SIE WAREN DIE LETZTEN, die am nächsten Tag die große Küche von Harriswood House betraten, und es war so voll, dass es kaum noch Platz für sie gab. Alex, Aidan und Colleen waren da, Isla und Jon, Shona und Kendrick. Aber auch Betty, Pfarrer Jack, Marlins Geschwister Rupert und Heather mit Alice und George. Hailey sprang zwischen der Küche und dem Frühstücksraum hin und her, in dem aber nur noch zwei Paare saßen. Linda lehnte an dem alten hölzernen Buffet und beobachtete voller Faszination das Schauspiel, das offensichtlich gerade auf einen Höhepunkt zusteuerte.
Anna war sich nicht sicher, ob Marlin schon vor ihrer Ankunft mit den neuen Erkenntnissen konfrontiert worden war. Zumindest ahnte er etwas, denn er wirkte wie ein Tier, das in eine Falle geraten war, ohne Hoffnung auf Entkommen. Die Spannung im Raum war mit Händen zu greifen, was zweifellos jedem klar war.
»Ich geh mal mit den Hunden raus«, kündigte in diesem Moment Aidan an und verließ mit seinem kleinen Terrier Tito, Jons Neufundländer-Hündin Polly und Shonas Wolfshunden Orla und Higgins die Küche. Auf dem Weg nach draußen schnappte er sich noch zwei frische Schokoladen-Muffins. Anna beneidete den Jungen um die Freiheit, das Ganze zu ignorieren. Sie hatte keine Vorstellung davon, was gleich passieren würde – und wie es dem Mann an ihrer Seite danach ergehen würde.
Sie tastete nach Lennox’ Hand. Er war ganz ruhig – noch, nahm sie an. Hormone waren machtvolle kleine Botenstoffe, redete sie sich ein, obwohl sie sich insgeheim wünschte, dass noch etwas anderes sein Gemüt positiv beeinflusste. Sie selbst nämlich. Doch vermutlich war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu philosophieren, was sie füreinander sein konnten, zumal sie selbst keine Antwort darauf hätte geben können. Volle Konzentration also für die Herausforderungen, die direkt vor ihnen lagen.
Anna schaute sich im Raum um und versuchte, in den Gesichtern zu lesen. Alex sah aus wie ein Vulkan kurz vor der Eruption, Rupert so, als wolle er seinen großen, massigen Leib am liebsten in einem Mauseloch verschwinden lassen. Heather strahlte eine Art »Ich wusste, dass dieser Tag kommen wird«-Resignation aus, und ihr Mann George schien sich auf das drohende Spektakel zu freuen. Jack wirkte tief betrübt, genau wie Alice, die tatsächlich rot verweinte Augen hatte, während Bettys Gesicht unlesbar war. Shona, Kendrick, Isla und Jon dagegen hatten offensichtlich keinen Schimmer, warum sie hier waren.
»Kann uns jetzt bitte mal jemand verraten, was wir hier alle tun sollen?«, verlangte Isla und gähnte herzhaft. »Ich muss in spätestens anderthalb Stunden in meiner Küche stehen.«
»Ist jemand gestorben?«, erkundigte sich Shona, die beim Anblick ihrer versammelten Verwandten anscheinend mit dem Schlimmsten rechnete. »Ist am Ende etwas mit Kristie?«
»Kristie geht es gut«, sagte Lennox ruhig. »Sie hat mir vorhin eine Nachricht geschickt, dass sie sich auf den Heimweg macht. Mittags wird sie da sein. Und es ist auch niemand gestorben. Im Gegenteil.«
Anna fröstelte. Lennox’ Stimme klang eiskalt.
»Im Gegenteil?« Shona runzelte die Stirn. »Ist noch jemand schwanger? Aber das wäre doch kein Grund für diese Leichenbittermienen.«
»Was Lennox meint, ist, dass wir einen Totgeglaubten in unseren Reihen haben«, übernahm Alex das Wort – nicht kühl wie sein kleiner Bruder, sondern brodelnd vor Wut.
Shona, Kendrick, Isla und Jon sahen ihn verblüfft und verständnislos an, die anderen wirkten eher betreten. Marlins Gesicht war maskenhaft.
»Hä?«, hakte Shona nach, wenig wortgewandt, aber nachvollziehbar irritiert.
