SORRY SEEMS TO BE …

»KOMMST DU NOCH MIT in den Pub?« Islas Frage nach der Yoga-Stunde klang eher nach einer Aufforderung, und so wie Annas Freundin sie mit gerunzelter Stirn musterte, hatte sie Gesprächsbedarf.

Anna unterdrückte ein Stöhnen. Am liebsten wäre sie direkt nach Hause gegangen und hätte sich ins Bett gelegt, um idealerweise in einen tiefen, erholsamen und traumlosen Schlaf zu sinken. Doch daran war seit London ohnehin nicht mehr zu denken. Seit sie vorgestern spätabends nach Hause gekommen waren, hatte sie Lennox nicht mehr gesehen. Er hatte sie vor ihrem Haus abgesetzt, sich mit einem flüchtigen Kuss verabschiedet und war dann zweifellos zu seinem »Studio« abgerauscht, wo er ziemlich sicher immer noch saß und Raum, Zeit und definitiv sie selbst vergessen hatte. Gut, vergessen hatte er sie vielleicht nicht, aber ganz sicher verdrängt. Warum hatte sie ihren Mund nicht halten können und ihn damit unter Druck gesetzt, dass er mit seinem Vater sprechen sollte? Das war verdammt unsensibel von ihr gewesen – und dumm! Zwei Eigenschaften, für die sie eigentlich nicht bekannt war.

Während sie also das Schicksal vieler Überbringer unangenehmer Nachrichten teilte, ignorierten die entscheidenden Parteien einander und vor allem sie. Zumindest ging sie davon aus, dass bislang keiner der Fraser-Junioren das Gespräch mit dem Senior gesucht hatte. Davon hätte sie zweifellos schon Wind bekommen. Heute Nachmittag war Colleen in der Sprechstunde gewesen – mit leichten Erkältungssymptomen, etwas erhöhtem Blutdruck und tiefen Sorgenfalten. Ihr setzte der schwelende, wenn auch stumme Krieg im Haus heftig zu. Und jetzt auch noch Isla.

»Klar, gerne«, antwortete sie und hoffte, dass sie wenigstens ein bisschen enthusiastisch rüberkam.

Isla half ihr, die Matten, Decken, Yogablöcke und -gurte wegzuräumen, und als sich die letzte Teilnehmerin verabschiedet hatte, baute sie sich vor Anna auf. »Ist in London irgendwas passiert?«

Okay, die komplizierteste Frage gleich zu Anfang. Anna wusste nicht so recht, wo sie anfangen sollte, und stieß ein hilfloses Lachen aus, das sich selbst in ihren Ohren eher wie ein Verzweiflungslaut anhörte.

»So schlimm?« Nun klang Isla deutlich mitfühlender.

»Jedenfalls nichts, was ich unbedingt mit trockener Kehle besprechen möchte«, entgegnete Anna düster, knöpfte ihren Dufflecoat zu, wickelte sich einen dicken Schal um den Hals und setzte sich die Mütze auf. Sie scheuchte Isla aus dem Übungsraum, knipste das Licht aus und sperrte die Tür ab. Dann hakte sie sich bei ihrer Freundin unter und war sich bei dieser Geste selbst nicht sicher, ob sie sich Halt erhoffte oder einfach freundschaftliche Verbundenheit ausdrücken wollte. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.

Als sie kurz darauf den Wise Pelican erreichten, lotste Isla sie in die gemütliche Kaminecke, rückte zwei der Ohrensessel noch ein Stückchen näher ans munter flackernde Feuer und verschwand in Richtung Tresen.

Anna schälte sich aus ihren warmen Klamotten und kuschelte sich in einen der Sessel. Polly, die lackschwarze Neufundländer-Hündin von Jon und Isla, die auf dem Teppich vor dem Kamin lag, ließ sich von ihren tiefen Seufzern kaum stören. Sie hob kurz den Kopf, klopfte ein paarmal träge mit dem Schwanz auf den Boden und sank dann umstandslos in den Schlaf zurück, den Anna so sehnlichst vermisste.

