OFFENBARUNGSEID

LENNOX WAR AN DIESEM Samstag todmüde, aber allerbester Laune. Er hatte das Gefühl, dass sich sein Leben endlich in die richtige Richtung bewegte. Sein Zusammenbruch gestern im Wald war reinigend gewesen. Er wusste zwar immer noch nicht ganz genau, wie es mit ihm weitergehen sollte, aber er war längst nicht mehr so verzweifelt und unglücklich deswegen. Und er hatte eine Perspektive. Als er nach seinem Ritt in den Stall zurückgekehrt war, hatte er einen Mann in seinem Alter getroffen, den er noch nicht kannte. Sean Gordon war Keramikkünstler und lebte seit fünf Jahren in einem alten Haus etwas abseits des Ortes, direkt am Wald. Offenbar hatte er unter anderem das Geschirr für Islas Restaurant gefertigt und auch schon ein paar Gegenstände für andere Dorfbewohner hergestellt. Aus dem Gemeindeleben von Kirkby hielt er sich aber weitgehend raus. Nur sein Pferd, das er in Ruperts Stall untergestellt hatte, sorgte dafür, dass er den Kontakt zu seinen Nachbarn nicht völlig verlor.

Jedenfalls hatten die beiden Männer ein Gespräch angefangen – und hatten sich neben dem üblichen höflichen Small Talk erstaunlich viel zu sagen gehabt. Sie waren vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, und irgendwann hatte Sean Lennox zu sich nach Hause zum Essen eingeladen. Dort hatten sie bis in den späten Abend hinein über Ausstellungen, Kunst und vor allem Musik gequatscht. Wie sich herausstellte, hatte Sean nämlich einen ganz ähnlichen Musikgeschmack wie Lennox und war unglaublich interessiert. Irgendwann waren die magischen Worte gefallen: »Ich hab hier so viel Platz, den ich nicht brauche. Seit Jahren überlege ich schon, die Scheune als Übungsraum für eine Band oder als Tonstudio zu vermieten, aber auf Dudelsäcke und Co. habe ich keine Lust. Du suchst nicht zufällig was?«

Nein, gesucht hatte Lennox eigentlich nichts, aber als er sich den Raum, den Sean so schlicht als »Scheune« angekündigt hatte, genauer anschaute, war es um ihn geschehen. Die ehemalige Remise, die in früheren Zeiten Wagen und Gerätschaften beherbergt hatte, war ein solide gemauertes Gebäude, trocken, gut beheizbar und mit Strom- und Wasseranschluss. Man könnte hier tatsächlich ein Studio einrichten und proben. Er sah sich schon nächtelang neue Songs einstudieren und alle erdenklichen Instrumente testen – ganz ohne dass es jemanden stören könnte. Die Aussicht elektrisierte ihn derart, dass er in der folgenden Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte und heute vollkommen übermüdet, aber aufgekratzt um fünf Uhr morgens in der Backstube aufgeschlagen war, um seine letzte Schicht als Aushilfsbäcker zu absolvieren.

Was, wenn er einfach in Kirkby bliebe? Vielleicht ließen sich seine Shortbread- und Pferdeleckerli-Kreationen tatsächlich zu Geld machen, sodass er wenigstens ein kleines Grundeinkommen hätte. Vielleicht könnte er auch die eine oder andere Vertretungsschicht für Kristie übernehmen? Mit dem, was er damit verdiente, könnte er wahrscheinlich die Miete für seinen Musikraum finanzieren. Vielleicht ergaben sich obendrein ein paar Gelegenheiten, in der Umgebung aufzutreten, wie es schon mehrere Leute – zuletzt Betty, mit eindringlichen Worten – vorgeschlagen hatten. Auch die würden etwas Geld bringen und ihm unter Umständen zudem gute Kontakte zu anderen Musikern bescheren. Leben dürfte er sicher weiterhin in Islas Wohnung – und könnte die restliche Zeit über einfach das tun, was er am liebsten tat: Musik machen. Er könnte das Album aufnehmen, das ihm schon so lange vorschwebte, oder zumindest eine solide Demoversion davon. Eventuell fände sich dann ja ein Label, das ihn unterstützen wollte, ohne ihm haarsträubende Bedingungen in den Vertrag zu schreiben? So viele Möglichkeiten, die sich plötzlich offenbarten und mit denen er im Leben nicht gerechnet hätte. Nicht hier in Kirkby zumindest.

