NEBEN DER SPUR

SIE WAR AUS DEM TRITT. Komplett neben der Spur. Und das war ein Zustand, den Anna schon lange nicht mehr erlebt hatte – und den sie auch kein bisschen vermisst hatte. Die Vormittagssprechstunde war relativ ereignisarm verlaufen, mittags hatte sie zwei Hausbesuche bei bettlägerigen Patienten gemacht und war dann auf einen kurzen Lunch in den Pub gegangen. Nun war sie wieder zu Hause in ihrer Wohnung und vermisste zum ersten Mal, seit sie in Kirkby wohnte, die anstrengende und aufreibende Arbeit in der Notaufnahme. Dort war sie so beschäftigt gewesen, dass sie nie zum Grübeln gekommen war.

Sie könnte spazieren gehen, Yoga machen, sich Konzepte für ihre nächsten Podcast-Episoden überlegen oder einfach ein Mittagsschläfchen halten. Doch zu nichts hatte sie Lust. Sie war unruhig und wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Kein Wunder, dass Elvis es vorzog, einen Bogen um sie zu machen. Sie hatte ihren Kater seit dem Frühstück in Kristies Bäckerei nicht mehr gesehen. Das war zwar nicht weiter besorgniserregend, denn Elvis unternahm gerne mal ausgedehnte Streifzüge durch den Ort, aber heute war es ihr so vorgekommen, als hätte er unbedingt bei Lennox bleiben wollen. Lennox Fraser. Sie schüttelte den Kopf, denn prompt war sie wieder beim Grund für ihre innere Unruhe gelandet, oder zumindest bei deren Auslöser.

Seit ihrer ersten Begegnung vor vier Tagen schien ihr geschütztes, solides Privatuniversum einen Riss zu haben und an Stabilität zu verlieren. Es waren keine dramatischen Dinge passiert, keine Wände eingestürzt oder Feuersbrünste ausgebrochen. Vielmehr fühlte es sich an, als würde langsam etwas Feuchtigkeit in ihr warmes, trockenes Haus einsickern und dort für eine subtile Klimaänderung sorgen. Natürlich komplett im übertragenen Sinn. Irritiert von ihren eigenen Gedanken, schüttelte sie den Kopf, als könnte sie damit die seltsamen Bilder vertreiben. Dann schnappte sie sich ihr Handy und schrieb ihrer besten Freundin Linda eine Nachricht: Hast du Zeit? Ich muss dringend mit jemandem reden, der bei klarem Verstand ist.

Sie hatte kaum auf »Senden« gedrückt, als ihr Smartphone vibrierte und sich Linda per Videocall meldete. Anna fühlte sich augenblicklich besser, als sie das vertraute, wie immer spektakulär geschminkte Gesicht ihrer Freundin sah, die sie mit einem leicht spöttischen Lächeln, aber warmherzig leuchtenden Augen begrüßte.

»Wo tut’s denn weh, Frau Doktor?«, fragte sie mit ihrer dunklen, rauen Stimme.

»Überall und nirgends.« Anna lehnte sich auf ihrem Sofa zurück.

»Klingt geheimnisvoll«, befand Linda. »Muss ich nachbohren, oder erzählst du es mir freiwillig?«

»Eigentlich gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich weiß nämlich selbst nicht so genau, was mit mir los ist. Aber ich bin völlig aus dem Tritt. Vielleicht habe ich einfach nur Heimweh nach Edinburgh und Sehnsucht nach dir, Finlay, Scott und Ben.« Anna wusste selbst, dass das höchstens die halbe Wahrheit war, wenn nicht gar eine Lüge. Ja, sie vermisste ihre Freunde und ein bisschen auch das trubelige Edinburgh, aber diese Gefühle waren nicht schlimmer als sonst auch.