Wenige Minuten später kehrte Isla mit einem großen Tablett zurück, das sie gekonnt auf dem niedrigen Beistelltisch zwischen den Sesseln abstellte. Darauf standen zwei dampfende Schüsseln mit Fischsuppe, ein gut gefüllter Brotkorb, vier Gläser, eine große Flasche Wasser und eine halb volle Flasche Whisky. Erst als Anna das verführerische Fischaroma in die Nase stieg, merkte sie, wie hungrig sie eigentlich war. Ihre letzte Mahlzeit lag schon einige Stunden zurück, ein relativ spartanisches Sandwich in der Mittagspause. Zu mehr war sie nicht gekommen.

»Du bist eine wahre Freundin«, sagte sie lächelnd zu Isla und nahm sich eine Schüssel. Die heiße Keramikschale wärmte sie von außen, die köstliche Suppe von innen. Nach ein paar Bissen kehrten ihre Lebensgeister langsam wieder zurück. Zumindest einige.

»Ich tu, was ich kann«, entgegnete Isla und aß ihre Suppe mit sichtlicher Begeisterung.

Anna fand es schön, zu sehen, dass sich die Spitzenköchin an dieser vergleichsweise simplen Suppe erfreuen konnte und das Mahl regelrecht zelebrierte. Außerdem verschaffte ihr das Zeit dafür, sich für die folgende Befragung zu wappnen. Als sie den letzten Bissen geschluckt hatte, stellte sie die Schüssel aufs Tablett, lehnte sich zurück und stellte fest: »Die Londoner Restaurants waren großartig. Vielen Dank, dass du das für uns arrangiert hast. Deine Kollegen waren sehr zuvorkommend und haben uns nach allen Regeln der Kunst verwöhnt.«

»Aber?« Isla war mit ihrer Suppe ebenfalls fertig und betrachtete Anna nun aufmerksam.

Anna zuckte mit den Schultern, unschlüssig, was genau sie sagen sollte. »Es ist wirklich ein Phänomen, wie sich die Gene in eurer Familie verteilt haben«, sprudelte der erstbeste Gedanke aus ihr hervor. Das hatte zwar rein gar nichts mit Islas Frage zu tun, erschien ihr selbst in diesem Moment aber außerordentlich bedeutsam. »Du und Lennox, ihr seht euch unglaublich ähnlich. Der Körperbau, die Gesichtszüge und dieser bohrende Blick, der wahnsinnig tief geht. Aber er hat die gleichen schwarzen Haare und grauen Augen wie Shona, und du hast rote Haare wie Alex und die Augenfarbe eures Dads.«

Isla schmunzelte amüsiert. »Da wir die Familienähnlichkeiten damit erschöpfend geklärt hätten, zurück zum Thema. Wie war London? Und wie läuft es mit meinem kleinen Bruder?«

»London war anstrengend«, gab Anna unumwunden zu, nachdem die Schonfrist nun offensichtlich abgelaufen war. »Ich weiß, dass ihr uns alle eine große Freude machen wolltet, aber mich hat es komplett überfordert, und ich glaube, dass Lennox im Grunde seines Herzens auch lieber andere Sachen gemacht hätte. Ohne mich. Mit seinen Musiker-Buddies.«

»O?« Isla wirkte aufrichtig überrascht. »Das wundert mich jetzt ein bisschen – oder auch nicht, denn eigentlich ist es total typisch für ihn. Aber er hat vor dem Trip Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ein tolles Wochenende für dich zu arrangieren. Versteh mich nicht falsch – ich habe es dir von Herzen gegönnt, aber ich war schon etwas erstaunt, dass ihm das so wichtig war. Und …« Sie schüttelte den Kopf und sah Anna leicht verlegen an. »Sorry, das kam jetzt blöder raus, als es gedacht war, und so habe ich es auch gar nicht gemeint. Ich fände es großartig, wenn aus euch beiden etwas werden könnte. Ich meine, so richtig. Du tust ihm wahnsinnig gut, ich bin mir nur nicht sicher, ob es umgekehrt genauso ist.« Sie schnappte sich die Whisky-Flasche und goss zwei großzügige Portionen ein. Offenbar erhoffte sie sich hochprozentige Unterstützung.