»Kundschaft speziell für dich!«, riss ihn in diesem Moment Kellys Stimme aus seinen Gedanken. Das Mädchen jobbte immer samstags in der Bäckerei, sodass er sich kaum um Verkauf und Service kümmern musste, sondern schon die Vorbereitungen für die kommende Woche in Angriff nehmen konnte.

»Was ist los?«, fragte er, als er aus der Backstube und hinter den Verkaufstresen trat.

Kelly deutete auf Annas Tisch, an dem diese heute jedoch nicht allein saß, sondern in Begleitung einer riesengroßen Schönheit mit dunklem Teint, die sich halb amüsiert, halb interessiert im Café umsah. »Anna hat mich gebeten, dir Bescheid zu sagen«, erklärte Kelly und wies auf ein Tablett. Offenbar hatte sie die Bestellung der beiden schon vorbereitet.

»Alles klar«, antwortete er knapp, schnappte sich das Tablett und ging zum Tisch der beiden Frauen. »Guten Morgen«, begrüßte er sie und grinste schief. »Obwohl es ja schon fast elf Uhr ist. Reichlich spät für dich, oder?« Er servierte den üblichen Riesen-Cappuccino für Anna und einen doppelten Espresso für ihre Begleiterin, stellte den Brotkorb in die Mitte und arrangierte die Schälchen mit Butter, Clotted Cream und Marmelade darum herum.

»Es ist Wochenende, da darf man auch mal ausschlafen«, entgegnete sie gähnend, doch er stellte fest, dass sie müde und auch sonst ziemlich mitgenommen aussah.

»Natürlich darf man das. Aber besonders frisch kommst du mir nicht vor, wenn die Bemerkung erlaubt ist.« Er runzelte besorgt die Stirn und wandte sich dann an Annas Begleiterin. »Hi, ich bin übrigens Lennox.«

»Ich weiß«, sagte die Frau und grinste ihn auf eine Art an, die er fast als anzüglich empfand. »Ich bin Linda, Annas Freundin aus Edinburgh.« Sie pustete in ihren Espresso und kippte das starke Gebräu auf ex hinunter. »Ah, das tut gut.«

»Wart ihr gestern in Inverness?«, mutmaßte er, denn die beiden Frauen wirkten, als hätten sie lange gefeiert – etwas, das in Kirkby eher nicht so ohne Weiteres möglich war.

»Nein, nur in eurem interessanten Dorfpub«, erklärte Linda und betrachtete Lennox eindringlich. Er musste seinen Eindruck von eben revidieren. Ihr Blick war nicht anzüglich, sondern hatte eine andere Note. Eine, die er nicht richtig greifen konnte. Richtig wohl fühlte er sich dabei aber nicht.

»Ja, der Name von Jons Kneipe ist speziell«, bemerkte er, denn irgendwie fühlte er sich zu einem Kommentar herausgefordert. »Aber sonst ist der Wise Pelican doch ein ganz normaler Pub.«

Linda zuckte mit den Schultern. »Es war jedenfalls ein spannendes Publikum da, aber der wirklich interessante Teil des Abends hat erst danach angefangen.«

»Aha.« Lennox war sich nicht sicher, was er von diesen merkwürdigen Andeutungen halten sollte, und er wusste immer noch nicht, warum Anna nach ihm gefragt hatte. Welche Art Freundin war diese Linda überhaupt? Waren die beiden etwa ein Paar? Das würde Lindas Andeutung mit dem »wirklich interessanten Teil des Abends« stützen. Nicht dass es ein Problem für ihn wäre, aber er hatte bei Anna bislang nie den Eindruck gehabt, dass sie auf Frauen stand.