»Ein Mann, der der Welt vor über dreißig Jahren seinen Tod vorgespielt, seine Kinder angelogen und seine Geschwister und Freunde zum Schweigen genötigt hat.« Alex schluckte, und Anna merkte, wie schwer es diesem sonst so besonnenen Mann fiel, einigermaßen Ruhe zu bewahren. In der Küche war es jetzt so still, dass man das Ticken der alten Standuhr im Flur hören konnte.
»Jetzt mach’s nicht so spannend, Alex. Raus mit der Sprache«, forderte Isla.
»Darf ich vorstellen?«, übernahm nun wieder Lennox, und Anna war insgeheim beeindruckt von der nicht abgesprochenen Dramaturgie der beiden Brüder. »Der phänomenale Lin von Starlight Lin.« Er deutete mit eleganter Geste auf seinen Vater.
»Was?«, riefen Shona und Isla wie aus einem Mund.
»Schluss jetzt!«, polterte Marlin los. Die Starre war von ihm abgefallen, und er wirkte jetzt mindestens so aufgewühlt wie sein ältester Sohn. »Ich muss mir in meinem eigenen Haus keine derart haarsträubenden Unterstellungen anhören.«
»Willst du etwa behaupten, es stimmt nicht?«, höhnte Alex. »Willst du ernsthaft so tun, als würden wir uns das nur einbilden? Du hast deine Familie über Jahrzehnte belogen und betrogen – und du hast andere Familienmitglieder und Freunde mit in dein Lügengeflecht hineingezogen.«
»Was fällt dir eigentlich ein, in so einem Ton mit mir zu sprechen?«, brüllte Marlin seinen Sohn an. »Was immer ihr zu wissen glaubt, stimmt nicht – und ich werde mich ganz sicher nicht rechtfertigen.« Er wollte aufstehen, doch auf der langen Sitzbank an der Wand war er zwischen Shona und Colleen eingekeilt, neben denen wiederum ihre Männer saßen. Keine Chance also, zu entkommen. Nun warf er einen mörderischen Blick in Richtung Linda, die er offensichtlich und nicht ganz zu Unrecht für alles verantwortlich machte.
Anna schaute ebenfalls in die Richtung ihrer Freundin, die sich jedoch wenig beeindruckt und insgesamt eher amüsiert zeigte. Anna fragte sich langsam, was Alex und Linda gestern noch unternommen hatten, und bedauerte es ein klein wenig, dass sie ihre Freundin heute früh nicht angerufen und um ein Update gebeten hatte. Doch sie war anderweitig beschäftigt gewesen. Gefühlt in einer ganz anderen Welt.
»Gib auf«, bat Heather ihren Bruder. »Ich hab dir immer gesagt, dass dir diese Geschichte früher oder später um die Ohren fliegen wird.«
»Nichts fliegt mir um die Ohren. Nicht solange jeder das tut, was vereinbart war!« Die Drohung in Marlins Stimme war eindeutig.
»O, jetzt machst du also auch noch einen auf Mafiapate?« Lennox schüttelte mit einem höhnischen Lachen den Kopf. »Weißt du eigentlich, dass wir früher immer mal wieder darüber spekuliert haben, was du wohl gemacht hast, während du monatelang verschwunden warst?«
»Ich war in eurer Kindheit nie monatelang verschwunden. Nicht einmal tage- oder stundenlang. Ich war immer für euch da!«
»In meiner frühen Kindheit nicht«, erinnerte ihn Alex. »Oder zählt das nicht? Bin ich nicht dein Sohn?«
»Du konntest dich doch gar nicht daran erinnern«, blaffte Marlin weiter.
»Wie bitte?«, brüllte Alex. »Ich habe das sehr wohl mitbekommen und mich gefragt, wo du wohl warst. Mum hat mir immer erzählt, dass du arbeiten wärst. Der Dad von einem meiner Freunde war Seefahrer und ebenfalls monatelang weg. Da habe ich mir gedacht, dass du vielleicht auch auf einem Schiff rumfährst.«
»Ist doch eine gute Erklärung«, brummte Marlin und zuckte mit den Schultern. »Was gab es da noch zu spekulieren?«
»Ich hab’s dir immer gesagt«, warf nun auch Alice leise ein, funkelte erstaunlicherweise aber nicht ihren Schwager, sondern ihren Ehemann Rupert wütend an.