»Ich weiß es auch nicht.« Anna schluckte trocken. Es war ein seltsames Gefühl, ihre geheimen Sorgen offenzulegen. Sie nahm das Whisky-Glas entgegen und prostete Isla zu. Die rauchige Note an ihrem Gaumen passte perfekt zum behaglich prasselnden Kaminfeuer, die milde Schärfe wärmte ihren Bauch noch weiter, und die Honignoten im Abgang fingen das starke Aroma mit harmonischer Süße auf. »Lennox ist ein außergewöhnlicher Mann …«

»Um es vorsichtig zu formulieren«, sagte Isla mit einem schiefen Lächeln. »Ich liebe meinen Bruder sehr, aber mir ist auch klar, dass er ein unfassbar schwieriger und komplexer Mensch ist. Soweit ich weiß, hatte er auch noch nie eine wirklich ernsthafte, tiefer gehende Beziehung, und ich bin mir nicht sicher, ob er das mit der Zweisamkeit überhaupt draufhat.« Sie blickte versonnen und leicht besorgt ins Feuer.

»Ich erinnere mich an ein Gespräch vor ein paar Monaten«, entgegnete Anna milde. »Da ging’s um ein ähnliches Thema, aber mit anderen Protagonisten. Dir und Jon nämlich. Du warst bis dahin doch auch jemand, der sich nie auf eine feste Beziehung einlassen konnte oder wollte. Mit Jon war es dann plötzlich ganz leicht und natürlich.«

»Ja, das stimmt.« Isla lächelte verliebt. »Das war es, und das ist es auch immer noch. Aber … versteh mich nicht falsch, diese Art der Leichtigkeit kann ich bei dir und Lennox einfach nicht erkennen. Ich hoffe, ich irre mich.«

»Nein, tust du nicht.« Anna trank einen weiteren Schluck. »Ich kann es nicht erklären, aber wir haben eine sehr intensive Verbindung. Wenn ich ihn berühre, habe ich den Eindruck, dass ich in seine Seele schauen kann. Ich weiß, dass ihn das einerseits wahnsinnig ängstigt, ihm andererseits aber auch eine unglaubliche Sicherheit gibt.«

»Ist es für dich auch so?«, fragte Isla sachte nach.

»Nein«, gab sie tonlos zu. »Im Gegenteil. Er bringt mich vollkommen aus der Spur. Ich habe das Gefühl, von Tag zu Tag mehr meine innere Mitte zu verlieren – und gleichzeitig bin ich absolut süchtig nach seiner Nähe. Wenn wir miteinander schlafen, ist das …« Sie rang erfolglos um eine passende Beschreibung. »Ich habe etwas Vergleichbares noch nie erlebt. Dieses Maß an Intimität, Vertrauen und Ekstase ist …« Sie schloss kurz die Augen. »Unheimlich schön und unheimlich anstrengend.«

»So hört es sich an.« Isla streckte ihre Hand nach Annas aus und drückte sie. »Es soll ja auch unheimlich schön sein, aber idealerweise für beide.«

»Ist es für Lennox etwa nicht gut?«, rief Anna erschrocken. Konnte es sein, dass er sich bei seiner Schwester beklagt hatte? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

»O, ganz bestimmt ist es das«, versuchte Isla sie sofort zu beruhigen. »Nicht, dass er das mit mir diskutieren würde. Ich war heute Nachmittag bei ihm im Studio, um mal die Lage abzuchecken. Er ist vollkommen beseelt.«

»Lass mich raten – vor allem von seiner Musik.« Die Bitterkeit in ihrer Stimme tat Anna selbst weh.

»Ja. Hauptsächlich deshalb. Ich hab ihn aber auch nach dir gefragt, und weißt du, was er gesagt hat?«

Anna schüttelte den Kopf und war sich nicht sicher, ob sie es hören wollte.

»Er hat gesagt, dass er dir alles verdankt. Dass du ihm das Leben gerettet hast und ihm eine Lebendigkeit geschenkt hast, die ihn kreativer macht als je zuvor.«

»Hm.« Mehr brachte sie nicht hervor.

»Er sprüht vor Energie«, fuhr Isla fort, halb bewundernd, halb wehmütig. »Und er ist fokussiert, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Versteh mich nicht falsch, ich finde das wundervoll. Aber ich habe das Gefühl, dass es deine Energie ist, die das alles in ihm zum Klingen bringt. Dass er dich aussaugt wie ein Vampir und dir nichts zurückgibt. Kann das sein?«

Anna spürte, wie sich eine Träne ihren Weg über ihre Wange bahnte. Der Vampirvergleich tat weh – vor allem, weil er so akkurat war.