»Hm.« Linda hob eine Braue und schien ihr das auch nicht abzukaufen. »Was hindert dich dann daran, einfach mal ein Wochenende bei uns zu verbringen? Für ein paar Tage wird dein Schnarchnest ja wohl ohne medizinischen Beistand auskommen. Das hat doch jahrelang gut geklappt.«

»Ich weiß, aber so einfach ist das nicht.« Anna dachte an das Frühstück zurück, bei dem sie Lennox von ihrem Dilemma berichtet hatte. Von ihrer Sehnsucht, hier in Kirkby neue Wurzeln zu schlagen, und der Sorge, dass sie dafür ihre alten in Edinburgh würde kappen müssen. Warum genau hatte sie ihm das erzählt? Um ihn aus der Reserve zu locken oder um die Situation für sich selbst ein bisschen klarer zu machen? Oder unklarer – denn die seltsame Feuchtigkeit in den Wänden ihres Kokons sorgte für Nebelschwaden im Kopf. Und wo bitte schön kamen plötzlich diese haarsträubenden Metaphern her?

»Es ist eigentlich total einfach. Du setzt dich am Freitagnachmittag ins Auto oder in den Zug, bist abends da, wir gehen essen, hören uns dann ein paar Gigs an und quatschen die halbe Nacht durch. Am Samstag gibt’s erst eine ausgedehnte Yoga-Session in Finlays Studio, und danach brunchen wir, bis wir nahtlos zu Cocktails und zum nächsten Abendprogramm hinübergleiten. Am Sonntag gehen wir in zwei, drei Galerien, und wenn du dann in den Zug steigst, sind deine Batterien aufgeladen, sodass dein sonniges Gemüt in den düsteren Highlands wieder ein Weilchen strahlen kann.«

Anna lächelte. »Klingt verführerisch.«

»Aber? Und jetzt sag nicht, dass du da nicht wegkannst, weil die Menschen ohne dich spontan von einer geheimnisvollen tödlichen Seuche dahingerafft werden. Du bist wundervoll, aber nicht unersetzlich. Die Eingeborenen kommen gut ohne dich klar, aber wir vermissen dich ganz schrecklich.«

»Ich vermisse euch auch, aber …« Anna zögerte und fragte sich, warum sie sich so dagegen sträubte, ein Wochenende in Edinburgh zu verbringen. War es nicht so, wie Linda es beschrieben hatte? Würde sie nicht tatsächlich Energie tanken und wieder leuchten können? Wäre das nicht die Lösung für ihr Dilemma?

»Du weißt selbst nicht, was dein ›aber‹ eigentlich bedeutet, und suchst gerade verzweifelt nach einer Begründung, die uns beide überzeugen soll?«, mutmaßte Linda scharfsinnig.

»So ungefähr«, gab Anna zu. »Aber du weißt auch, wie viel es mir bedeuten würde, wenn du mal herkämst. Ich würde dir so gern mein neues Leben zeigen, das längst nicht so langweilig, düster und energieraubend ist, wie du es dir vorstellst. Genau genommen ist es sogar das Gegenteil von alldem. Ich fühle mich wohl und angenommen und …«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach Linda sie. »Bitte keine Werbeshow für die Highlands. Ich höre regelmäßig deinen Podcast und weiß alles über das ›magische Equilibrium‹, das du da angeblich gefunden hast. Aber entweder ist die Magie verpufft, und du siehst endlich ein, dass dieses Kirkby kein mystischer Kraftort, sondern ein ödes Kaff ist, oder dein inneres Gleichgewicht hat sich aus anderen Gründen verzupft.«

»Ja.«

»Was ja?«

»Die Highlands sind wirklich magisch und mystisch – und das würdest du merken, wenn du mal deine Vorurteile vergessen und einfach herfahren würdest –, und ja, es hat wohl andere Gründe. Oder einen anderen Grund.«

»Jetzt wird’s interessant.« Lindas Augen begannen zu leuchten. »Wenn du mir jetzt sagst, dass es um einen Kerl geht, mach ich auf der Stelle eine Flasche Prosecco auf.«