»Es gab eine ganze Menge zu spekulieren«, ergriff Lennox wieder das Wort. »Für einen mutmaßlichen Seemann hast du nämlich verdammt wenig Ahnung von Nautik. Das hab ich schon als Vierjähriger gemerkt. Daraufhin haben wir uns überlegt, dass du vielleicht ein Geheimagent warst. Oder ein Investmentbanker. Nur auf Popstar sind wir nicht gekommen. Warum bloß?«
»Weil es vollkommen abwegig ist!«, rief Marlin und versuchte es mit einem Lachen. »Ihr leidet allesamt an einer blühenden Fantasie, die niemandem hier guttut.«
»Hör endlich auf, uns für dumm zu verkaufen!« Alex schäumte. Er blickte in die Richtung seiner Tanten und Onkel. »Ihr habt ihn jahrzehntelang gedeckt, wollt nicht wenigstens ihr endlich reinen Tisch machen? Haben wir die Wahrheit nicht verdient?«
»Die Wahrheit? Du tust gerade so, als wäre die Wahrheit eine klare Frage von Schwarz und Weiß – dabei ist sie das in den seltensten Fällen. Lin ist tot – seit über dreißig Jahren. Das ist die einzige Wahrheit, die zählt.« Marlin verschränkte seine Arme vor der Brust und lehnte sich mit aufgesetzter Gelassenheit wieder zurück, so als sei die Geschichte für ihn erledigt.
»Marlin, das kannst du nicht machen. Deine Kinder haben ein Recht auf die Wahrheit«, meldete sich Jack zu Wort. Der sonst so joviale und immer lächelnde Gottesmann wirkte gerade absolut humorlos. »Ehrlich gesagt bin ich froh, dass die Sache jetzt endlich rausgekommen ist.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnete Marlin blasiert. »Die sogenannte Wahrheit habe ich ja eben verkündet. Lin ist tot, ich bin am Leben. Nichts anderes zählt.«
Alex hatte inzwischen einen so roten Kopf, dass Anna sich langsam Sorgen machte. Er schien komplett fassungslos zu sein und nicht zu wissen, was er noch sagen sollte. Shona und Isla sahen gleichermaßen schockiert und verletzt aus und hatten offensichtlich Mühe, das alles zu begreifen. Nur Lennox war nach wie vor ganz cool – ausgerechnet der Mann, der unter der haarsträubenden Scharade seines Vaters am meisten zu leiden gehabt hatte.
»Fein, wenn du nur Häppchen servieren willst, dann machen wir das so«, begann er und fixierte seinen Vater. »Lin ist also tot. Darauf können wir uns einigen. Wir würden jetzt aber gern wissen, ob du früher Lin warst.«
»Das spielt doch nicht die geringste Rolle«, tat Marlin die Bemerkung ab, als handle es sich um einen selten dummen und lästigen Einwurf.
»Doch, es spielt eine entscheidende Rolle«, sagte Isla. »Du hast uns beigebracht, nicht zu lügen und zu unseren Fehlern zu stehen. Dir war es immer wichtig, dass wir das Beste aus uns und unseren Talenten machen und nichts davon verschwenden – außer bei Lennox offensichtlich. In deinem Wertekanon stehen Ehrlichkeit und Geradlinigkeit ganz weit oben. Auf der gleichen Stufe wie Familiensinn und Heimatverbundenheit. Insofern ist es für mich jetzt schon von Bedeutung, ob mich der Mann, der über viele Jahre einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben war, verarscht hat oder nicht. Versteh mich nicht falsch, Dad, ich habe keine Ahnung, wie Alex und Lennox auf die Idee kommen, dir diese Ungeheuerlichkeit zu unterstellen. Aber wenn ich mir meine Onkel und Tanten so ansehe, wenn ich Pfarrer Jack ins Gesicht schaue und Bettys Blicke richtig interpretiere, dann haben die beiden wohl recht.«
»Lächerliche, haltlose Behauptungen … und keine Beweise …«, murmelte Marlin in seinen Bart. Zumindest waren das die Floskeln, die Anna verstand.
