LENNOX HATTE ANGST GEHABT, dass seine Kreativität mit der Trennung von Anna gleich wieder versiegen würde. Doch das war nicht der Fall, beinahe schon das Gegenteil. Er komponierte wie besessen: pathetische Balladen voller Melancholie und Selbsthass, wütende Rocksongs, ironische Popstückchen – querbeet durch die Genres. Es war nicht alles brillant, aber schlecht war es auch nicht. Sein Studio musste auf einer günstigen Wasserader liegen oder sonst wie kreative Vibes ausstrahlen, denn die Ideen sprudelten nur so.
Er dachte weder an seinen Vater noch an Anna. Jedenfalls nicht sehr. Was brachte es auch? Marlin war abgehauen, keiner wusste, wohin und wann er wieder zurückkommen würde. Und Anna? Sie hatte ihm doch vor ein paar Tagen klargemacht, dass sie nicht zusammenpassten. Dass sie unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, wie das mit ihnen weitergehen könnte. Als Beziehung konnte man das, was sie gehabt hatten, ja wohl kaum bezeichnen. Dafür war es viel zu frisch gewesen. Er vermisste sie. Sehr. Immer, wenn ihm etwas einfiel, war sein erster Impuls, ihr davon zu berichten. Ihr den Song vorzuspielen. Er vermisste es, mit ihr in der Bäckerei zu frühstücken und sie nachts nackt im Arm zu halten. Er vermisste ihre Klarheit, ihre Warmherzigkeit und ihre Fähigkeit, ihn völlig zu verstehen.
Nein! Genau das war der Punkt, an dem es nicht funktionierte. Sie verstand ihn nämlich gar nicht. Sonst hätte sie niemals diese Dinge zu ihm gesagt. Mitgefühl für seinen Vater? Nie im Leben.
Und das Vermissen würde sich ganz bestimmt bald legen. Er hatte die längste Zeit seines Lebens ohne sie verbracht und würde es auch weiterhin schaffen. Entschlossen stopfte er seine Schmutzwäsche in eine Sporttasche. Er war die ganze Woche über in seinem Studio gewesen, aber jetzt musste er dringend mal Wäsche waschen. Außerdem war das Wetter toll und lockte ihn nach draußen. Als er die Tür hinter sich zuschloss, blieb er einen Moment stehen und blinzelte in die ungewöhnlich helle Sonne. Sie strahlte ihn an, als wäre sie nur für ihn über den Horizont gekrochen. Lennox lachte bei diesem Gedanken laut auf. Er hatte in den letzten Tagen eindeutig zu viele schräge Metaphern zu Songtexten verarbeitet.
»Was ist so lustig?«, wollte Sean wissen, der in diesem Augenblick mit einem Thermobecher Kaffee in der Hand um die Ecke bog.
»Eigentlich nichts, nur meine wirren Gedanken. Ich glaube, ich habe in den letzten Tagen zu viel gearbeitet und brauche jetzt dringend mal wieder wahres Leben – und saubere Klamotten.« Er deutete mit einem vielsagenden Grinsen auf seine Sporttasche.
»Du kannst notfalls auch meine Waschmaschine benutzen«, bot Sean an.
»Das ist total nett, aber ich muss sowieso zu Isla in die Wohnung. Da habe ich noch andere Sachen von mir, und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich wirklich jede Nacht im Studio verbringen sollte. Dass ich mir einbilde, die Sonne wäre nur für mich aufgegangen, spricht ja wohl schon Bände, was?«
Sean zuckte nur mit den Schultern und brummte: »Kommt mir bekannt vor …«
Lennox sah ihn prüfend an. »Vielleicht würde es dir auch nicht schaden, etwas mehr unter Leuten zu sein? Komm mit, ich wollte erst eine Maschine Wäsche anwerfen, dann im Pub frühstücken und anschließend ausreiten. Den Tag muss man nutzen.«
»Ich hab andere Pläne, aber danke«, entgegnete Sean vage.
»Gehst du wandern?« Lennox entdeckte jetzt erst den Rucksack auf Seans Rücken.