»Ich hab’s befürchtet.« Isla streichelte mit ihrem Daumen Annas Handrücken. »Sosehr ich mich freue, dass mein Bruder aufblüht, so schrecklich finde ich es, dass meine beste Freundin darunter leidet. Anna, du musst dich besser schützen.«

»Ich werde es versuchen.« Anna stellte ihr Glas ab und wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht. »Aber ihr müsst unbedingt mit eurem Vater sprechen!«

»Puh, was für ein krasser Themenwechsel.«

»Nein, ganz im Gegenteil. Ich glaube, das ist der Kern meines Problems mit Lennox.«

»Mag sein«, entgegnete Isla nachdenklich. »Allerdings dürfte es schwierig werden. Dad ist heute Nachmittag abgereist.«

»Was?«, rief Anna überrascht. »Wohin denn, und wann kommt er wieder?«

Isla zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Mir hat’s Alex geschrieben. Offenbar ist Dad mit einer großen Reisetasche aus dem Haus gegangen und wortlos mit seinem Auto losgefahren.«

»Und Alex hat ihn nicht gefragt, oder was?«

»Offensichtlich nicht …«

»O Mann, ihr seid alle so dermaßen stur und bockig, dass man dafür eine eigene Kategorie einführen müsste.« Anna konnte ein genervtes Schnauben nicht unterdrücken. »Colleen hätte ihn sicher gefragt, aber die war heute Nachmittag erst bei mir in der Sprechstunde und wollte dann zu Betty. Bist du sicher, dass Marlin niemandem Bescheid gegeben hat?«

»Sicher bin ich nicht, aber mit wem hätte er denn reden sollen?« Isla schien weder sonderlich besorgt noch irritiert zu sein. »Er taucht schon wieder auf, und womöglich kommt er dann ja mal auf die Idee, auf uns zuzugehen und ein paar Erklärungen abzugeben.«

»Ich hab schon versucht, es Lennox klarzumachen, aber vielleicht verstehst du es ja besser: Euer Vater hat vor vielen Jahren eine ziemlich krasse und sicher nicht besonders gute Entscheidung getroffen. Aber dieses elaborierte Lügengeflecht dürfte vor allem sein eigenes Leben beeinträchtigt haben. Er hat damals einen Teil seiner Identität verloren, das ist schon eine harte Nummer. Ihr seid jetzt vor allem wütend und enttäuscht von ihm – zu Recht, wie ich betonen möchte –, weil er euch diesen Teil seiner Identität vorenthalten hat. Aber letztlich ändert sich das Leben von euch vieren überhaupt nicht, während für Marlin mit einem Schlag alles anders ist. Es wäre vermutlich schon für einen superflexiblen Menschen keine leichte Übung, damit souverän umzugehen, für einen schwierigen Mann wie Marlin Fraser dürfte es eine kaum zu bewältigende Herausforderung sein. Er ist komplett isoliert, hat praktisch mit einem Schlag sein gesamtes Netzwerk verloren, und er leidet sehr darunter.«

Anna merkte, dass ihre eindringliche Beschwörung an Isla genauso abprallte wie an ihrem Bruder und dass sich ihre Freundin aufzuplustern begann.

»Bemüh dich nicht«, fuhr sie fort. »Ich weiß, was du sagen willst: Er ist selbst schuld! Absolut richtig. Aber ich finde, dass jetzt nicht die Zeit für Rechthaberei ist, sondern für Mitgefühl und menschliche Größe, denn eins ist sicher: Je länger dieser Konflikt ungelöst vor sich hin schwelt, desto schlimmer wird das Feuer irgendwann werden! Und es wird nicht nur Marlin verletzen, sondern jeden von euch.«

»Aber das ist doch schon passiert!«, empörte sich Isla. »Er hat uns betrogen und uns Dinge vorgespielt, die so einfach nicht stimmen. Also ich für meinen Teil fühle mich schon jetzt verdammt verarscht und verletzt.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte mit einem Mal außerordentlich angriffslustig.