»Wir haben ziemlich eindeutige Indizien gesehen und gehört«, erklärte Lennox. »Die können wir gern auch in dieser Runde vorführen, damit sich jeder ein Bild machen kann.«
»Alternativ könnten wir auch ein paar Journalisten informieren«, übernahm Alex. »Linda kennt bestimmt Musikredakteure, die scharf auf eine Exklusivmeldung wären. Oder Betty könnte einen ihrer früheren Kollegen aktivieren.«
Marlins Gesichtszüge entglitten bei diesen Worten leicht, aber nur für einen Augenblick, dann hatte er sich wieder im Griff. »Könnt ihr gern versuchen. Dafür gibt es Anwälte.«
»Was auch immer das für ein schmutziger Deal war, den du mit meinem Schwiegervater ausbaldowert hast«, begann Heather, »ich spiel da nicht mehr mit. Ihr habt absolut recht, euer Vater war Teil der Band Starlight Lin. Seine Bandpartnerin Carolyn ist damals tatsächlich bei diesem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen – zumindest hat mein Bruder das behauptet. Er selbst hatte eine andere Maschine genommen und war angeblich komplett überrascht, als er aus den Nachrichten erfahren hat, dass er ebenfalls als tot galt. Warum er diesen Irrtum dann nie aufgeklärt hat, weiß ich bis heute nicht. Womöglich kam ihm diese Exitstrategie gerade recht, weil er keine Lust mehr auf die Band hatte? Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls wusste auch zu seinen aktiven Zeiten niemand in Kirkby von seinem Zweitleben. Zumindest niemand außer der Familie und Jack.« Sie ignorierte den Todesblick ihres älteren Bruders und sah stattdessen zu Betty. »Dachte ich zumindest.«
Shona entfuhr ein Schluchzer. Sie schaute ihren heiß geliebten Vater voller Entsetzen an und rückte erschrocken von ihm ab, als er ihr eine Träne von der Wange wischen wollte.
Diese kleine Geste schien Marlin tiefer zu berühren und zu beeindrucken als die kaum kontrollierte Wut seiner Söhne und die Vorhaltungen seiner älteren Tochter und seiner Schwester. Als sich seine jüngste Tochter schockiert und, ja, auch angewidert von ihm abwandte, zuckte er schwer getroffen zusammen. Sein Gesicht wurde aschfahl, und kurz wallte Mitleid in Anna auf.
Betty griff über den Tisch hinweg nach Marlins Hand. »Marlin«, sagte sie eindringlich, aber erstaunlich liebevoll. »Es ist wirklich Zeit, alle Karten auf den Tisch zu legen, wenn du nicht riskieren willst, dass sich deine Kinder noch weiter von dir entfernen.«
»Du hast ja keine Ahnung, wovon du da redest«, entgegnete er, doch Anna merkte, dass seine Stimme zitterte.
»Doch. Ich weiß es sogar ganz genau. Ich weiß seit über vierzig Jahren, dass du in Wirklichkeit Musiker bist. Vermutlich sogar länger, wenn man an unsere Jugend und Kindheit zurückdenkt. Ich glaube, ich war beim allerersten Konzert von Starlight Lin. Das muss Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre gewesen sein – in einem heruntergekommenen Londoner Club. Schon damals hattet ihr dieses lächerliche Make-up, aber ich habe dich trotzdem gleich erkannt. Die Stimme, die ich so oft an irgendwelchen Lagerfeuern gehört hatte, war unverkennbar.«
»Warum hast du nie etwas gesagt?«, stellte Jack die Eine-Million-Pfund-Frage.
»Weil ich wissen wollte, was dahintersteckt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben – ich hatte schon immer eine Schwäche für Marlin, doch er hatte nur Augen für Bonnie. Das war okay, ich hatte ja meine Karriere. Für Journalisten war das eine aufregende Zeit. Margaret Thatcher, der Falklandkrieg – das waren meine Themen. Ich habe mich danach nicht groß um Starlight Lin gekümmert – außer dass ich mir alle Platten gekauft habe. Ich hatte keine Ahnung, dass in Kirkby niemand etwas wusste, dass es schon damals ein Geheimnis war. Mein Interesse flammte erst wieder richtig auf, als ich von Marlins vermeintlichem Tod gehört habe. Ich war geschockt, dass mein Jugendfreund ums Leben gekommen sein sollte. War er nicht, wie sich herausstellte. Er saß vielmehr fröhlich mit Frau und Kind hier in Kirkby, hat sich um seine Schafe gekümmert und Pferde beschlagen.
Also habe ich angefangen zu recherchieren. Ich habe mir die Passagierliste des Unglücksflugs besorgt, aber die war nicht besonders aussagekräftig, weil es ja ein Privatjet war. Die Bühnenmusiker standen teilweise mit vollem Namen drauf, teilweise nur als Abkürzung. Es gab einen Lin, aber keine Starlight. Dafür eine Carolyn Starling. Ich wusste damals noch nicht sicher, dass sie der weibliche Part der Band war, weil eure bürgerlichen Namen ja nie bekannt gemacht wurden, aber das habe ich später herausgefunden. Ich habe auch eine Sterbeurkunde von Carolyn gesehen – aber natürlich nichts von Marlin. Also habe ich weiterrecherchiert. Mir war klar, dass es Mitwisser an entscheidenden Stellen geben musste. Anwälte, jemand in der Plattenfirma … Mosaikstein für Mosaikstein habe ich dann also alles zusammengesetzt.«
»Betty, du bist der Knaller«, rief George voller Bewunderung. Ganz so hätte Anna es nicht formuliert, aber sie fand es ebenfalls sehr bemerkenswert.
