mitternacht auf dem etwas abgelegenen Hof der Sandkirks von Barbara, der Schwiegertochter, verabschiedete.

Ihr Telefon hatte just in dem Moment geklingelt, als Marlin seine Kinder im Fernsehen öffentlich um Verzeihung gebeten hatte. Barbara war am Apparat gewesen, um sie um ihr Kommen zu bitten. Mit Granny Sandkirk war es zu Ende gegangen. Natürlich war Anna sofort hingefahren, obwohl sie wusste, dass sie für die sterbende Frau nichts mehr würde tun können. Aber die Familie, insbesondere Altbauer Sandkirk, war ihr ans Herz gewachsen, und sie wollte ihnen beistehen. Zeitgleich mit ihr war auch Pfarrer Jack McTavish eingetroffen, und gemeinsam hatten sie mit den Angehörigen am Bett gewacht.

Anna war schon oft dabei gewesen, wenn ein Mensch seine letzten Atemzüge tat, doch in der Notaufnahme waren die Umstände meist sehr dramatisch. Dieses ruhige Abgleiten war etwas ganz anderes, schöner und trauriger zugleich. Sie war sehr beeindruckt und tief berührt davon, wie alle Familienmitglieder Abschied genommen hatten. Die meisten hatten gefasst gewirkt, nur der Ehemann der Toten war untröstlich. Es hatte ihr im Herzen wehgetan, die verzweifelten Tränen des alten Mannes zu sehen, der es nicht fassen konnte, dass ihn der Mensch, der über sechzig Jahre lang an seiner Seite gewesen war, verlassen musste.

Im Klinikalltag verabreichte man den geschockten Angehörigen oft ein Beruhigungsmittel, doch Anna wusste, dass das nicht angebracht war. Dieser Schmerz musste ausgehalten und ausgelebt werden. Sie war froh, dass Pfarrer Jack hier war, dessen zupackende, pragmatische Spiritualität, zusammen mit den vertrauten religiösen Ritualen, mehr Trost spenden konnte als ihre eigene Empathie und ihr medizinisches Know-how. Mit beidem war sie deutlich an ihre Grenzen gekommen, und die Erkenntnis, dass sie noch sehr viel zu lernen hatte und längst nicht so weit war, wie sie gedacht hatte, war überraschend und auch ein wenig schmerzhaft.

»Danke, dass du bei uns warst«, sagte Barbara und umarmte Anna herzlich.

»Ich konnte ja gar nichts machen«, fasste sie ihre Hilflosigkeit in Worte.

»Doch. Du warst da. Das hat uns mehr bedeutet, als du dir vielleicht vorstellen kannst«, beharrte die andere Frau resolut. »Danke, dass du es möglich gemacht hast, dass Granny in Frieden und ohne allzu große Schmerzen in ihrem eigenen Bett gehen durfte.«

Anna nickte und wandte sich dann rasch zu ihrem Auto. Sie wollte nicht, dass Barbara sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Was für eine merkwürdige Nacht. Die tief hängenden, dichten Wolken schluckten jedes bisschen Helligkeit, das die Sterne sonst spendeten – es war in mehr als nur einer Hinsicht bedrückend und bot doch die perfekte Kulisse für ihren eigenen Gefühlshaushalt. Auch in ihr gab es in diesem Moment nur Düsternis und Leere. Sie schluckte heftig dagegen an und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren. Nicht dass außer ihr noch jemand unterwegs war, aber man konnte nie wissen, ob nicht am Ende ein Tier auf die Fahrbahn sprang. Sie war sehr froh, als sie wenige Minuten später sicher vor ihrem Haus ankam, und bedauerte es sofort, dass sie kein Licht hatte brennen lassen.