Anna verfolgte, wie Linda tatsächlich von ihrem Schreibtischstuhl aufstand und in die Teeküche der Event-Agentur ging, für die sie arbeitete. Dort öffnete sie den Kühlschrank und drehte ihr Handy so, dass Anna den Inhalt sehen konnte. Es stapelten sich Take-away-Boxen, ein paar Joghurtbecher, etliche Flaschen Bier und auch einige Piccolos mit Prickelwasser darin. »Wonach soll ich greifen?«, hörte sie Lindas Stimme. »Prosecco oder Pudding? Und lüg mich nicht an. Ich merke es, wenn du schwindelst.«

»Als Ärztin muss ich entschieden davon abraten, nachmittags um drei Alkohol zu trinken«, versuchte es Anna mit Professionalität.

»Da wir hier aber keine Videosprechstunde haben und du als Freundin mit mir redest, dürfte die Entscheidung klar sein.« Linda schnappte sich ein Fläschchen und kehrte in ihr Büro zurück. Dabei sah Anna die diversen Plakate vom Fringe-Festival an den Wänden, für das Linda und ihre Kollegen unter anderem verantwortlich waren. Das erinnerte sie wieder daran, dass sie Lennox’ Schal noch immer nicht zurückgegeben hatte.

Linda nahm wieder auf ihrem Sessel Platz, schien ihre langen Beine auf den Schreibtisch zu legen und grinste in die Kamera. »Also, raus mit der Sprache, wie heißt der Kerl, und was hat er mit dir angestellt?«

Anna seufzte. »Er heißt Lennox und …«

»Und?«

»Und er geht mir unter die Haut«, krächzte sie und war erleichtert, dass es raus war. So fühlte es sich gleich nicht mehr ganz so unwirklich an.

»So guter Sex?«, erkundigte sich Linda sensationslüstern und schraubte den Piccolo auf.

»Nein!«

»Aber wegen schlechtem Sex bräuchtest du doch nicht so einen Aufstand zu machen.«

»Überhaupt kein Sex, und ich mache auch keinen Aufstand. Ich habe nur gesagt, dass er mir unter die Haut geht.«

»Okay.« Linda klang enttäuscht.

»Ich weiß, das kommt in deiner Welt nicht vor, dass sich zwei Menschen unter die Haut gehen, auch ohne intim zu werden«, bemerkte Anna leicht resigniert. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihre Freundin damit zu belämmern? Linda war eine treue und loyale Seele, hatte aber in vielen Bereichen des Lebens ganz andere Wertvorstellungen als sie selbst. Außerdem war sie viel zu extrovertiert, um Annas Antennen für feinste Zwischentöne und menschliche Energieströme wirklich verstehen zu können. Aber sie musste einfach mit jemandem sprechen – und Isla fiel in diesem speziellen Fall flach. Ihr Gespräch gestern Abend war schon viel zu nah am Thema gewesen. Wenn Isla ahnen würde, dass … Tja, was eigentlich? Dass Anna Interesse an ihrem Bruder hatte? Stimmte das so? Er faszinierte sie zweifellos, aber er bedrohte eindeutig auch ihren Seelenfrieden. Und als Mann nahm sie ihn sowieso nicht wahr. Lüge!, kreischte eine aufgebrachte innere Stimme bei diesem Gedanken.

»Wenn das zwischen euch so intim ist, dann könnt ihr ja auch miteinander schlafen. Vielleicht fühlt sich danach alles normaler an?«, schlug Linda pragmatisch vor, offensichtlich vollkommen blind für den Ernst der Lage.