»Ich hab dir doch schon im Frühjahr gesagt, dass zwischen Betty und deinem Vater was läuft«, kommentierte Jon aufgeräumt. Interessant, auf welches Stück Information er seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte, dachte Anna. Isla dagegen brachte ihren Verlobten ungeduldig zum Schweigen.
»Warum hast du nie mit mir darüber gesprochen?«, krächzte Marlin schließlich. Sein eben noch aschfahles Gesicht glich nun einer weißen Leinwand.
»Weil ich immer darauf gewartet habe, dass du es selbst zugibst«, entgegnete Betty mit einem traurigen Lächeln.
»Da ist nichts, was ich zugeben müsste«, beharrte er mit brüchiger Stimme.
»Wie kann man nur so stur sein und so lange mit einer solchen Lüge leben?« Sie schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich hatte gehofft, dass du wenigstens heute der Mann bist, den ich so lange in dir gesehen habe. Aber ich hab mich wohl getäuscht.« Sie winkte matt in die Runde und verließ mit einem Seufzer die Küche.
»Ich muss ihr leider recht geben«, pflichtete ihr Jack bei und schaute dann auf die Uhr. »Und außerdem muss ich mich um meine Schäfchen kümmern.«
Anna hatte sich ohnehin gewundert, dass Jack an einem Sonntagmorgen Zeit für einen Hausbesuch hatte. Doch womöglich begann der Gottesdienst erst um elf, so genau wusste sie das gar nicht. Sie sah zu Lennox, der seinen Vater mit beredtem Mienenspiel beobachtete. Enttäuschung erkannte sie in seinem Gesicht, Resignation und Verachtung. Und dann: Entschlossenheit!
»Lass uns gehen«, sagte er zu ihrer großen Überraschung zu ihr. »Ich möchte dir gern etwas zeigen. Linda, ich würde mich freuen, wenn du auch mitkommst.«
• • •
Lennox wusste nicht, was er von dem Showdown am Frühstückstisch erwartet hatte. Insgeheim hatte er wohl gehofft, dass sein Vater alles zugeben und eine Erklärung abliefern würde. Irgendwas. Doch Marlins Weigerung, die Vergangenheit offenzulegen und seiner Familie einen nachvollziehbaren Grund für sein Schweigen, seinen Betrug zu nennen, war typisch für den schottischen Sturschädel. War er selbst enttäuscht deswegen? Sicher. Aber längst nicht so verzweifelt, wie er hätte sein können. Wie er gestern Nachmittag noch gewesen war. Nein, er war zwei Schritte weiter. Wenn sein Vater sein Leben auf einer Lüge aufbauen wollte, dann war das seine Sache, er selbst würde es nicht tun. Er würde ab sofort nur noch das tun, was sein Herz ihm diktierte.
»Irgendwie habe ich mir das etwas anders vorgestellt«, sagte Linda, als sie das Haus verlassen hatten, und atmete tief durch.
»Ich auch«, gab Anna zu, doch Lennox zuckte nur mit den Schultern.
»Eigentlich ist es erwartungsgemäß gelaufen. Mein Vater hat es noch nie zugegeben, wenn er im Unrecht war. Warum sollte er heute damit anfangen?«
»Weil er Gefahr läuft, seine Freunde und seine Familie zu verlieren?«, warf Anna ein. »Und weil die Drohung im Raum steht, dass die Medien davon Wind bekommen. Ist das nicht seine größte Sorge?«
»Ich glaube, seine größte Sorge ist sein Selbstbild«, entgegnete Lennox. »Aber das ist sein Problem. Ich will mich nicht mehr damit befassen. Stattdessen würde ich euch gern mein zukünftiges Studio zeigen.«
»Dein Studio?«, fragte Anna mit einem überraschten, aber eindeutig hoffnungsfrohen Lächeln. »Dann bleibst du also in Kirkby?«
Er merkte, wie sich bei ihren Worten eine irrationale Freude in ihm ausbreitete. Wenn er hierbliebe, dann gäbe es womöglich die Chance … Tja, worauf eigentlich? Was war das letzte Nacht gewesen? Außer einer ziemlich effizienten Methode, rasende Gedanken zu beruhigen? Er konnte es nicht sagen, und sicher war das jetzt auch nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen, aber trotzdem fühlte es sich tief in ihm plötzlich ganz warm an. Ein weiteres Indiz dafür, dass er sich richtig entschieden hatte. »Ich hatte mir bis vorgestern keine Gedanken dazu gemacht«, beantwortete er ihre Frage. »Aber dann habe ich Sean Gordon getroffen. Kennst du ihn?«
Anna schüttelte den Kopf.