»Hast du nachher vielleicht Zeit?«, erlöste ihn Anna jetzt von seinen seltsamen Spekulationen. »Wir müssen dir nämlich dringend etwas …«

»Zeigen«, vervollständigte Linda ihren Satz.

»Erzählen«, beendete ihn Anna. Sie wirkte erschöpft, irgendwie erschüttert und weit weg von ihrem üblichen ausgeglichenen Selbst, das er als so wohltuend empfand.

»Aha«, sagte er noch mal – auch weil ihm kein schlauerer Kommentar einfiel. »Ist irgendwas passiert?«

»Noch nicht.« Linda schien die ganze Sache erheblich amüsanter zu finden als Anna, die sich sichtlich unwohl fühlte.

»Okay, konkreter wird es hier wohl nicht, was?«, fragte er und spürte, wie sich sein Hochgefühl von vorhin verabschiedete und einer irrationalen Nervosität Platz machte. »Der Laden schließt heute um halb eins. Ich brauch dann eine gute Stunde, um alles aufzuräumen und noch letzte Vorbereitungen zu treffen, danach habe ich Zeit. Wo soll ich hinkommen?«

»Zu mir in meine Wohnung?«, bat Anna, auch wenn es mehr wie eine Frage als wie eine Aufforderung klang.

Er nickte. »Dann bin ich gegen zwei bei euch.« Er wandte sich schon zum Gehen, als ihm noch etwas einfiel: »Wo ist eigentlich Elvis?«, erkundigte er sich. »Frühstück lässt er sich doch sonst nicht entgehen.«

»Wir waren ihm wohl zu spät dran. Als wir vorhin aufgestanden sind, war er bereits weg – wo auch immer er sich zurzeit rumtreibt.« Anna seufzte.

»Wahrscheinlich im Stall.«

»Stimmt, Alex hat das neulich erwähnt.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Weißt du, was er da macht?«

»Keine Ahnung, sich mit den Pferden amüsieren? Seit er mich neulich dahin begleitet hat, hängt er eigentlich die ganze Zeit dort rum. Ich dachte, du wüsstest das.«

»Ich wusste nicht mal, dass er mit dir dort war. Verrückt.« Sie lachte leise, und zum ersten Mal an diesem Morgen war der besorgte Zug aus ihrem Gesicht gewichen und hatte amüsierter Verwunderung Platz gemacht, was ihm erheblich besser gefiel.

»Ja, ich glaube, er ist im Herzen ein großer Pferdefan. Wenn du ihn also vermisst, schau mal im Stall vorbei. Aber jetzt guten Appetit für euch und bis später. Wenn ihr noch etwas braucht, dann sagt einfach Kelly Bescheid.«

Lennox hatte das ungute Gefühl schnell wieder abgeschüttelt, nachdem er in die Backstube zurückgekehrt war. Vermutlich waren die beiden Frauen einfach nur verkatert und hatten deshalb so einen merkwürdigen Eindruck gemacht. Er hatte zwar nach wie vor keine Vorstellung davon, was ihm die beiden zeigen oder mit ihm besprechen wollten, aber wie dramatisch konnte es schon sein?

Er beeilte sich, alle Vorarbeiten für den Montag abzuschließen, räumte auf und schickte dann spontan eine Nachricht an seinen neuen Kumpel Sean: Ich würde den Raum gerne mieten. Werde mir ein Auto leihen und nächstes Wochenende nach London fahren, um mein Equipment aus dem Lager zu holen. Danke, L.

Dann packte er noch ein paar übrig gebliebene Gebäckstücke in zwei Tüten und machte sich pünktlich um zwei auf den kurzen Weg zu Anna.

Annas Wohnung war wie sie selbst: warm, ruhig und voll positiver Energie. Das war das Erste, was Lennox auffiel, als er die knarzende Holztreppe des alten Landarzthauses zum ersten Stock hinauflief und gleich darauf in einem hellen Flur stand, den er in diesem alten Gemäuer nicht vermutet hätte.

»Komm rein«, bat Anna und nahm die Tüten entgegen, die er ihr mitgebracht hatte. Sie war freundlich wie immer, aber ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht, die seltsamerweise auch seinem Blick auswichen.