Annas Blick fiel auf den grauen Schal, der auf dem Tisch lag, darauf der rote Button vom Fringe-Festival, den sie Lennox ebenfalls noch nicht zurückgegeben hatte. Ihr kam eine Idee. »Vielleicht kennst du ihn. Ich glaube, er ist beim diesjährigen Fringe aufgetreten.«

»Echt?« Lindas Miene hellte sich auf. »Dann schau ich doch mal in der Datenbank nach.« Sie schwang ihre Beine vom Tisch, lehnte das Handy irgendwo an, sodass Anna nur noch einen seltsamen Ausschnitt von ihrem Torso vor sich hatte, und tippte auf der Tastatur herum. »Lennox heißt er?«, fragte sie. »Und wie noch?«

»Fraser. Lennox Fraser. Ich habe aber keine Ahnung, ob er auch unter diesem Namen auftritt.«

»Du hast ihn noch nicht gegoogelt?« Anna sah es zwar nicht, aber sie konnte das fassungslose Kopfschütteln ihrer Freundin regelrecht hören. »Du bist echt so ein Mondkalb«, fuhr sie fort, als Anna nichts sagte, und hackte weiter auf die Tastatur ein. »Hm, nein, unter ›Lennox Fraser‹ finde ich nichts. Aber hier gibt es einen Künstler, der sich ›Len X‹ nennt. Vielleicht ist er das ja?«

»Kann sein.« Anna merkte, wie ihr Herz schneller schlug – was wirklich nicht zu erklären war.

»Ich hab hier ein paar Fotos. Kinnlange dunkle, fast schwarze Haare, kantiges Kinn, Mehrtagebart, helle Augen. Blau oder blaugrau, mit einem melancholischen Ausdruck. Überhaupt wirkt er etwas düster. Also nicht gothic-düster, sondern eher ›Vom Leben gezeichneter Rockstar‹-düster. Von der Statur her eher kein Riese oder Bär, sondern schmal und sehnig. Kommt das hin?«

»Volltreffer«, murmelte Anna und wunderte sich, dass Linda ihn so präzise beschrieben hatte. »Aber seine Augen sind grau – und wirken je nach Lichteinfall oder Stimmung mal silbrig hell, mal dunkel und stürmisch. Und ›düster‹ ist eigentlich auch das falsche Wort«, fuhr sie fort, obwohl sie seinen Blick selbst auch schon so charakterisiert hatte. »Das klingt so negativ, es ist eher schmerzlich-melancholisch.«

»Was sich natürlich erheblich fröhlicher und optimistischer anhört«, kommentierte Linda trocken. Sie nahm ihr Handy erneut zur Hand und hielt es mit der Kamera vor ihren Computermonitor, auf dem Bilder von seinen Auftritten zu sehen waren. »Ist er das?«

»Eindeutig.« Vielleicht sollte sie ihn doch mal googeln, dachte Anna bei sich.

»Ich gebe zu, dass er was hat. Also rein optisch zumindest schon mal. Nicht ganz meine Kragenweite, aber ich verstehe, was du an ihm findest.« Linda drehte ihr Smartphone nun wieder so, dass Anna ihr Gesicht vor sich hatte. »Aber jetzt verrate mir doch mal, was ein cooler Musiker in den Highlands treibt, wie ihr euch kennengelernt habt und was das für ein merkwürdiges Ding ist zwischen euch.«

»Len stammt aus Kirkby, seine vielköpfige Familie lebt auch noch hier und besetzt prominente Rollen im Ort. Sein älterer Bruder betreibt das schicke Bed & Breakfast mit dem Wahnsinns-Spa, von dem ich dir schon so oft vorgeschwärmt habe, seine Schwester Isla ist die Sterneköchin, die du aus der Netflix-Kochshow kennst, seine andere Schwester Shona hat vor ein paar Monaten eine Whisky-und-Gin-Brennerei eröffnet – und sein Vater Marlin ist ein lokaler Großgrundbesitzer und arbeitet als Hufschmied. Von seinen Cousinen, Onkeln und Tanten will ich gar nicht erst anfangen.«

»Da wäre ich dir auch sehr verbunden«, sagte Linda lachend. »Klingt nach einem anstrengenden Clan.«