Rasch erklomm sie die Stufen zu ihrer Wohnung und schaltete jede Lampe an, die sie hatte. Dann goss sie sich einen kleinen Whisky ein und ließ sich auf ihr Sofa fallen, auf dem Elvis sie erwartete. Der hatte seinen eigenen nächtlichen Ausflug offensichtlich schon hinter sich. Er war mit ihr zusammen aus der Wohnung gegangen und in der Dunkelheit verschwunden, ehe sie sich auch nur hatte fragen können, was das Tier wohl vorhatte. Doch nun war sie dankbar, dass er wieder zurück war. Sie trank einen Schluck, stellte das Glas beiseite und nahm den Kater hoch, um ihr tränennasses Gesicht in seinem weichen Fell zu vergraben. Eigentlich hasste er solche Übergriffigkeiten, aber heute schien er zu spüren, dass sie ihn brauchte, denn er ließ es stoisch über sich ergehen und fing schließlich sogar zu schnurren an.

»Dreiundsechzig Jahre«, schniefte sie nach einer Weile, als sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatte. »Die beiden waren dreiundsechzig Jahre zusammen und haben sich bis zum Ende geliebt. Ist es wirklich so verwerflich, dass ich mir so etwas auch für mich wünsche?«

»Mau«, antwortete Elvis und rieb seinen Kopf an ihrem Kinn.

»Ich weiß, ich hab ja dich, und darüber bin ich auch sehr froh, aber du kannst keine dreiundsechzig Jahre an meiner Seite bleiben – selbst wenn du wolltest.«

Nun legte er ihr die Tatzen auf die Schulter und leckte mit seiner rauen Zunge die Tränen von ihren Wangen.

»Du bist ein wahrer Freund«, murmelte sie und fragte sich, ob es in ihrem Leben jemals einen Menschen geben würde, der sie so liebte, wie es dieses Fellbündel tat. Von Linda und Finlay vielleicht abgesehen. Die beiden waren ihre Familie, ihre Herzensgeschwister. Sie sollte dankbar sein, denn das Schicksal hätte es auch viel weniger gut mit ihr meinen können. Das Gefühl der Einsamkeit, das sie gerade umfing, war nur vorübergehend, das wusste sie genau. Sie hatte schon erheblich schlimmere Phasen hinter sich, und auch aus diesem Loch würde sie wieder herauskriechen. Sie drückte ihrem Kater einen Kuss auf den Kopf und ließ ihn dann wieder los. Mit einem Satz war Elvis auf der anderen Seite des Sofas und begann sich dort ausführlich zu putzen. Seine Erleichterung war offensichtlich. Unwillkürlich musste sie ein bisschen lächeln. Sie nahm ihr Whisky-Glas erneut zur Hand und trank es aus. »Auf Granny Sandkirk«, sagte sie leise.

Dass sich Minuten später, als sie erschöpft ins Bett kroch, Lennox in ihren Kopf schlich, hatte sicher nichts zu bedeuten.

• • •

Am übernächsten Tag stand Lennox vor dem Kühlschrank in seiner Miniteeküche. Wie lange würde ihn das Glas Gewürzgurken noch über Wasser halten, ehe er sich der Zivilisation stellen musste? Am Montagabend hatte er sein Handy ausgeschaltet und seitdem nicht wieder angemacht, denn er hatte nicht die geringste Lust, mit allen möglichen Leuten über seinen Vater zu sprechen. Mit ziemlicher Sicherheit hatten etliche seiner Musikerkumpels von Marlins Offenbarungen Wind bekommen und würden nun Details von ihm fordern. Nur dass er keine liefern konnte, weil er genauso wenig wusste wie der Rest der Welt.

Vermutlich würden sich auch noch irgendwelche Journalisten melden, und auf diese Form der Publicity hatte er noch weniger Lust. Warum nur hatte man auch ihn in diesem unseligen Einspielfilm zeigen müssen? Sosehr er die Unterstützung von seinem Vater jahrelang vermisst hatte, so sicher war er mit einem Mal, dass er auf gar keinen Fall als »Sohn von« gelten wollte. Diese Erkenntnis war so überraschend wie hart – doch dummerweise klebte dieses Label jetzt an ihm, ob er wollte oder nicht. Wieder einmal hatte sein Vater einfach so eine Entscheidung getroffen, die nicht nur sein eigenes Leben betraf, sondern auch Familienmitglieder – namentlich Lennox – in Mitleidenschaft zog. Vielen Dank auch!