Sein Nacken prickelte, als würde eine irrationale Gefahr drohen, und seine gute Stimmung wich schlagartig Nervosität.

»Nimm doch Platz«, sagte Anna und deutete auf einen hellen Holzesstisch, an dem Linda saß, ein Laptop und ein Tablet vor sich. Anna verschwand in der angrenzenden Küche. »Kann ich dir etwas zu trinken anbieten? Tee? Kaffee? Kakao? Wasser?«

Täuschte er sich, oder klang sie angespannt? Eins dürfte jedenfalls klar sein: Auf einen Dreier hatten es die Damen nicht angelegt. Das war einer der wenigen Erklärungsansätze, die ihm in den Sinn gekommen waren, als Anna ihn zu diesem Treffen gebeten hatte. Fast musste er über seine absurden Gedanken lachen, aber irgendwie wollte selbst das nicht gelingen. »Nein danke, ich brauche im Moment nichts«, antwortete er und wunderte sich darüber, wie heiser er klang.

»Halt lieber schon mal den Whisky bereit, er wird ihn brauchen.« Linda betrachtete ihn, als sei er ein Zootier, das gleich irgendetwas tun sollte. Er hatte nur leider keine Ahnung, was.

»Und ich habe gedacht, ihr wolltet mich für einen Dreier«, versuchte er es mit einem lahmen Scherz.

Linda lachte laut und kehlig auf. »Glaub mir, danach bräuchtest du ganz sicher einen Whisky, aber ich fürchte, solche Vergnügungen stehen heute nicht auf der Tagesordnung. Mit Anna schon gar nicht.«

Lennox war sich nicht sicher, was er von dieser Aussage halten sollte, wollte aber lieber nicht in die Details gehen. Also setzte er sich auf den ihm zugewiesenen Stuhl und sah erwartungsvoll zu Anna, die mit einem Tablett in der Hand aus der Küche kam. Darauf standen eine Kanne Tee, drei Tassen und ein Teller mit den süßen Köstlichkeiten, die er eben mitgebracht hatte.

»Du fragst dich bestimmt, warum wir so geheimnisvoll tun und dich hierhergelockt haben«, begann sie, als sie selbst Platz genommen und Tee in die feinen Porzellantassen gegossen hatte. Er nickte nur, und sie fuhr fort: »Linda hat eine Entdeckung gemacht, die mich total schockiert hat, als sie sie mir gestern Abend präsentiert hat.«

»Okay … Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Alles. Restlos alles.« Sie hatte weiterhin Schwierigkeiten, ihm in die Augen zu schauen, aber sie legte ihre rechte Hand auf seine linke, während sie Linda zunickte, die daraufhin ein Video abspielte.

Es war eine Aufnahme von ihm selbst, wie er beim diesjährigen Fringe-Festival den Song Another World performte. Er hatte den Clip zwar noch nicht gesehen, aber ihm fiel nichts Schockierendes daran auf. Auch seiner Erinnerung nach war bei dem Gig nichts Außergewöhnliches geschehen. Viel bemerkenswerter war das Gefühl von Annas Hand auf seiner. Bei der traumatischen Yogastunde vor drei Wochen hatte ihre Berührung sein inneres Fundament zum Einsturz gebracht, heute dagegen hatte er den Eindruck, dass ihm ihre Hand Trost und Stärke spendete. Es fühlte sich gut an. Nicht übergriffig. Trotzdem fragte er sich, wofür er Trost und Stärke brauchen sollte. Die beiden Frauen starrten wie gebannt auf den Monitor und warfen ihm zwischendurch prüfenden Blicke zu, sodass er sich langsam vorkam, als würde er einem Test unterzogen werden.