»Gar nicht. Die sind alle supernett, aber Lennox scheint das schwarze Schaf der Familie zu sein. Neben den erfolgreichen bürgerlichen Existenzen gilt er als Künstler nicht viel. Zumindest empfindet er das selbst so.«

»Und was macht er dann in diesem drögen Kaff?« Linda starrte Anna einigermaßen verständnislos an. »Ich habe noch nicht in die Videos geklickt und mir seine Sachen angehört, aber die Kommentare der Zuschauer sind ziemlich begeistert, und es kann sein, dass ich ihn sogar live gesehen habe.«

»Das ist die Eine-Million-Pfund-Frage, die sich hier das ganze Dorf stellt. Oder besser gesagt, die das ganze Dorf mir stellt, denn aus irgendeinem Grund scheint man sich sicher zu sein, dass ich mehr weiß. Er ist nämlich am Freitag zu meinem Glücks-Workshop aufgekreuzt.«

»Verstehe«, sagte Linda, und ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Davon hast du mir ja noch gar nichts erzählt. Also nichts von dem offenbar gar nicht so unwichtigen Detail, dass ein schwarzhaariger Hottie mit traurigen Augen mitgemacht hat, der dir jetzt massiv unter die Haut geht.«

»Was daran liegt, dass er gar nicht an dem Seminar teilgenommen hat!«

»Das verstehe ich jetzt nicht.«

»Er war nur ungefähr eine halbe Stunde da und hat den Seminarraum dann geradezu fluchtartig wieder verlassen.«

»Lass mich raten – ihm ist von den Räucherstäbchen übel geworden?«

»Nein, natürlich nicht! Du weißt genau, dass ich keine Räucherstäbchen benutze. Nein, ich habe ihn angefasst und …«

»Dann war es ein Tantra-Seminar, und er wusste nichts davon?« Linda lachte sich halb tot.

»O Mann, warum genau bin ich noch mal mit dir befreundet?«, stöhnte Anna augenrollend, musste dann aber mitlachen. »Du hast echt viel zu viel Fantasie.«

»Und du zu wenig, wie mir scheint.«

»Ich habe ihn nur am Rücken berührt, ganz kurz und … Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Du weißt ja, dass ich bei vielen Menschen durch Berührungen merke, wie es ihnen wirklich geht.«

»Ja, diese total creepy Handauflege-Nummer.« Linda verzog das Gesicht, obwohl das nur Show war, wie Anna sehr gut wusste, denn ihre Freundin war schon oft genug Nutznießerin ihrer besonderen Sensibilität gewesen.

»Genau. Aber was ich bei ihm gespürt habe, war ziemlich einzigartig. Eine Lawine von Schmerz und Einsamkeit, die mir buchstäblich den Atem geraubt hat. So etwas habe ich noch nie erlebt, und es hat mich zutiefst geschockt. Und ihn auch. Er hat es nämlich auch gespürt – klar, waren ja auch seine Gefühle. Er war noch entsetzter als ich und hat die Flucht ergriffen.«

»Kann ich ihm nicht verübeln«, entgegnete Linda und klang plötzlich viel nachdenklicher und mitfühlender. »Jetzt verstehe ich auch, was du mit ›Er geht mir unter die Haut‹ meinst. Und wie ging’s weiter?«

»Am Sonntag habe ich ihn an meinem Lieblingsplatz im Wald gesehen. Da saß er mit seiner Gitarre auf einem Stein und hat gesungen oder sogar komponiert. Ich bin gleich wieder abgehauen, weil ich ihn nicht dabei stören wollte, aber Elvis war wohl die ganze Zeit bei ihm und hat ihm andächtig zugehört.«

»Dein Miezerich scheint sich für Musik zu interessieren. Das liegt bestimmt am guten Einfluss seiner Patentante.« Linda hatte sich stets um Elvis gekümmert, wenn Anna endlos im Krankenhaus gewesen war. Sie hatte zwar immer behauptet, dass sie keine Katzen mochte, war dann aber doch jedes Mal in Annas Wohnung gegangen und hatte den Kater mit Futter, Liebe und offensichtlich auch mit Musik versorgt.