»Und das verstehe ich. Wirklich.« Diesmal war es Anna, die die Hand nach ihrer Freundin ausstreckte – um sie zu beruhigen und wieder eine Verbindung zu ihr herzustellen. Es hatte wohl wenig Sinn, weiter in diese Kerbe zu schlagen – schon deshalb, weil Marlin das Weite gesucht hatte. »Ich bin absolut auf eurer Seite. Ich habe einfach schon so viele dysfunktionale und kaputte Familien erlebt …« Sie schüttelte den Kopf. Vermutlich war es vor allem ihrer eigenen Harmoniesucht geschuldet, dass sie den Friedensengel geben wollte. Und der ziemlich egoistischen Annahme, dass ein gelöster Vater-Sohn-Konflikt ihr den Sohn wieder näherbringen würde.

»Wir kriegen das schon hin«, murmelte Isla und klang längst nicht mehr so kämpferisch wie eben. »Alex, Lennox, Shona und ich haben uns jedenfalls geschworen, dass wir nicht zulassen werden, dass uns diese Sache auseinandertreibt. Ich glaube …« Sie zögerte. »Ich glaube, dass es für Rupert, Heather, Alice, George, Jack und Betty viel schwieriger ist. Die waren ja Mitwisser und mussten jahrzehntelang dichthalten.«

Anna lächelte leicht. Anscheinend war ein Teil ihrer Aussage doch bei Isla angekommen. »Das meinte ich damit, dass sich für euch vier nicht viel ändert. Aber Betty war keine aktive Mitwisserin. Zumindest gehörte sie nicht zum Kreis der Vertrauten eures Vaters, sondern hat das alles ganz allein herausgefunden. Wer weiß, ob es von dieser Sorte nicht noch mehr gibt?«

Isla nickte nachdenklich. »Hältst du es für möglich, so viele Jahrzehnte in einen Menschen verliebt zu sein, ohne die Chance, dass diese Liebe erwidert wird? Und dass man aus lauter Liebe trotzdem ein derart großes Geheimnis bewahrt?«

»Ich habe keine Ahnung, aber Betty ist ja der lebende Beweis dafür, dass das klappt. Ich wäre mir allerdings nicht so sicher, dass sie bei Marlin keine Chance hat.«

»Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Jon behauptet seit Monaten, dass zwischen den beiden was läuft. Das ist doch völlig abwegig.«

»Warum? Ich könnte mir das sehr gut vorstellen.«

»Nie im Leben!« Isla blieb starrköpfig. »So viel Fantasie habe ich nicht.«

Anna lachte. »Das würde ich jetzt lieber nicht so laut sagen, denn du bist doch berühmt für deine fantasievollen Küchenkreationen. Und man braucht definitiv nicht viel Einbildungskraft, um sich eine zarte Verbindung zwischen eurem Vater und Betty vorzustellen. Vielleicht reichen dafür schlicht etwas Abstand und ein Blick von außen. Ich würde mich jedenfalls für die beiden freuen. Das täte ihnen gut.«

»Ich weiß nicht …« Isla war nicht zu überzeugen. »Aber deswegen sind wir auch nicht hier. Wir wollten doch dein Lennox-Dilemma lösen.«

»Vermutlich gibt’s dafür keine einfache Lösung. Ich schätze mal, dass ich entweder auf ein Wunder oder den Lauf der Zeit hoffen muss. Oder darauf, ihn mir aus dem Kopf schlagen zu können, ehe mein Herz ernsthaft Schaden nimmt. Wahrscheinlich wollen wir beide ziemlich unterschiedliche Dinge.«

»O Mann, Anna, das tut mir so leid. Ich würde dir so gern etwas anderes sagen, aber offen gestanden glaube ich auch, dass Lennox nicht der richtige Mann für dich ist. Du hast einen besseren verdient.« Sie nahm die Whisky-Flasche und schenkte ihnen beiden nach.

Es war einfacher, Whisky zu trinken, als über Lennox zu reden. Nicht gesünder, nicht zielführender, aber definitiv einfacher. Also nickte Anna nur und trank das Glas mit einem großen Schluck leer. Isla hob eine Braue, sparte sich aber glücklicherweise jeden Kommentar zu dieser Blasphemie.

»Ich geh jetzt heim«, verkündete Anna und stand auf. »Danke für die Suppe … und alles.« Sie umarmte ihre Freundin, die ebenfalls aufgestanden war, und machte sich rasch auf den Heimweg. Zurück zu ihrer Wohnung, die ihr ohne Lennox trist und einsam erschien. Sie seufzte und wischte sich die Tränen weg, die schon wieder über ihre Wangen flossen. Mit Einsamkeit kannte sie sich schließlich aus.