»So ungefähr. Ich gehe in den Wald, um neue Materialien zu finden, die ich verarbeiten kann.«
»Verstehe …« Lennox hatte zwar keine Ahnung, was für Materialien ein Keramikkünstler im Wald finden könnte, aber er hatte auch den Eindruck, dass der wortkarge Sean sein Sprechbudget für heute schon fast aufgebraucht hatte und wohl nicht mit weiteren Erklärungen zu rechnen war.
»Hast du den Kater in letzter Zeit gesehen?«, platzte es überraschend aus Sean heraus.
»Elvis?« Lennox schüttelte den Kopf. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er das Tier seit London nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. »Ich dachte, er wäre jeden Tag bei dir.«
»Seit ein paar Tagen nicht mehr. Ihm wird doch nichts passiert sein?« Nun klang Sean regelrecht besorgt.
»Kann ich mir nicht vorstellen, das hätte ich mitgekriegt.«
»Anna war auch die ganze Woche nicht hier«, sprach Sean weiter, und Lennox ärgerte sich, dass er eben nicht doch nachgefragt hatte. Dieser Themenwechsel war nun gar nicht in seinem Sinn.
»Ja«, murmelte er einsilbig und erntete dafür einen prüfenden Blick.
»Schade.« Sean hob die Hand zum Gruß und wandte sich ab. »Ich muss dann mal los. Bis dann.«
Wie aufs Stichwort schob sich in diesem Moment eine dunkle Wolke vor die Sonne und überschattete nicht nur die Landschaft, sondern auch Lennox’ Stimmung. Wobei das wohl eher an Seans Kommentar lag. Er seufzte und machte sich auf den Weg in den Ort.
Auf dem Dorfplatz herrschte reges Treiben. Handwerker waren dabei, Weihnachtsdekoration anzubringen, und mittendrin stand Bürgermeister Collum McDonald und gab Anweisungen. Als er Lennox erspähte, lief er schnurstracks auf ihn zu. Sie hatten sich bislang zweimal flüchtig im Pub gesehen, aber noch nicht wirklich viele Worte gewechselt. Lennox kannte natürlich die Geschichten rund um den jungen Bürgermeister und wusste auch von dessen großen Plänen für Kirkby.
»Der Mann der Stunde«, rief Collum jovial, als er Lennox erreichte.
»Ähm …?«
»Wir stecken mitten in der Planung für unser Christmas-Cèilidh am Wochenende vor Weihnachten. Es wird auch eine Band spielen, aber wenn wir schon so einen prominenten Musiker in unseren Reihen haben, wäre ein kleines Dorfkonzert doch eine tolle Ergänzung. Darf ich dich fest einplanen? Mit fünf, sechs Songs?«
»Ähm …«, äußerte Lennox erneut ziemlich dämlich. Er hatte von den legendären Dorfpartys schon gehört, und er hatte sich ja auch überlegt, dass er durchaus einige Gigs spielen wollte, aber im Moment fühlte er sich etwas überrumpelt.
»Ich werte das mal als Zusage. Colleen meinte, dass du bestimmt mit an Bord bist. Ich freu mich sehr.« Collum schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ich muss los und dafür sorgen, dass das mit der Deko klappt. Ist das erste Mal, dass wir hier in Kirkby so einen großen Lichterzauber machen. Bestimmt zieht das eine Menge Touristen an.«
»Bestimmt«, murmelte Lennox und ging dann zum Pub, an dessen Fassade auch gerade Lichterketten angebracht wurden. Jon stand grinsend in der Tür.
»Frühstück?«, fragte er, als Lennox vor ihm stand.
»Frühstück. Kann es sein, dass ich gerade für meinen ersten Auftritt in Kirkby gebucht wurde?«
Jon lachte noch lauter. »Keine Ahnung, was Collum zu dir gesagt hat, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich.«
Im Gastraum war wenig los. Ende November kamen nicht viele Gäste nach Kirkby, und die Dorfbewohner tauchten in der Regel erst ab mittags auf. Nach einem typischen Pub-Frühstück war ihm auch gar nicht, sondern eher nach Scones oder Porridge. Eigentlich wäre er auch viel lieber in der Bäckerei gewesen, aber er wollte um jeden Preis vermeiden, dort Anna in die Arme zu laufen. Daher war er in den letzten Tagen immer erst im Laufe des Vormittags dort aufgeschlagen, wenn er sicher sein konnte, dass sie in ihrer Praxis war. Doch an Samstagen war sie gerne auch mal später dran.