»Wahrscheinlich. Elvis ist überhaupt sehr eigen geworden, seit wir hier wohnen. Also, noch seltsamer, als er ohnehin schon war. Er ist oft allein unterwegs, und ich habe den Verdacht, dass er sich mindestens drei alternative Stellen gesucht hat, wo er Futter oder Streicheleinheiten schnorren kann. Er begleitet mich auch zum Joggen und geht jeden Morgen mit mir zum Frühstücken ins Café.«

Linda wedelte ungeduldig mit der Hand. »Das ist ja alles wahnsinnig spannend, aber es hat nichts mit deinem Musiker zu tun.«

»Doch. Hat es. Denn heute früh hat sich Elvis geweigert, mit mir in die Praxis zu kommen, und ist lieber bei Lennox im Café geblieben – und bis jetzt ist er nicht aufgekreuzt.«

»Du hast mit sexy Lenny gefrühstückt?«

»Jahaa! Gestern auch schon. Aber nicht so, wie du denkst. Gestern war es reiner Zufall, heute … auch so ungefähr. Egal. Entscheidend ist, dass mein Kater etwas in ihm sieht. Du weißt doch, wie sensibel Elvis ist.«

»Sensibel wie ein Vorschlaghammer«, behauptete Linda frech. »Entscheidend ist, dass du etwas in ihm siehst!«

»Mag sein, aber ich weiß nicht genau, was ich da sehe«, gab Anna zu. Irgendwie führte dieses Gespräch zu gar nichts. Sie drehte sich im Kreis und fühlte sich genauso verwirrt wie vorhin.

»Mannomann, Süße, du hättest mal etwas weniger Zeit für Schule, Studium und die Arbeit aufwenden sollen und etwas mehr für zwischenmenschliche Beziehungen. Ich würde behaupten, dass du schwer verknallt bist!«

Sie, verknallt in Lennox Fraser? Der haarsträubende Quatsch, den Linda am Nachmittag verzapft hatte, spukte auch am Abend noch durch Annas Kopf. Wo sie sich doch eigentlich auf die Yoga-Stunde konzentrieren sollte, die sie dienstags in der alten Schule gab. Sie fand ihn attraktiv, keine Frage, und war unfassbar fasziniert von der Nähe zu ihm, die sie am Freitag gespürt hatte – auch wenn es schmerzhaft und schockierend gewesen war. Es war auch schön, Zeit mit ihm zu verbringen und sich mit ihm zu unterhalten. Aber das waren doch alles keine Indizien dafür, dass sie heimlich romantische oder gar erotische Interessen ihm gegenüber hegte, sprich: verliebt in ihn war. Das würde sie ja wohl merken, oder?

Gut, ehrlich gesagt war sie keine Expertin in Beziehungsdingen – um es vorsichtig zu formulieren. Es hatte bislang eben nie einen Menschen gegeben, der sie nachhaltig in seinen Bann gezogen oder dem sie sich ähnlich nah gefühlt hätte wie ihrer Handvoll guter Freunde. Warum dann also die Mühe? Sie hatte während des Studiums ein paar Versuche unternommen und Affären mit Kommilitonen angefangen, jedoch vorwiegend, um mitreden zu können. Auch danach war sie immer mal wieder mit jemandem ausgegangen, war aber stets zu dem Schluss gekommen, dass das bisschen Sex die Anstrengung im Vorfeld nicht wert war.

Auf der anderen Seite wollte sie ihr Leben nicht komplett allein verbringen, sondern hatte schon das durchaus verführerische Bild einer echten und innigen Zweisamkeit im Kopf, die sie körperlich, geistig und seelisch forderte, förderte und befriedigte. Doch bislang war sie niemandem begegnet, der diese Kriterien erfüllt hätte. Wieder tauchte Lennox vor ihrem inneren Auge auf. Hatte er heute Morgen tatsächlich mit ihr geflirtet, oder hatte sie sich das eingebildet?