»Wenn ihr meint, es schockiert mich, dass ihr mein Künstler-Ich Len X identifiziert habt, dann muss ich euch leider enttäuschen«, sagte er, als die letzten Töne des Songs verklungen waren. »Das ist kein Geheimnis. Es interessiert zwar praktisch niemanden, aber ich verberge es auch nicht.«

»Das wissen wir«, erwiderte Anna. »Wir würden dir jetzt gern noch ein Video vorspielen.«

Linda klickte auf ein zweites Browser-Fenster und spielte einen weiteren Clip ab. Es war derselbe Song, aber diesmal von der Originalband performt. Diesen Filmausschnitt kannte er sehr gut, denn er hatte den Auftritt von Starlight Lin bei ihrem letzten großen Livekonzert vor mehr als dreißig Jahren schon etliche Male gesehen. Ihn riss die Intensität der Darbietung jedes Mal wieder mit. Auch wenn er die seltsamen, artifiziellen Aufzüge des Duos und ihr Make-up reichlich fragwürdig fand, wirkten sie doch gleichzeitig sehr authentisch. Vermutlich war es diese Widersprüchlichkeit, die ihn so anzog und die bei Starlight Lin noch ausgeprägter gewesen war als bei Eurythmics oder Tears for Fears, die er ebenso bewunderte. Blieb die Frage, worauf die beiden Frauen hinauswollten.

»Fällt dir etwas auf?«, ergriff Linda das Wort.

»Nein?« Seine Feststellung klang wie eine Frage, aber er hatte wirklich keinen Schimmer, was sie meinte. »Ich bekenne mich schuldig, ein großer Starlight-Lin-Fan zu sein«, fügte er noch hinzu, als er Lindas Stirnrunzeln bemerkte. »Aber das trifft ja auf viele Menschen zu. Es gibt auch genügend Coverbands, die Another World schon gespielt haben. Ich denke nicht, dass ich mich für meine Version schämen muss.«

Anna drückte seine Hand. »Nein, musst du nicht, ganz im Gegenteil«, sagte sie sanft. »Es ist nur geradezu verblüffend, wie ähnlich du dem Sänger von Starlight Lin bist. Das Timbre in der Stimme, der Körperbau, das Auftreten – alles.«

»Wir haben halt zufällig dieselbe Stimmlage«, entgegnete er schulterzuckend. »Aber das trifft auf viele Menschen zu. Wollt ihr mir daraus einen Strick drehen?«

»Natürlich nicht«, beeilte sich Anna zu versichern.

»Hast du mal die Kommentare unter deinem Clip gelesen?«, fragte Linda.

»Nein, ich habe das Video heute überhaupt zum ersten Mal gesehen. Und ich lese eigentlich nie irgendwelche Kommentare, seit mir mal ein Hardcore-Eurythmics-Fan wegen meiner Version von Sweet Dreams Blasphemie vorgeworfen hat. Das macht nur schlechte Laune und bringt mich nicht weiter.«

»Dann lies mal die.« Linda schob das Laptop näher zu ihm und reichte ihm die Maus.

Gehorsam, wenn auch mit einem etwas unbehaglichen Gefühl scrollte er sich durch die erstaunlich zahlreichen Kommentare. Die allermeisten waren freundlich, wenn auch häufig nichtssagend. Doch dann stutzte er. »›Hammer-Typ – klingt so krass wie das Original, dass ich Gänsehaut bekomme!‹«, las er leise vor. Es folgten noch weitere, die in dieselbe Kerbe schlugen und in der völlig absurden These gipfelten: »Lin ist wiederauferstanden – wurde er nach dem Flugzeugabsturz eingefroren und jetzt wieder zum Leben erweckt?« Lennox schüttelte mit einem ungläubigen Lachen den Kopf. »Die Leute sind bekloppt. Ihr glaubt das doch nicht etwa? Falls doch, kann ich euch versichern, dass ich definitiv nicht Lin bin, niemals tot und eingefroren war.«

»Das glauben wir natürlich nicht!«, sagte Anna und drückte seine Hand noch fester. »Wir glauben, dass du sein Sohn bist.«

»Was?«

»Es klingt recht abenteuerlich, ich weiß«, gab Linda zu. »Aber eine andere Erklärung habe ich nicht. Seit ich deinen Dad gestern Abend im Pub zu Gesicht bekommen habe, bin ich mir sogar absolut sicher, dass es so sein muss. Wir haben ein Foto von dir durch eine Alterungs-App gejagt, und schau mal, wie du in fünfunddreißig Jahren aussehen wirst.« Sie nahm das Tablet zur Hand und rief das Bild eines Mannes auf, der seinem Vater verdammt ähnlich sah.