Energisch legte sie die paar Meter vom Pub zu ihrem Haus zurück und hoffte, dass vielleicht wenigstens ihr Kater auf sie wartete. Doch auf der Türschwelle saß nicht etwa der graue Tiger, sondern Lennox.

• • •

Endlich tauchte Anna auf! Er war bereits kurz davor gewesen, wieder zu gehen. Er sprang auf und zog sie, als er im Schein der Straßenlampe eine verräterische Tränenspur entdeckte, umstandslos in seine Arme. Sie wehrte sich nicht, sondern ließ es zu, dass er ihr über den Rücken strich und ihr die Tränen von den Wangen küsste.

»Ich dachte, deine Yoga-Stunde geht nur bis neun«, sagte er schließlich und ärgerte sich darüber, dass er etwas anklagend klang.

Sie machte sich von ihm los und zog ihren Schlüssel aus der Jackentasche. »Tut sie auch«, antwortete sie, als sie ihn in den dunklen Hausflur eintreten ließ, das Licht anknipste und die Tür hinter ihnen zumachte. »Ich war mit deiner Schwester noch im Pub.« Sie stieg die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf.

»Im Pub?«, fragte er dämlich.

»Im Pub. Das machen Menschen. Daran ist nichts absonderlich«, entgegnete sie, als sie oben angekommen waren, und er konnte nicht feststellen, ob sie eher amüsiert oder irritiert war.

Er hoffte auf »amüsiert«, denn auch wenn es ihn selbst erstaunte, dass sie nicht längst zu Hause gewesen war, wusste er, dass das keine besonders sozialverträgliche Einstellung war. Welches Recht hatte er schon, bei ihrer Freizeitgestaltung mitzureden? Vor allem, nachdem er sich seit Sonntagabend nicht mehr bei ihr gemeldet hatte.

»Sorry, das war doof von mir«, gab er daher zerknirscht zu. »Und nicht nur das. Auch das andere.«

»Das andere?« Sie hängte ihre Jacke an die Garderobe und räumte Schal und Mütze ordentlich weg. Dann zog sie die Stiefel aus und ging vom Flur in den großen, offenen Wohnraum – leider nicht in ihr Schlafzimmer, wohin er ihr lieber gefolgt wäre.

»Na ja, dass ich mich seit London nicht mehr bei dir gemeldet habe, und auch London selbst.«

»Warum hast du dich denn nicht mehr gemeldet?« Sie sah ihn mit ihren großen, sanften blauen Engelsaugen durchdringend an, so als könnte sie die Antwort aus ihm herauslesen.

Das wäre ihm auch nicht ganz unrecht gewesen, denn es auszusprechen war viel schwieriger. Aber er war kein Feigling, er würde das jetzt durchziehen. »Zum einen war ich begeistert von meinem Studio. Ich habe bis zum frühen Montagmorgen alles aufgebaut und schon einige Sachen ausprobiert und dann ab mittags weitergemacht. Es war wirklich eine sehr gute Entscheidung, mir in Seans Remise ein Studio einzurichten.« Er räusperte sich. Einerseits, um das Lächeln zu unterdrücken, das sich fast automatisch auf seine Lippen stahl, wenn er an seine Musik dachte, andererseits, weil das nur die halbe Wahrheit war. Oder noch weniger. »Der andere Grund war das, was du im Auto zu mir gesagt hast.«

»Was ich im Auto gesagt habe? Dass ich der Meinung bin, du müsstest mit deinem Vater sprechen?«

»Ja. Genau das.«

»Ich habe zwar inzwischen gelernt, dass dieses Ansinnen bei allen Fraser-Kindern auf massive Ablehnung stößt – auch wenn ich das überhaupt nicht nachvollziehen kann –, aber das ist doch kein Grund für Funkstille. Ich habe ungefähr tausend Mal betont, dass ich auf deiner Seite stehe. Wie ein Fels in der Brandung auf deiner Seite stehe.« Sie schüttelte den Kopf und ging dann in die Küche. »Möchtest du auch einen Tee?«

Eigentlich nicht. Eigentlich wollte er sie küssen, mit ihr schlafen und ihr seine neuen Songs vorspielen. Idealerweise in dieser Reihenfolge. Ein schwieriges Gespräch wollte er ganz sicher nicht führen, doch das behielt er wohlweislich für sich. »Gern.«

Sie füllte Wasser in den Kocher und kramte im Schrank nach einer passenden Kräutermischung. »Was genau hat dich so gekränkt oder verstört, dass du nicht mit mir reden wolltest?«, fragte sie dabei, und er war froh, dass sie ihn nicht anschaute.