»Was kann ich dir bringen?«, erkundigte sich Jon, als Lennox seine Tasche unter einen Tisch geschoben und selbst Platz genommen hatte. »Eier? Speck? Würstchen?«
Lennox verzog das Gesicht. »Lieber Scones oder einen simplen Porridge«, bat er. »Und eine Kanne Tee, bitte.«
»Ich hab vorhin ganz frische Scones von Kristie zum Testen bekommen. Ihre Weihnachtsedition mit unterschiedlichen Gewürzen. Magst du die probieren?«
»Gerne.« Lennox merkte, wie eine weitere Welle schlechten Gewissens durch ihn schwappte. Er hatte Kristie eigentlich versprochen, dass er ihr bei den Weihnachtssachen helfen würde, aber irgendwie war die Musik in den letzten Tagen wichtiger gewesen. Er würde nachher bei ihr vorbeischauen und ihr anbieten, am Nachmittag weihnachtliches Shortbread mit ihr zu backen.
»Hast du eigentlich was von eurem Vater gehört?«, erkundigte sich Jon ganz lässig nebenbei, als er ein paar Minuten später das Frühstück servierte.
»Nein.« Legte es die Welt heute darauf an, ihm die Stimmung zu versauen? »Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass er sich ausgerechnet bei mir meldet«, fügte er noch säuerlich hinzu.
»Dünnes Eis, ich versteh schon«, sagte Jon, ohne dass sein Lächeln an Kraft verlor. »In diesem Punkt seid ihr Frasers euch verdammt ähnlich. Isla ist genauso stur und bockig, und wenn man Kendrick und Colleen zuhört, dann gilt das auch für Shona und Alex. Wir erwägen ernsthaft, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Vielleicht sollten wir auch Anna dazu einladen.«
Lennox würde gleich der Kragen platzen. »Das dürfte unnötig sein«, presste er hervor. »Sie hat rechtzeitig die Reißleine gezogen. Außerdem waren wir nie zusammen.« Er starrte seinen zukünftigen Schwager finster an und ärgerte sich, dass er sich zu dieser Bemerkung hatte hinreißen lassen.
Jons Lächeln erstarb und machte einem bedauernden Ausdruck Platz. »Das tut mir echt leid«, sagte er. »Guten Appetit.« Damit verschwand er in der Küche – zweifellos, um Isla anzurufen oder so. Großartig. Wirklich großartig.
Lustlos biss Lennox in einen der duftenden Scones. Der Appetit war ihm ziemlich vergangen, aber das Zimtaroma kitzelte verführerisch seinen Gaumen. Er bestrich den nächsten Bissen mit Butter und kleckste einen Löffel von dem Pflaumenmus drauf, das Jon mit der Marmeladenauswahl serviert hatte. Wow, das war eine wirklich göttliche Kombination. Er würde nachher auf jeden Fall bei Kristie in der Backstube vorbeischauen. Er zog sein Handy aus der Hosentasche, machte ein Foto von seinem Frühstücksteller und schickte es an seine Cousine. Die Zimtscones sind der Knaller – vor allem in Kombi mit Pflaumenmus. Sollen wir heute Nachmittag zusammen backen? Hab ein paar Ideen für Shortbread.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Kristie freute sich und erwartete ihn um spätestens drei Uhr. Das passte ihm gut, denn so hatte er Zeit genug, sich um seine Wäsche zu kümmern und in den Stall zu gehen.
Er aß in Ruhe zu Ende, trank seinen Tee aus und legte einen passenden Geldschein auf den Tisch. »Bis später«, rief er in Richtung Küche, wo er Jon vermutete, und machte sich dann auf den Weg in Richtung von Islas Restaurant.