»Ich hatte gehofft, dass mir meine Haare länger erhalten bleiben«, entgegnete er mit einem schwachen Grinsen und strich durch seine gut kinnlangen schwarzen Locken. »Mädels, das könnt ihr unmöglich ernst meinen!«, rief er, als er Annas betretenen und Lindas triumphierenden Gesichtsausdruck bemerkte. »Diese App beweist doch höchstens, dass ich der Sohn meines Vaters bin – auch wenn ich insgeheim immer gehofft habe, ich wäre adoptiert – und später auch mal eine Vollglatze tragen werde. Ich kann aber beim besten Willen keine Ähnlichkeit mit Lin entdecken. Was aus zwei Gründen nicht verwunderlich sein dürfte: Erstens war er bei Auftritten und auf Fotos immer geschminkt, und zweitens ist er Jahre vor meiner Geburt ums Leben gekommen.« Er schüttelte den Kopf. Gestern Abend musste wirklich reichlich Alkohol geflossen sein, wenn sich Anna und ihre Freundin ein solches Hirngespinst zusammengereimt hatten. Er wusste nicht, ob er von Anna enttäuscht sein sollte oder geschmeichelt, denn immerhin schien er sie ähnlich zu beschäftigen wie sie ihn.

»Das ist zugegebenermaßen ein relativ schwaches Indiz. Genau genommen gar keins«, bekannte Anna und warf Linda einen »Hab ich dir doch gleich gesagt«-Blick zu. »Aber wir haben auch stärkere. Und glaub mir, ich ahne, wie absurd und seltsam sich das alles für dich anfühlen muss.«

• • •

Zum ersten Mal an diesem Tag schaffte Anna es, Lennox tief in die Augen zu schauen. Sie musste ihm klarmachen, dass sie um die Wucht ihrer Behauptungen wusste. Allerdings schien Lennox nichts davon glauben zu wollen. Letzte Nacht, allein mit Linda, war ihr das alles irgendwie schlüssiger vorgekommen. Aber da war auch ganz schön viel Alkohol im Spiel gewesen, der die Fantasie beflügelt hatte. Heute, mit einem leichten Kater und im fahlen Novembersonnenschein, stellte sich die Lage auch in ihren Augen ganz anders dar. Zumindest waren die bislang präsentierten »Beweise« nicht mehr als schwache und ziemlich haarsträubende Spekulationen. Sie hatten allerdings noch ein Ass im Ärmel.

Aber erst mal wollte Linda ihm noch ihre heute Nacht zusammengebastelte Bildergalerie zeigen. Sie hatte endlos nach Fotos von einem ungeschminkten Lin gesucht, aber kein einziges gefunden. Doch selbst auf denen, die ihn in voller Montur zeigten, konnte man – wenn man wollte – eine signifikante Ähnlichkeit von Lin mit Len feststellen. Allein die Namen, das konnte doch kein Zufall sein, oder?

Ansonsten war dieser Mann ein absoluter Vollprofi gewesen, der es vortrefflich verstanden hatte, sein privates Ich zu schützen. Es gab nirgendwo im Netz Anhaltspunkte zu seinem bürgerlichen Namen, seiner Herkunft oder gar seiner Familie. Ähnliches galt für seine Bandkollegin, die immer nur unter dem Namen »Starlight« aufgetreten war. Die beiden waren das perfekte Geheimnis. Selbst nach dem Flugzeugabsturz hatte es keine Hinweise gegeben. Die Plattenfirma hatte damals eine große Trauerfeier für die Fans organisiert, mit dem Hinweis, dass die Beisetzungen auf Wunsch der Familien privat, an unbekannten Orten und zu unbekannten Terminen stattfinden würden. Die Spekulationen in den Medien waren damals wild ins Kraut geschossen, aber an einen Fake hatte niemand geglaubt – zumindest war diesbezüglich nichts im Internet zu finden. Der Absturz des Privatjets war jedenfalls wirklich geschehen – am 31. März in Mexiko –, und alle Passagiere waren dabei ums Leben gekommen: die Crew des Flugzeugs und die Band mit sämtlichen Bühnenmusikern.