»Hauptsächlich, dass du gesagt hast, er wäre schlechter dran als wir«, gab er schließlich zu. »Dabei weißt du doch, wie sehr ich unter der ganzen Situation gelitten habe.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Du hast nicht darunter gelitten, dass dein Vater jahrzehntelang mit einem Lügenkonstrukt gelebt hat. Du hast darunter gelitten, dass du dich von ihm unverstanden gefühlt hast, dass er dich nicht so gefördert hat wie deine anderen Geschwister – und vor allem darunter, dass du dich davon hast blockieren lassen. Das hat dir am meisten zu schaffen gemacht. Und ja, ich verstehe völlig, dass du dir gerade jetzt unendlich verarscht vorkommen musst. Doch seltsamerweise scheint es dich ja kaum zu tangieren. Weit weniger jedenfalls als deine Geschwister. Warum ist das so? Ich habe eine Theorie. Willst du sie hören?«

Er fühlte sich unbehaglich und war sich nicht sicher, ob er ihre Überlegungen tatsächlich hören wollte. Trotzdem nickte er.

»Du hast dich endlich von deinem Vater oder deinen Dämonen emanzipiert und eigenständige, gute Entscheidungen getroffen. Das gibt dir ein tolles Gefühl! Der Entschluss, in Kirkby zu bleiben und hier eine Existenz als Musiker zu starten, stand ja fest, ehe die Bombe geplatzt ist. Ja, es hat dir gehörig den Boden unter den Füßen weggezogen, als du vom Vorleben deines Vaters erfahren hast, und ich kann mir nur ungefähr ausmalen, wie verhöhnt du dich deswegen gefühlt haben musst. Doch der Schock ist ja ziemlich schnell abgeklungen. Dein Plan bleibt weiter unerschütterlich bestehen, was ich großartig finde. Aber das ist es, was ich dir und Isla klarmachen will. Ihr seid tief gekränkt, verletzt, wütend – was weiß ich? –, aber an eurem Leben ändert sich nicht viel. Marlin dagegen steht an einem Abgrund. Den er selbst geschaffen hat, keine Frage, aber es bleibt ein bedrohlicher Abgrund. Da könnte man ihn jetzt reinschubsen und schulterzuckend weitergehen oder aber Mitgefühl zeigen und ihm die Hand reichen.« Sie seufzte tief und goss das inzwischen kochende Wasser über die aromatischen Kräuter. »Nach Lage der Dinge muss ich wohl schon froh sein, dass sich niemand von seinen Kindern, Geschwistern und Freunden für die Reinschubsvariante entschieden hat, sondern ihr das Elend allesamt ignoriert.«

»Er hat kein Mitgefühl verdient«, presste Lennox hervor. Eine unangenehme Mischung aus Wut und Scham brodelte in ihm.

»Doch, das hat er. Er hat sich das alles selbst eingebrockt, aber er war mit Sicherheit auch derjenige, dem diese Entscheidung über all die Jahre am meisten zu schaffen gemacht hat. Er hat niemandem sonst damit geschadet. Mehr Recht, wütend zu sein, hätten seine Geschwister und Pfarrer Jack, denn er hat sie zu Mitwissern gemacht – wobei auch zu solchen Vereinbarungen immer zwei Parteien gehören. Sie hätten nicht mitspielen müssen. Ich weiß nicht, warum Marlin das getan hat, und ja, er hat unmöglich reagiert, als die Sache rausgekommen ist. Er war auch unmöglich, als er mich in meiner Praxis aufgesucht hat. Aber er ist völlig allein und verdient Mitgefühl«, beharrte sie.