Es klopfte laut und vernehmlich. Wer belästigte ihn in seiner Einsiedelei? Ärgerlich ließ er den Kühlschrank zuknallen und stapfte missmutig zur Flügeltür. Wer auch immer dahinter auf ihn wartete, konnte sich auf einiges gefasst machen.

»Hallo, Lennox.«

Vor der Türschwelle stand Marlin mit einem Korb in der Hand, aus dem es verführerisch duftete.

Lennox war einen Augenblick lang derart perplex, dass er nicht wusste, was er sagen oder wie er reagieren sollte. Mit allem Möglichen hätte er gerechnet, aber nicht damit, dass sein Vater hier auftauchen würde. In der Theorie hatte er noch Sekunden zuvor größte Lust gehabt, seinem Dad nach allen Regeln der Kunst die Meinung zu geigen, doch praktisch sah es jetzt ganz anders aus. Er war scheißwütend auf ihn und gleichzeitig tief verletzt – und seltsam verunsichert, wie immer, wenn er seinem Vater gegenüberstand.

»Ich habe Essen mitgebracht«, erklärte Marlin und deutete auf den Korb. »Shepherd’s Pie von Alice.« Seine Stimme klang freundlich, aber seine Gesichtszüge waren unlesbar.

Einerseits wäre es Lennox ein Vergnügen gewesen, ihm die Tür vor der Nase zuzuknallen und ihn von innen anzubrüllen, andererseits war er aber auch hungrig – und obendrein viel zu gut erzogen. Also machte er einen Schritt zur Seite und ließ seinen Vater eintreten.

Der ging ein Stück weit in den großen Raum hinein und schaute sich prüfend um. Zumindest kam es Lennox so vor, und er war insgeheim froh, dass hier unten alles einigermaßen ordentlich war. Seine Klamottenhaufen und das zerwühlte Bett auf der Galerie konnte man von hier aus nicht sehen, die würde Marlin bestimmt mit einer spitzen Bemerkung kommentieren. Stattdessen stellte er nun den Korb auf einen der drei Beistelltische vor dem dunkelroten Sofa und steuerte auf die Instrumente zu. Lennox hatte fünf Gitarren – drei elektrische und zwei akustische – sowie zwei E-Bässe. Nach einer kurzen Musterung blickte Marlin, eindeutig bewundernd und zu Lennox’ Überraschung auch mit unverkennbarer Sehnsucht, zu Mischpult und Computer.

»Es muss fantastisch sein, mit der neuen Technik zu arbeiten«, sagte er, und in seiner Stimme schwang etwas von dem Verlangen mit, das auch in seinen Augen zu erkennen war.

»Hm«, brummte Lennox unbestimmt, weil er nicht wusste, was er sonst antworten sollte. Was wollte sein Vater hier?

Marlin riss seinen Blick von all dem spannenden Equipment los und sah seinem Sohn ins Gesicht. »Du fragst dich sicher, warum ich hier bin.«

»Hm.«

»Wollen wir essen, und ich erkläre dir alles?«

»Ich bin mir nicht sicher«, brachte Lennox mühsam hervor.

»Weswegen? Wegen Alice’ Shepherd’s Pie oder meiner Erklärung?«

»Hm.«

Marlin deutete auf die Sitzecke neben dem Elektrokamin. »Wollen wir uns setzen? Da Alice nicht wusste, wie gut du mit Geschirr und Besteck ausgestattet bist, hat sie die Portionen in zwei Schüsseln gefüllt und mir Löffel mitgegeben.« Er lüpfte die Dämmschicht aus einer Filzdecke und zwei Geschirrhandtüchern von dem großen Korb und zog zwei Schalen heraus, die mit Alufolie verschlossen waren. Dann kramte er nach Besteck und holte auch noch eine Keksdose hervor. »Da ist Shortbread drin, das ich vorhin bei Kristie im Laden gekauft habe. Es ist die Sorte Granny Fraser’s, und wenn ich es richtig verstanden habe, hast du das Rezept rekonstruiert, stimmt’s? Es schmeckt tatsächlich wie bei meiner Mutter. Hätte nie gedacht, dass ich das noch mal erleben würde.«