Lennox klickte sich halb amüsiert, halb irritiert durch die Bildergalerie und schüttelte zwischendurch immer mal wieder den Kopf. »Was versprecht ihr euch von diesem Stunt? Ich meine, ich traue meinem Vater einiges zu, aber den eigenen Tod vorzutäuschen und sein Vorleben vor der Familie und allen Menschen im Dorf geheim zu halten wäre selbst für seine Verhältnisse ein starkes Stück. Findest du nicht, Anna?«

»Doch. Total. Aber nur weil es unwahrscheinlich ist und eigentlich nicht sein dürfte, heißt es ja noch lange nicht, dass es auch nicht sein kann, oder?«, fragte sie und fuhr gleich fort, ohne auf eine Antwort zu warten: »Isla und Alex haben mir beide erzählt, dass es eine Zeit in Marlins Leben gegeben haben muss, in der er nur sporadisch zu Hause war. Alex sagt, dass er seine ersten Lebensjahre fast ausschließlich mit eurer Mutter und den Großeltern verbracht hat und dass Marlin so gut wie nie da war. Das hat sich erst ungefähr um Islas Geburt herum geändert. Seitdem ist er praktisch immer da gewesen.«

»Ich weiß, aber darüber wurde nie groß gesprochen. Es ist eines dieser typischen Familientabus, über die niemand redet. Wobei wir Kinder schon ein bisschen spekuliert haben. Meine liebste Theorie war immer, dass er früher ein erfolgreicher Geheimagent à la James Bond war, alternativ eine Mafiagröße. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass er als Investmentbanker ein paar gute Jahre in London verbracht hat, womöglich mit ein paar halbseidenen Nebengeschäften. Damit hat er dann sein Vermögen verdient, von dem heute noch die meisten Familienmitglieder und das halbe Dorf profitieren.«

»Nur du nicht.«

»Nur ich nicht.«

»Aber was, wenn er sein Geld als Popstar verdient hat? Ich habe keine Ahnung, über welche Größenordnung wir da sprechen, aber Tantiemen müssten doch bis heute fließen.« Annas Blick fiel auf seine Hand, die immer noch mit ihrer verschlungen war, und sie spürte ihren Worten nach. Es klang alles absolut haarsträubend und absurd – und doch wusste sie, dass es wahr sein musste. Dass es zumindest wahr sein könnte. »Jedenfalls würde das eine Menge erklären: Sein Vermögen, sein seltsames geheimnistuerisches Verhalten, seine fast pathologische Angst vor zu viel Trubel in Kirkby – vermutlich befürchtet er bei jedem neuen Besucher einen Investigativjournalisten, der ihn enttarnen könnte.«

»Es würde aber nicht erklären, warum er sich mir und meiner Musik gegenüber so unversöhnlich zeigt. Und wenn er wirklich Lin sein sollte, ein Künstler, den ich absolut verehre, weil er mit seiner Musik so viel aussagen konnte, dann hätte er nicht über dreißig Jahre lang ohne seine Sprache leben können. Für mich wäre das, als würde man mir beide Arme und meine Seele auf einmal wegnehmen.«

»Tja, Spekulationen bringen uns jedenfalls nicht weiter«, unterbrach Linda seine Gegenargumente, die in Annas Ohren durchaus schlüssig klangen. »Um ganz sicher zu sein, werden wir ihn – wirst du ihn! – wohl konfrontieren müssen. Aber vielleicht überzeugt dich mein letzter Beweis.«

Anna holte tief Luft, denn sie ahnte, was nun folgen würde. Sie hatten heute Nacht die Aufzeichnung eines Radiointerviews im Internet gefunden, in dem Lin ein wenig persönlicher geworden war. Die Band hatte während ihrer Karriere nur ganz wenige Interviews gegeben und jedes Gespräch auf der Stelle abgebrochen, wenn es zu privat wurde, doch in diesem Fall hatte der Reporter eine kühne Frage gewagt – und eine Antwort erhalten.