»Er ist Keramikkünstler und hat ein großes Haus am Waldrand. Ich habe ihn bei Rupert im Stall kennengelernt, wo er sein Pferd stehen hat. Er ist ungefähr in meinem Alter und ist wohl nicht sehr stark in der Dorfgemeinschaft engagiert – was ich absolut nachvollziehen kann …« Er lächelte vielsagend und fuhr fort: »Aber wir waren sofort auf einer Wellenlänge, und er hat mir von einem leer stehenden Gebäude auf seinem Grundstück erzählt, das sich seiner Meinung nach perfekt als Musikstudio oder Proberaum eignen würde. Um es abzukürzen: Ich hab es mir angesehen, und es hat sich spontan richtig angefühlt. Da herrschen richtig geile Vibes – fast so wie an der Quelle im Wald. Und plötzlich war klar, dass ich hierbleiben werde, um mich voll auf meine Musik zu konzentrieren.«
»Wow, das sind ja spektakuläre Entwicklungen.« Nun strahlte Anna richtig, doch dann bildete sich eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn. »Auch nach den jüngsten Offenbarungen noch?«
Lennox zuckte mit den Schultern und lauschte in sich hinein. Es hatte sich nichts geändert. Klar hatte ihm das geheime Doppelleben seines Vaters einen gehörigen Schock versetzt, und gestern war der Impuls, zu fliehen und nie wieder zurückzukehren, eine Weile verdammt übermächtig gewesen. Aber dann hatte er festgestellt, dass das Ganze nichts mit ihm zu tun hatte. Dass seine Entscheidungen unabhängig von denen seines verlogenen Dads zu sein hatten. Er hatte genauso viel Recht darauf, sein Leben in Kirkby zu verbringen, wie der Rest seiner Familie, und wenn er in diesem Kaff Musik erschaffen wollte, die irgendwann vielleicht die ganze Welt begeistern könnte, musste Marlin Fraser damit leben. Das war dann nicht mehr Lennox’ Problem. Er hatte damit gerechnet, dass ihn die Konfrontation heute viel mehr aus der Bahn werfen würde, doch das war nicht passiert. Ganz im Gegenteil, er fühlte sich entschlossen und klar wie nie zuvor in seinem Leben. »Mein Vater hat mit meiner Entscheidung nichts zu tun«, antwortete er daher auf Annas Frage.
»Du bist ein ziemlich außergewöhnlicher Typ«, mischte sich Linda ein. »Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
»Wenn, dann war es eher nicht als Kompliment gedacht«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen. Schließlich konnte er sich auch bei Linda nicht sicher sein, ob sie es positiv meinte. Doch auch das war ihm egal. Er war nicht mehr abhängig von den Urteilen anderer Menschen.
»O, ich meine es absolut als Kompliment. Ich finde deine Coolness extrem beeindruckend, das hätte ich dir nach deinem Meltdown gestern gar nicht zugetraut. Die paar Tropfen Whisky können es ja wohl kaum gerichtet haben? Ich tippe eher auf Annas therapeutische Hände …« Sie hob mit einem eindeutig zweideutigen Blick eine Braue und grinste frech.
»Nicht nur ihre Hände sind therapeutisch. An Anna ist alles magisch«, sagte er schlicht, denn es war die Wahrheit. Ohne Anna wäre er jetzt nicht in dieser Verfassung, da war er sich absolut sicher. Auch wenn er keinen Schimmer hatte, was genau sie mit ihm angestellt hatte – oder er mit ihr beziehungsweise sie miteinander. Aber dieser Prozess hatte nicht erst gestern begonnen, sondern schon beim ersten Hören ihres Podcasts. Irgendwie hatte er schon damals gewusst, dass er diese Frau finden musste. Zumindest ergab das in der Rückschau plötzlich Sinn. So, wie sie ihn jetzt anstrahlte, ging es ihr offenbar ähnlich.