Lennox fühlte sich zunehmend wie im falschen Film, war aber nach wie vor unfähig, sich zu artikulieren. Also ließ er sich in den blauen Ohrensessel plumpsen, schnappte sich eine der beiden Schüsseln, zupfte die Alufolie ab und genoss einen Moment lang mit geschlossenen Augen das vertraute reichhaltige Aroma des deftigen Hackfleisch-Kartoffelpüree-Auflaufs, den seine Tante so unvergleichlich gut zubereitete. »Trostessen« hatte sie es immer genannt, und er fragte sich, ob es Absicht oder Zufall war, dass sie Marlin ausgerechnet das mitgegeben hatte. Er nahm sich einen Löffel und gönnte sich eine erste Kostprobe. Wahnsinn, war das lecker! Dafür nahm er sogar die Anwesenheit seines Vaters in Kauf. Für den Moment jedenfalls.

Marlin griff sich die zweite Schüssel und platzierte sich damit auf dem Sofa. Schweigsam aß er ein paar Bissen, dann stellte er sein Essen zurück auf den Tisch.

»Darf ich das eine oder andere sagen, ohne dass du mich unterbrichst?«, bat er seinen Sohn. »Danach kannst du mir alle Fragen stellen, die dir auf der Seele brennen, mich beschimpfen oder mich rauswerfen, aber ich würde gerne einige Dinge loswerden, ohne mich währenddessen rechtfertigen zu müssen.« Er sah Lennox eindringlich an.

»Möchtest du vielleicht etwas trinken?«, fragte der, weil er sich in diesem Moment an seine Manieren erinnerte. »Ich hab aber nur Wasser. Aus der Leitung.« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging in seine Mikroküche, füllte kaltes Wasser in einen Krug und kehrte damit und mit zwei Gläsern zurück. Er goss sich und seinem Vater Wasser ein, trank einen Schluck und lehnte sich dann mit seiner Schüssel wieder zurück.

»Alle anderen haben mir zwar schon versichert, dass das der lahmste Einstieg überhaupt ist, aber mir ist es wichtig: Ich habe euch nichts von meiner Vergangenheit erzählt, weil ich dieses Kapitel ein für alle Mal abschließen wollte. Ich habe es für euch getan, weil ihr all meine Aufmerksamkeit und meine Liebe verdient habt. Meine Musikerkarriere und der wachsende Erfolg von Starlight Lin haben meine Ehe immer mehr belastet. Das berauschende Gefühl, von der halben Welt vergöttert zu werden, macht was mit einem, und es verändert einen nicht zum Besten. Zumindest bei mir war es so. Irgendwann war mir klar, dass ich mich entscheiden musste, und sosehr ich meine Musik liebe, deine Mutter und Alex liebte ich noch viel mehr. Ich hatte mir aber auch eingebildet, dass ich nicht so einfach aussteigen könnte, also habe ich die Chance ergriffen. Lin war offiziell tot, und so habe ich beschlossen, dass es auch für mich das Beste wäre, ein für alle Mal mit meinem alten Leben abzuschließen. In der irrigen Annahme, dass ein sauberer Schnitt nicht so wehtun würde.«

Marlin holte tief Luft und rieb sich mit der Hand über den Bart. »Du bist vermutlich der Einzige, der versteht, warum zumindest Letzteres nicht gut funktioniert hat. Ich habe es mir nicht ausgesucht, Musiker zu werden. Ich wurde als einer geboren. Das war in meinem Fall wahrscheinlich noch überraschender als in deinem, denn bis dahin gab es keinen Fraser, der durch besondere Musikalität aufgefallen wäre. Meine Eltern haben mich trotzdem gefördert, obwohl ich als ältester Sohn eigentlich einen ganz anderen Weg einschlagen sollte. Na ja, ich habe ja auch versucht, beides zu machen. Einerseits unser Land zu verwalten, das Bed & Breakfast aufzubauen und einen soliden Handwerksberuf auszuüben und andererseits …« Er schüttelte den Kopf. »Versteh mich nicht falsch. Ich finde bis heute nichts Falsches daran, als Hufschmied zu arbeiten und das Familienerbe zu betreuen. Aber Musik ist mehr als das. Musik zu machen ist kein Hobby – es ist mein Leben.«