Linda klickte das Interview an, und die Stimme eines amerikanischen Radiomoderators tönte aus den Lautsprechern: »Lin, wo genau kommen Ihnen die Ideen für Ihre tiefsinnigen Texte und die mitreißenden Melodien?«

Es folgte ein leises Räuspern, das fast wie ein Seufzer klang, und dann die Antwort eines Mannes, der seine schottische Herkunft nicht verleugnen konnte: »Meistens in der Natur. Wenn ich mit meinem Pferd unterwegs bin und durch den Wald reite. Bei mir zu Hause gibt es eine kleine Quelle, angeblich eine vorchristliche Andachtsstelle. Wenn ich dort auf einem Stein sitze, muss ich mich gar nicht bemühen, da kommen die Songs zu mir.«

»Was?«, keuchte Lennox. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen – und Anna konnte es ihm nicht verdenken, aber sie wusste, dass es noch schlimmer kommen würde. Die Qualität der Sounddatei war nicht besonders gut. Sie rauschte ziemlich und überdeckte die Klangfarbe des Sprechers, doch es hörte sich verdammt nach Marlin an. Nach einem Marlin, der versuchte, seinen starken schottischen Akzent etwas einzufangen. Aber selbst das konnte noch Zufall sein – nicht jedoch die Geschichte von der Quelle im Wald.

»Wir haben noch eine Datei. Und diesmal sind wir hundertprozentig sicher, dass es Marlin ist, weil ich ihn da selbst für meinen Podcast interviewt habe. Er hat mich dann allerdings gebeten, es nicht auszustrahlen.«

Linda klickte die nächste Datei an, und gleich darauf erklang Annas Stimme: »Marlin, jetzt haben wir so viel über die Kunst des Pferdebeschlagens gesprochen, aber wohin geht ein Hufschmied und Hobbyschäfer, wenn er mal zu sich finden will?«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Marlin antwortete. Man hörte ein paar Vögel zwitschern und Insekten surren – sie hatte das Interview im Frühsommer bei einem gemeinsamen Spaziergang gemacht. Marlin hatte wirklich bemerkenswerte Dinge erzählt, und Anna hatte es lange bedauert, dass er ihr die Erlaubnis zur Veröffentlichung entzogen hatte. Jetzt ahnte sie, warum. Nach einer schier endlosen Pause ertönte plötzlich der gleiche Räusper-Seufzer wie bei der vorherigen Aufnahme, und dann sagte Marlin: »Meistens in die Natur. Wenn ich auf meinem Pferd im Wald unterwegs bin, komme ich ganz zur Ruhe. Es gibt hier in der Nähe eine Quelle, die für mich ein regelrecht magischer Ort ist. Dort zu sein ist für mich wie eine Reise in die Vergangenheit. Ich denke dann an all die Dinge, die mir früher wichtig waren. Und an meine Frau.«

In Annas Wohnzimmer war es so still, dass man Staubflocken hätte fallen hören können. Anna merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte – aber vermutlich war das vor allem eine Reaktion auf Lennox’ Pulsfrequenz, die sich während der letzten Minute rasant erhöht hatte, wie sie mit ihren Fingerspitzen ertastete. Er war weiß wie eine Wand und zeigte alle Anzeichen einer klassischen Schockreaktion.

»Jetzt wäre es vielleicht Zeit für den Whisky«, durchbrach Linda schließlich die beklemmende Stille und stand auf, um Gläser und die Flasche zu holen.

»Ich trinke nichts«, krächzte Lennox abwehrend.

»Warum? Erfüllst du das übliche Rockstarklischee und bist Alkoholiker?«, fragte Linda auf ihre gewohnt direkte und eher unsensible Art.

Er schüttelte den Kopf. »Ich mag das Zeug nicht.«

»Ach was, ein Schluck wird dir guttun. Sieh es als Medizin.« Linda goss ihm und Anna jeweils nur einen Fingerbreit in die Gläser und gönnte sich selbst die doppelte Menge. »Auf den Offenbarungseid des Jahrhunderts!«