»Willst du uns umbringen?«, unterbrach ein gejapster Hilferuf ihre Gedanken. Sie öffnete die Augen und sah, dass die meisten Teilnehmer keuchend auf ihren Matten lagen und nur noch Kristie und Isla die Stellung des herabschauenden Hundes hielten. Wenn auch offensichtlich mit letzter Kraft. Hatte sie ihren Sonnengruß-Zyklus tatsächlich bei dieser Pose unterbrochen und ihre armen Schüler endlos verharren lassen?

»Rechtes Bein nach vorn, linkes dazunehmen. Nach unten ausatmen, nach oben einatmen, Hände vor die Brust«, sagte sie rasch an und beendete die Bewegungsabfolge. Dann drehte sie sich zu ihrer Klasse um. Nur Isla und Kristie standen, der Rest lag erschöpft auf den Matten. »Tut mir leid, ich wollte niemanden überfordern – nur ein bisschen herausfordern. Eigentlich ist der Hund nämlich eine Entspannungshaltung.«

»Für Menschen wie dich vielleicht«, jammerte Isla und ließ mit hochrotem, leicht schmerzverzerrtem Gesicht die Schultern kreisen. »Für uns Normalsterbliche war das Folter.« Dafür erntete sie zustimmendes Gemurmel von der Bodenkriecher-Fraktion.

»Na ja, ›Folter‹ ist vielleicht übertrieben, aber es war schon nicht ohne«, warf Kristie ein, die insgesamt aber noch recht fit und munter wirkte, weil sie als Einzige in der Truppe regelmäßig Sport trieb. Anna hatte sie erst vor ein paar Wochen beim Herbstfest übers Parkett wirbeln sehen. Highland Dancing verlangte einem enorme Körperbeherrschung und Kondition ab, und Kristie war meisterhaft darin.

»Gut, dann machen wir jetzt ein paar entspannte Bodenübungen, damit ihr wieder zu Kräften kommt.«

Während der restlichen Stunde gelang es Anna glücklicherweise, ihre lästigen streunenden Gedanken im Zaum zu halten und sich auf den Unterricht und ihre Schüler zu konzentrieren. Nach der langen und ausführlichen Endentspannung waren alle auch wieder mit der anfänglichen Tortur versöhnt und verabschiedeten sich fröhlich von ihr. Glücklicherweise machte auch Isla zügig die Biege und versuchte nicht, Anna noch auf einen Drink im Pub zu überreden. Am Ende hätte sie dann irgendwelche unbedachten Äußerungen über Lennox gemacht, und das wollte sie um jeden Preis verhindern. Kristie dagegen half ihr noch beim Aufräumen. Die tanzende Bäckerin war heute Abend ausgesprochen guter Dinge und begleitete Anna auch noch auf dem kurzen Weg von der Schule nach Hause.

»Du hast ja gute Laune«, bemerkte Anna schließlich, als Kristie vergnügt vor sich hin summend neben ihr herlief.

»Ich hab auch allen Grund dazu! Ich kann nächste Woche wohl doch mit der Tanzlehrerausbildung bei Phyllis Montgomery anfangen.«

»Echt? Das ist ja toll.« Anna erinnerte sich, dass die berühmte Tänzerin und Lehrerin Kristie beim Herbstfest das Angebot gemacht hat, sie zur Trainerin auszubilden. Eine Ehre, die nur den wenigsten Tänzern zuteilwurde. Leider hatte Kristie absagen müssen, weil sie für die Zeit des zweiwöchigen Workshops auf der Isle of Skye schon die Verpflichtung eingegangen war, für einen achtzigsten Geburtstag zu backen. Und auch grundsätzlich hatte sie ein Problem damit, ihre Bäckerei und das Café so lange zu schließen. Sie brauchte das Geld, um die Kredite abzubezahlen, die sie für die Renovierung aufgenommen hatte. »O, warte, ist was mit dem alten Graham? Es ist doch sein Geburtstag, für den du Torten und Teegebäck liefern sollst, oder? Hat er die Party abgesagt?«

»Nein, die findet statt, und der Auftrag steht. Aber ich habe eine Vertretung gefunden.« Kristie strahlte glücklich.