»Du hast dich echt von Anna getrennt?«, rief sie ihm entgegen, als er ihren Küchengarten betrat. Eigentlich hatte er vorgehabt, durch die Garage in die Wohnung zu huschen und nicht durch Islas Küche, aber ein großer Lieferwagen parkte so ungünstig, dass er da nicht reinkam.
»Anna hat sich von mir getrennt«, stellte er die Lage klar. So war es ja auch gewesen, oder? Sie hatte gesagt, dass sie offenbar unterschiedliche Vorstellungen hätten, und ihn dann weggeschickt.
»Wann soll das gewesen sein?«, bohrte seine Schwester nach.
»Am Dienstag. Nach der Yoga-Stunde und eurem gemeinsamen Pub-Besuch.« Lennox hatte nicht die geringste Lust, das alles jetzt mit seiner Schwester zu diskutieren – schon gar nicht vor ihrer Küchenmannschaft, die mit zweifellos gespitzten Ohren an den Vorbereitungen fürs Mittagsgeschäft werkelte.
Isla sah ihn nachdenklich an. »Mist«, murmelte sie. »Das tut mir echt leid.«
»Muss es nicht«, brummte er. »Es hat sowieso nicht gepasst. Glaube ich.« Glaubte er nicht, redete er sich aber seit Tagen relativ erfolgreich ein. Denn die Alternative wäre deutlich niederschmetternder. Dann müsste er nämlich zugeben, dass er seit ihrer ersten Begegnung gewusst hatte, dass Anna die einzige Frau war, mit der er zusammen sein wollte. Eigentlich hatte er es schon gewusst, als er zum ersten Mal ihre Stimme im Podcast gehört hatte. Und warum um alles in der Welt kam ihm das jetzt alles in den Sinn? Ausgerechnet jetzt?
»Trotzdem ist es schade. Ich finde Anna toll – und sosehr ich dich liebe, du bist einfach nicht gut genug für sie.«
Was bitte schön sollte das jetzt heißen? Wieso war er nicht gut genug für Anna? »Was?«
»Du kannst ihr nicht das geben, was sie braucht.«
Das wurde ja immer besser, aber jetzt wollte er es genau wissen. »Wie meinst du das?«
»Anna ist der großherzigste und großzügigste Mensch, den ich kenne. Alles, was sie tut, macht sie voller Hingabe.«
»Ich würde mal behaupten, dass du das in der Küche auch so machst. Und ich mit meiner Musik ebenfalls.«
»Ja, mag sein. Aber bei Anna hat es eine andere Qualität. Ich koche aus Leidenschaft, du bist Musiker aus Leidenschaft – und wir beide wünschen uns, dass das Ergebnis unserer Bemühungen auch von anderen Menschen wertgeschätzt wird. Anna dagegen gibt einfach, ohne eine Gegenleistung einzufordern. Sie will, dass es ihrem Gegenüber gut geht. So eine Ärztin ist für jeden Patienten ein Traum. Sie gibt aber auch ihren Freunden großzügig von ihrer Energie und ihrem Optimismus ab. Sieh dich an. Seit du hier bist und Anna kennst, bist du derart aufgeblüht, und ich glaube, das ist dir gar nicht bewusst.«
»Doch, aber ich glaube eher, dass es an der Umgebung liegt. Die Quelle im Wald, mein neues Studio …«
Isla lachte laut auf. »Du bist wirklich witzig. Natürlich liegt es auch an der Umgebung, aber die war all die Jahre auch da. Da hat sie dich nur nicht interessiert. Aber Anna hat dir die Augen geöffnet. Du bist doch überhaupt nur wegen ihr hierhergekommen, oder habe ich das falsch verstanden?«
»Hm.« Er hatte wohl mal erwähnt, dass ihn Annas Podcast nach Kirkby gelockt hatte.
»Anna hat dir ihre Energie geschenkt, hat deine Kreativität entfesselt, deine Wurzeln wieder wachsen lassen und dir eine neue Perspektive gegeben. Und wie hast du es ihr gedankt?« Sie formulierte es gerade so, als wäre es eine Tatsache.