Linda dagegen schien von der Tiefe ihrer Verbindung nichts zu ahnen, sondern konzentrierte sich nur auf Äußerlichkeiten. »Na ja, du hast wohl auch einiges drauf. So einen Glow habe ich bei der schönen Annabel noch nie gesehen.«
»Linda!«, kam es warnend von Anna, doch ihre glänzenden Augen und die geröteten Wangen sprachen eine deutliche Sprache.
Lennox grinste in sich hinein. Von Harriswood House bis zu Seans Haus waren es gut zwanzig Minuten zu Fuß, aber wenn er sich Lindas Stilettos so anschaute, würde es wohl ein größeres Unterfangen werden. »Hast du andere Schuhe dabei?«, fragte er sie und erntete ein amüsiertes Schnauben von Anna.
»Du bist ja putzig«, entgegnete Linda mit einem Augenrollen und angelte einen Schlüsselbund aus ihrer Manteltasche. »Wir fahren mit dem Auto.« Sie deutete auf den Parkplatz des Bed & Breakfast und ging voran.
Anna kicherte immer noch, als sie seine Hand nahm. »›Andere Schuhe‹? Ernsthaft?«
»Hm.« Mehr gab es dazu von seiner Seite aus nicht zu sagen. Stattdessen genoss er das Gefühl, das Annas mit seinen verschränkte Finger in ihm auslösten. Ihre Hand war eiskalt, aber die Wärme, die sich in ihm ausbreitete, umhüllte ihn so kuschelig wie eine Daunendecke. »Ich glaube, du hast mich wirklich und wahrhaftig verzaubert«, raunte er ihr ins Ohr, als sie den Wagen erreicht hatten. Er kletterte auf die Rückbank, um ihr den komfortableren Beifahrersitz zu überlassen, und lotste Linda dann quer durch den Ort, ein Stückchen an der Destillerie vorbei und zu Seans Hof. Sein Magen knurrte vernehmlich.
»Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir wäre nach einem ausführlichen Frühstück im Pub nach der Studiobesichtigung.«
»Wohl eher nach einem Mittagessen«, korrigierte Anna.
»Hauptsache, es gibt überhaupt was zu essen.« Linda parkte ihren glänzenden SUV neben dem ziemlich alten und zerbeulten Lieferwagen von Sean.
Lennox überlegte kurz, ob er ihr Kommen wohl besser bei Sean hätte ankündigen sollen. Ein sonntäglicher Überfall war womöglich nicht ganz im Sinne seines neuen Kumpels und zukünftigen Vermieters. Aber da öffnete sich schon die Werkstatttür des Keramikkünstlers.
»Das ist ja eine Überraschung«, grüßte der hochgewachsene Mann das ungewöhnliche Trio und sah bedauernd auf seine lehmverschmierten Hände. »Ich hab gerade gearbeitet.«
»Wir wollten auch nicht stören«, erklärte Lennox. »Ich wollte nur Anna und Linda das zukünftige Studio zeigen.«
»Klar, jederzeit.« Sean wischte seine Pfoten an dem schmutzverkrusteten Geschirrtuch ab, das in seinem Gürtel steckte, und kramte dann in seiner Hosentasche nach einem Schlüsselbund. »Anna und Linda sind … deine Bandmitglieder?«, erkundigte er sich. Erstaunlich neugierig für einen menschenscheuen Einsiedler, wie Lennox fand.
»Anna ist Kirkbys Ärztin und meine Freundin, und Linda ist ihre beste Freundin aus Edinburgh und nur dieses Wochenende zu Besuch«, sagte er lässig, obwohl sich seine Herzfrequenz eben mindestens verdoppelt hatte. Anna war seine Freundin. Punkt. Egal in welchem Wortsinn. Zumindest sah er das so.
»Hast du das gehört?«, zischte Linda so laut in Annas Ohr, dass es alle verstehen konnten. »Du bist seine Freundin!«
»Bin ich. Und ich bin sehr stolz darauf«, gab sie ganz entspannt zurück und nahm Linda so im Handstreich ihr Sensationslüftchen aus den Segeln. »Schön, dich kennenzulernen, Sean«, grüßte sie den Künstler freundlich. »Ich schätze mal, die Tatsache, dass wir uns noch nicht kennen, spricht für deine ausgezeichnete Gesundheit.«
»Wahrscheinlich«, brummte er und forderte den kleinen Trupp dann mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen.
»Elvis? Was machst du denn hier?«, rief Anna überrascht, als plötzlich ihr Kater durch die geöffnete Werkstatttür gestiefelt kam und sich der Menschengruppe anschloss.