»Wow, das ist cool. Heißt das, dass auch das Café offen bleibt und mein Frühstück in den nächsten zwei Wochen gesichert ist?«

»Genau das heißt es. Ich bin so happy, ich kann’s kaum erwarten. Und du musst mir versprechen, dass du dann einen Kurs bei mir belegst. Ich werde ihn auch nicht an deinem heiligen Yoga-Dienstag abhalten.«

»Versprochen. Aber wer vertritt dich denn nun? Stellt Isla doch jemanden aus ihrer Küchencrew ab?«

»Nein, die braucht jeden und sucht sogar noch Verstärkung. Lennox wird das übernehmen.«

»Lennox?« Anna war so überrascht, dass ihr vor Schreck ihre Yoga-Matte aus der Hand rutschte.

»Ja, er war heute Nachmittag in der Backstube. Eigentlich nur, um mit mir Shortbread zu backen, aber dann habe ich gemerkt, dass er echt was kann und auch Spaß an der Arbeit hat.«

»Lennox?«, fragte Anna noch einmal, um ganz sicherzugehen. Der feinnervige, hochsensible Musiker Lennox sollte zwei Wochen lang die Bäckerei von Kirkby leiten und sogar noch Kuchen für eine Geburtstagsparty backen?

»Wenn ich’s dir sage! Ich habe ihm von der Ausbildung erzählt und dass ich so traurig bin, weil ich die verschieben muss, und da hat er spontan angeboten, für mich einzuspringen. Betty war zufällig auch da und hat versprochen, ihn zu unterstützen.«

»Wow, das sind ja mal Neuigkeiten! Die Krimiautorin und der Musiker schmeißen zusammen die Backstube. Da behaupte noch mal einer, in Kirkby würden keine verborgenen Talente schlummern.«

»Ich hab das nie behauptet.« Kristie klang verwundert.

»Sorry, dich habe ich auch gar nicht gemeint. Ich bin einfach nur überrascht und ziemlich beeindruckt. Und ich freue mich von Herzen für dich.« Sie zog ihre Freundin kurz in die Arme. Dann erspähte sie eine dunkle Silhouette, die aus den Schatten in Richtung ihres Hauses huschte. Elvis hatte seinen Ausflug beendet und schien es jetzt eilig zu haben, aufs heimische Sofa zu kommen.

»Mein Mitbewohner hat also doch noch den Heimweg gefunden«, sagte sie halb amüsiert, halb stirnrunzelnd.

»Dein Kater?«, fragte Kristie, die mit dem Rücken zum Haus stand und ihn nicht hatte sehen können.

»Ja, den habe ich seit heute früh nicht mehr zu Gesicht bekommen. Normalerweise belagert er meine Patienten im Wartezimmer, aber heute hat er sich geweigert, mit mir dein Café zu verlassen.«

»Katzen!«, entgegnete Kristie schulterzuckend. »Ist das nicht normal, dass die so eigensinnig sind?«

»Doch. Vermutlich schon. Mich würde nur interessieren, was er heute den ganzen Tag getrieben hat.«

»Frag ihn doch. Es ist Vollmond – vielleicht antwortet er dir?« Kristie lachte und verabschiedete sich dann herzlich.

Anna sah ihr kurz hinterher, dann fiel ihr Blick auf den Mond, der fett und träge über Kirkbys Kirchturm zu schweben schien. Der Wind trieb ein paar Wolken vor sein blasses Gesicht, und sie war sich sicher, dass er ihr verschmitzt zuzwinkerte.