»Du willst das einfach nicht verstehen«, knurrte er. Die Wut hatte nun eindeutig die Oberhand gewonnen. »Er hat unser aller Leben ruiniert und schämt sich nicht einmal dafür.«

»Himmel, Lennox, hörst du dir eigentlich selbst zu?« Annas Stimme war laut geworden und hatte einen stählernen Unterton, den er noch nie bei ihr gehört hatte. »Du und deine Geschwister habt nicht im Ansatz eine Ahnung davon, was es bedeutet, das Leben ruiniert zu bekommen! Ihr hattet alles!«

»Alles? Du spinnst ja wohl. Wir hatten beispielsweise keine Mutter!« Nun wurde auch er laut. Was bildete sie sich eigentlich ein?

»Ihr hattet keine Mutter, seid aber in einem intakten, liebevollen Zuhause aufgewachsen. Ihr hattet immer genug zu essen, immer ein sicheres Dach über dem Kopf, erwachsene Bezugspersonen, denen es wichtig war, dass es euch gut ging. Ihr hattet nie Geldsorgen oder einen Grund für echte Zukunftsängste. Selbst du nicht! Auch wenn dir dein Vater den Geldhahn zugedreht hat – und ob das wirklich ein Fluch oder ein Segen war, da kann man durchaus unterschiedlicher Ansicht sein –, hätte niemand in deiner Familie zugelassen, dass du ernsthaft unter die Räder kommst. Also erzähl mir nicht, dass euer Leben ruiniert ist!«

Sie kämpfte ganz offensichtlich um Fassung, doch sie war noch nicht fertig mit ihrer Tirade: »Das einzige Leben, das in diesem Kontext ernsthaft ruiniert ist, ist Marlins. Zumindest soweit ich das beurteilen kann. Und ja, er hat es selbst verschuldet. Wenn ihn jetzt sein Clan, für den er das alles gemacht hat, fallen lässt, wird das langfristig bestimmt für alle Beteiligten schmerzhafte Konsequenzen haben. Aber weißt du, was ich am allerschlimmsten finde?«

»Nein«, krächzte er tonlos.

»Am schlimmsten finde ich deine Selbstgerechtigkeit und deine Unfähigkeit zu akzeptieren, dass ich Dinge differenzierter sehe als du. Ich sehe sie ja nicht mal grundlegend anders. Wie schon x-mal betont, stehe ich auf deiner Seite, auf der Seite deiner Geschwister. Zu hundert Prozent. Aber ich verschließe mich auch nicht vor anderen Aspekten, was nebenbei bemerkt nicht nur mein gutes Recht, sondern als Ärztin auch Teil meines Berufsethos ist. Dass du mich wegen missliebiger Worte einfach so ins Abseits schiebst, tut weh. Und es bedeutet wohl, dass wir nicht dasselbe wollen.«

Lennox war sich nicht sicher, ob er den letzten Satz richtig verstanden hatte, denn ihre Stimme war ganz leise geworden. Fast zu leise für seinen plötzlich wieder wild und laut rauschenden Gedankensturm. Was war schon »dasselbe«? Sie kannten sich doch kaum … Nein, jetzt stammelte er schon in Gedanken. Sie kannten sich zwar noch nicht lange, aber dafür sehr intensiv. Nur was das zwischen ihnen werden sollte, darüber hatte er sich bislang nicht wirklich Gedanken gemacht. Er genoss es, mit ihr zusammen zu sein. Alle Aspekte davon. Den Sex genauso wie die tiefsinnigen Gespräche, die sie schon geführt hatten. Na ja, nicht alle Gespräche offensichtlich. O Mann. Das hier führte zu nichts. Und überhaupt, was erzählte sie ihm ständig von Abgründen und seiner angeblich so behüteten Kindheit? Er wusste, dass ihre Jugend nicht rosig gewesen war, kannte aber ehrlich gesagt überhaupt keine Details, nur dass sie mit vierzehn in eine betreute WG mit Linda und ein paar anderen Kids gezogen war. Aber er selbst war ja auch mit sechzehn zu Hause ausgezogen.

»Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen«, sprach sie schließlich in seine Gedanken hinein. Womöglich hatte sie auf eine andere Reaktion als beredtes Schweigen gehofft?

»Okay«, krächzte er. Halbherzig und leicht geschockt von ihr und sich selbst lehnte er sich vor, um ihr einen Kuss zu geben, doch sie drehte ihr Gesicht zur Seite, sodass er nur ihre Wange streifte. Dann verließ er rasch die Küche, schnappte sich im Flur seine Jacke und stolperte die Treppe hinunter.