Lennox schnaubte leise in sein Essen, sagte jedoch nichts. Er nahm sich vor, das Gehörte auch in Gedanken nicht zu kommentieren, sondern erst mal alles aufzunehmen. Möglichst ohne Vorurteile.

»Dir ist sicher aufgefallen, dass ich im Präsens gesprochen habe. Musik ist immer noch mein Leben – und ich ahne, wie zynisch und verhöhnend sich dieser Satz in deinen Ohren anhören muss. Aber als ich damals die Entscheidung traf, habe ich wirklich geglaubt, es wäre die richtige. Das Musikbusiness ist knallhart – damals wie heute, nur mit dem Unterschied, dass man in den Achtzigerjahren noch ernsthaft Geld verdienen konnte. Heutzutage, mit all den Streamingdiensten, ist das ja beinahe unmöglich geworden. Als es bei mir mit der Musik ernster wurde, habe ich mit deiner Mutter verabredet, dass ich sie und die Familie immer außen vor halten würde. Caro – Starlight hieß im wahren Leben Carolyn Starling, wie Betty ja so scharfsinnig herausgefunden hat – wollte das für sich und ihre Familie genauso handhaben. Daher haben wir noch vor unserem ersten Gig und vor dem ersten Plattenvertrag diese Make-up-Nummer erfunden. Niemand sollte jemals erfahren, wer wir in Wirklichkeit waren.

PR-technisch war das ein ziemlicher Knüller, denn mit diesem Geheimnis waren wir schnell in aller Munde. So habe ich jahrelang ein Doppelleben geführt. Zu Hause in Kirkby war ich der junge Gutsverwalter, Hufschmied und Hotelier. Außerdem liebender Ehemann, guter Sohn und noch besserer Vater. Zumindest habe ich mir das eingeredet. In Wahrheit war ich ungeduldig, gestresst und frustriert. Ich wollte Songs aufnehmen und nicht Windeln wechseln. Ich wollte von schönen Frauen umschwärmt werden und nicht mit deiner Mutter darüber streiten, wer das Geschirr in die Spülmaschine räumt. Wenn ich aber mit Caro unterwegs war, hatte ich es in kürzester Zeit satt, immer nur mit Make-up auftreten zu können, mir betrunkene Groupies vom Hals halten zu müssen und gegen gerissene und geldgierige Bosse von Plattenfirmen zu kämpfen, die mit allen Tricks versucht haben, uns Künstler über den Tisch zu ziehen. Mit vielen von uns hatten sie damals leichtes Spiel, weil sich keiner für den rechtlichen Kram interessiert hat. Glücklicherweise hat mir Heathers Schwiegervater immer geholfen.« Er winkte ab. »Aber mit diesen Details will ich dich gar nicht langweilen. Tatsache ist, dass die Schere zwischen meinen beiden Lebenswirklichkeiten immer weiter auseinanderging und ich keine Ahnung hatte, wie ich beiden Rollen auf Dauer gerecht werden sollte.«

Er nahm sein Glas und trank einen großen Schluck, dann sprach er weiter. »Es ging so weit, dass meine Ehe zu zerbrechen drohte. Bonnie hatte irgendwann die Nase voll davon, dass sie immer alles allein managen musste, wenn ich unterwegs war, und dann auch noch auf meine Bedürfnisse Rücksicht nehmen sollte, wenn ich da war. Ich war lange viel zu egozentrisch, um zu begreifen, dass ich nicht die Sonne war, um die sich in ihrem Universum alles drehte. Ich dachte wirklich, dass ich ihr doch eine Menge gab – mit meiner schillernden Persönlichkeit und der harten Arbeit im damals gar nicht so florierenden Pensionsgeschäft. Kurz, ich war ein wirklich krasses Arschloch, und in der Rückschau grenzt es beinahe an ein Wunder, dass eure Mutter überhaupt in der Lage war, mir zu verzeihen und mir eine zweite Chance zu geben.«