»Das ist deiner?«, fragte Sean verblüfft. »Ich überlege schon seit Wochen, zu wem er wohl gehört.«
»Seit Wochen?« Anna schüttelte den Kopf darüber, wo sich der Vierbeiner überall herumtrieb.
»Im Sommer hat es angefangen. Eines Abends kam er vorbei, hat sich hier alles angesehen und offenbar für gut befunden. Seitdem kommt er fast jeden Tag und leistet mir bei der Arbeit Gesellschaft. In der Regel für ein, zwei Stunden – dann zieht er wieder ab.« Sean lachte und tätschelte dem Tier, das sich vertrauensvoll an seine Beine schmiegte, den runden Kopf.
»Eins ist jedenfalls klar: Dein Kater hat ein aufregenderes Sozialleben als du«, sagte Linda grinsend zu Anna.
Sie waren bei dem Gebäude angelangt, das Lennox’ Studio beherbergen sollte – und als sie eintraten, war er genauso verzaubert wie beim ersten Mal. Das Innere war dank der offenen Dachkonstruktion, die sich über zwei Drittel des rechteckigen Raums erstreckte, großzügig und luftig. Im hinteren Bereich war eine Galerie eingezogen worden, unter der man mit relativ wenig Aufwand Leichtbauwände aufstellen und sein Aufnahmeequipment unterbringen könnte. Es gab ein winziges Duschbad und eine kleine Teeküche. Notfalls könnte er auch ein Bett auf die Galerie stellen und hier wohnen. Er schloss kurz die Augen und sah alles ganz genau vor sich. Es war einfach perfekt.
»Was meint ihr?«, fragte er die beiden Frauen.
»Na ja, es ist halt ein leeres, kaltes Haus im Nirgendwo«, antwortete Linda naserümpfend. »Ich könnte mir vorstellen, dass ein kreatives, urbanes Umfeld für Musiker viel besser wäre. Aber wenn du’s schön findest …«, fügte sie gönnerhaft hinzu.
»Es passt zu dir«, sagte dagegen Anna und schaute ihm tief in die Augen. »Dieser Raum und du – ihr habt aufeinander gewartet und euch gefunden. Ich glaube, dass hier die großartigsten Dinge geschehen werden.« Sie lächelte ihn an, und ihm wurde wieder ganz warm. Es war unglaublich, wie Anna ihn verstand, seine Bedürfnisse begriff und wortlos Potenziale erkannte.
»Wenn ihr ein Bett reinstellt, dann vielleicht«, bemerkte Linda mit kaum verbrämter Ironie.
»Linda, ich liebe dich wie eine Schwester, aber manchmal würde ich dir am liebsten dein vorlautes Schandmaul stopfen! Wann lernst du, dass deine Bedürfnisse nicht der Maßstab für alle anderen sind?« Annas liebevoller Blick war einem gefährlichen Funkeln gewichen, und ihre Stimme hatte einiges an Schärfe zugelegt. Lennox war beeindruckt, und auch Linda schien derart klare Worte von ihrer sanften Freundin nicht gewohnt zu sein.
»Du hast recht«, gab sie zu und hatte die Größe, zerknirscht zu klingen. »Tut mir leid. Ich bin bestimmt nur so fies, weil ich noch nichts im Magen habe – außer schwer verdaulichen Familiengeheimnissen.«
Diesmal war es Lennox, der ihr einen warnenden Blick zuwarf. Es musste nicht sein, dass diese Geheimnisse öffentlich breitgetreten wurden – auch wenn die Öffentlichkeit im Moment nur aus Sean Gordon bestand, der zumindest nicht übermäßig neugierig wirkte. Aber man wusste schließlich nie.
»Kann ich euch vielleicht einen Kaffee anbieten?«, fragte Sean aber prompt, sehr zu Lennox’ Überraschung.
»Das ist nett, aber ich habe den Damen eine ausführliche Mahlzeit im Pub versprochen«, sagte er rasch, ehe Linda oder Anna reagieren konnten. »Komm doch mit. Dann können wir schon alle Details zum Mietvertrag besprechen.«
Es war ein spontaner Impuls gewesen, Sean zu fragen, aber Lennox merkte, dass er es wirklich so meinte. Erstens wollte er seinen zukünftigen Vermieter gern besser kennenlernen, und zweitens hatte er nicht die geringste Lust, über seinen Vater und die Konsequenzen der aufgedeckten Lügengeschichte zu reden. Das war nicht seine Baustelle. Für ihn gab es jetzt nur noch die Zukunft.