Lennox spürte den Blick seines Vaters auf sich, starrte aber stoisch in seine Schüssel. Bislang klappte es mit seinem Vorsatz, Marlin ohne Wertung zuzuhören. Wären sie nicht Vater und Sohn, sondern zwei Fremde, wäre er sicher noch viel faszinierter von der Geschichte.

»Ich wusste also nicht, was ich tun sollte. In Mexiko, nach dem letzten Konzert der großen Nordamerika-Tour, gab’s dann auch noch einen Riesenstreit mit Caro. Ich würde gern behaupten, dass es nur um meinen Wunsch ging, auszusteigen, wie ich es in der Talkshow erzählt habe, doch das wäre eine Lüge. Und von Lügen habe ich nach all den Jahren restlos genug. Nein, Caro und ich hatten eine Affäre. Genau genommen war es mehr als das – zumindest in ihren Augen. Sie hatte sich zwei Monate zuvor von ihrem Mann getrennt und stritt mit ihm gerade um das Sorgerecht für die beiden Kinder. Wahrscheinlich hat sie gehofft, dass ich mich endlich ›ganz zu ihr bekenne‹.« Das Letzte setzte er in Luftgänsefüßchen und schüttelte traurig den Kopf.

»Carolyn war eine wunderbare Frau, und ich habe sie geliebt. Aber nicht so, wie ich Bonnie geliebt habe, sondern eher voller Bewunderung für ihr wahnsinniges Talent, ihre Bühnenpräsenz und ihre überbordende Kreativität. Ohne Caro wären wir nie aus den schottischen Pubs rausgekommen. Es war immer wahnsinnig intensiv mit ihr, hatte aber nicht im Ansatz die Innigkeit, die ich mit Bonnie hatte.« Er trank wieder einen Schluck und fuhr dann fort: »Ich habe ihr gesagt, dass ich niemals mit ihr zusammen sein würde – das war das Letzte, was sie von mir gehört hat. Ich bin nicht in den Bandflieger gestiegen, sondern habe eine Stunde später eine Linienmaschine genommen.«

»Krass«, entfuhr es Lennox leise. Langsam bekam er eine Ahnung davon, wie vielschichtig die Schuldgefühle seines Vaters sein mussten. Doch er wollte sich nicht vorschnell einlullen lassen.

»Nun ja, es war auch krass. Ich konnte nicht glauben, dass Caro und all unsere Musiker tot waren – und ich konnte nicht fassen, was für ein Glück ich gehabt hatte, weil ich nicht mit ihnen im Flugzeug gesessen hatte, wie es eigentlich geplant war. Das war für mich irgendwie ein Zeichen des Schicksals. Darum habe ich beschlossen, auch Lin offiziell tot sein zu lassen und mich vollständig aus dem Musikbusiness zurückzuziehen. Ich erspare dir die Details, denn es ist längst nicht so einfach gewesen, wie es klingt, aber Heathers Schwiegervater ist wirklich ein mehr als ausgefuchster Anwalt, der verdammt viele Strippen für mich gezogen hat. Ich war also wieder zu Hause und hatte nur noch ein Ziel: mich auf mein anderes Leben zu konzentrieren. Es ist mir geglückt. Irgendwie. Und ich bin dankbar für die schöne Zeit, die Bonnie und mir noch vergönnt war – und für die drei wunderbaren Kinder, die wir nach Alex noch bekommen haben. Doch die glückliche Zeit war viel zu schnell vorbei, und Bonnies Tod erschien mir wie eine Strafe, die ich provoziert hatte. Ich weiß, dass das völlig idiotisch und irrational klingt, und vermutlich ist es das auch, aber es hat sich für mich lange so angefühlt.«

Lennox hatte seine Portion Shepherd’s Pie aufgegessen und schielte in Richtung von Marlins Schüssel. Sein Vater reichte sie ihm kommentarlos.

»Ich habe mir geschworen, euch der bestmögliche Vater zu sein, und habe mir wirklich alle Mühe gegeben. Aber recht bald kam dein musikalisches Talent zum Vorschein, und ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder mich dafür verfluchen sollte.«

»Du hast dich für Letzteres entschieden«, sagte Lennox.

»Ja. Ich weiß. Und ich weiß bis heute nicht, ob es die richtige oder die falsche Entscheidung war.«

»Bitte?« Lennox konnte sein Schweigeversprechen nicht länger aufrechterhalten.

»Du bist mir wahnsinnig ähnlich – nur mit dem Unterschied, dass du viel talentierter bist und viel, viel sensibler. Ich hätte alles dafür getan, dich vor diesem Karriereweg zu bewahren, der so viel Unglück über mich und über unsere ganze Familie gebracht hat. Aber ich weiß jetzt auch, dass mir das nicht zustand. Ich hätte nicht versuchen dürfen, dein Talent zu unterdrücken, was ohnehin total sinnlos war. Vielmehr hätte ich dich fördern und gleichzeitig über die Branche aufklären müssen. Andererseits warst du an so vielen Dingen interessiert und hast alles so wahnsinnig schnell gelernt, dass ich mir eingeredet habe, du würdest bestimmt eine andere Lebensaufgabe finden, wenn ich dir die Musik nur madig genug mache.« Er schloss mit einem gequälten Gesichtsausdruck die Augen. »Ich bin tatsächlich der Narr, für den ihr mich haltet. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich habe es besser gewusst – und trotzdem das Falsche getan.« Er schluckte ein paarmal.

Lennox ließ seinen Vater nicht mehr aus den Augen. Er wusste nicht, was er von dem Gehörten halten sollte, wie er sich damit fühlte.

»Ich bin mir relativ sicher, dass ich mir an deiner Stelle nicht verzeihen könnte«, fuhr Marlin fort. »Es ist einfach zu viel passiert. Aber andererseits bist du womöglich ein besserer Mensch als ich und schaffst es.«

Lennox starrte ihn wortlos an.

»Ich erwarte auch keine Antwort von dir, ich will nur, dass du Bescheid weißt. Und falls ich dich in irgendeiner Form unterstützen kann, will ich das gerne tun.« Marlin stellte sein leeres Wasserglas auf den Tisch und lehnte sich zurück.

Er wirkte erschöpft und wie ein Krieger, der aus einer verlorenen Schlacht zurückgekehrt war, schoss es Lennox durch den Kopf. Er hatte keine Ahnung, ob er seinem Vater jemals würde verzeihen können, aber er respektierte die Größe, die er eben gezeigt hatte. Sein Versagen zuzugeben konnte für Marlin Fraser nicht einfach gewesen sein. »Du hast erzählt, dass Musik immer noch dein Leben ist«, hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen. »Wie hast du das in den letzten Jahrzehnten gemacht?«

»Du kennst doch meine Dachkammer«, entgegnete Marlin, und Lennox sah, wie sich ein verschmitztes und leicht hoffnungsvolles Lächeln auf die Lippen seines Vaters stahl.

»Keiner kennt deine Dachkammer«, gab er zurück. »Jeder weiß davon, aber keiner kennt sie.«

»Genau das war der Sinn der Übung. Ich mache dort oben Musik. Vermutlich habe ich in den letzten dreißig Jahren über tausend Songs geschrieben.«

»Über tausend Songs …«, wiederholte Lennox mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Er konnte immer noch nicht fassen, was er in den letzten Wochen über seinen Vater erfahren hatte. Aber er konnte auch nicht verhindern, dass ein anderer Impuls in ihm das Ruder übernahm: überwältigende Neugier! »Die würde ich rasend gerne hören«, stellte er fest.