Lennox fühlte sich auf unangenehme Art ertappt. Auch wenn er nicht alles, was Isla eben gesagt hatte, in dieser Form unterschreiben würde, so steckte doch ein großes Stück Wahrheit in ihren Worten. Anna hatte ihm tatsächlich sehr viel gegeben. Und er ihr?
»Komm mir jetzt bloß nicht mit gutem Sex und dem Wochenende in London, das ja wohl der totale Rohrkrepierer war«, sprach Isla seine Gedanken aus. »Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber während du immer mehr aufblühst, wirkt Anna immer matter und erschöpfter. Du bist ein echt krasser Energievampir.«
»Ich bin ein was?«
»Ein Energievampir. Du saugst ihre Lebensenergie auf und gibst ihr nichts zurück. Deshalb ist es auch besser, dass ihr nicht mehr zusammen seid.«
Lennox schüttelte den Kopf. Heute hatten sich wirklich alle gegen ihn verschworen, aber diese Unterstellung setzte dem Ganzen die Krone auf. »Hast du ihr diesen Floh etwa ins Ohr gesetzt?« War Isla daran schuld, dass Anna einen Schlussstrich gezogen hatte?
»Mit ähnlichen Worten. Du bist mein Lieblingsbruder, sie meine beste Freundin – ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als dass ihr beide zusammen glücklich wärt. Doch daran glaube ich nicht.«
»Bei aller Liebe, Isla, du bist hier nicht diejenige, die so etwas zu entscheiden hat. Du weißt schließlich nicht alles!« Ärger flackerte in ihm auf. »Du hast keine Ahnung, was ich für Anna empfinde.«
»Stimmt, das weiß ich nicht. Aber nach großer Liebe sieht es für mich nicht aus. Wer liebt, gibt nämlich Energie zurück und nimmt sie nicht nur. Idealerweise ist es ein ausgeglichener Kreislauf aus Geben und Nehmen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn provozierend an.
»Ich glaube, ich will gar nicht so genau wissen, was du Jon gibst, dass er es mit dir aushält«, knurrte Lennox, um davon abzulenken, wie sehr ihn die Worte seiner Schwester getroffen hatten. »Was immer es ist, richtig gut scheint es nicht zu wirken, denn er hat mir erst vorhin erzählt, dass er mit Colleen und Kendrick eine Selbsthilfegruppe der frustrierten Fraser-Partner gründen will. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss Wäsche waschen.« Damit rumpelte er an ihr vorbei, stiefelte grußlos durch die Küche und stapfte wütend die Treppe zur Wohnung hoch.
Energievampir? Was für eine unverschämte Bezeichnung. Aber eine kleine Stimme in ihm fand, dass ein Körnchen Wahrheit darin enthalten sein könnte. Anna war in der Tat großzügig und hatte ihn in vielerlei Hinsicht beflügelt. Er hatte aber nie den Eindruck gehabt, dass er egoistisch ihre positive Energie aufgesaugt und ihr nichts zurückgegeben hatte. Allerdings hatte er bis eben auch nicht darüber nachgedacht. Wieder kehrten seine Gedanken zu ihrem Streit am Dienstagabend zurück, bei dem sie seiner Wahrnehmung nach vor allem für seinen Vater Partei ergriffen und ihn selbst als verwöhnten Weichling bezeichnet hatte. Zumindest hatte er nichts anderes hören wollen. Vielleicht hätte er ihre Argumente zum Anlass nehmen sollen, sie nach ihrer Kindheit zu fragen. Nach ihren Erfahrungen. So wie sie sich gab, wirkte es, als stamme sie aus einer soliden, normalen Mittelschichtfamilie. Er wusste, dass sie keine leiblichen Geschwister hatte und früh in einer betreuten Jugend-WG gelebt hatte, dass ihr aber Linda und noch zwei weitere Freunde nahe standen wie Familienmitglieder.
Es war eigentlich immer nur um ihn gegangen. Um seine Vergangenheit, seine Probleme, seine Träume. Kein anderer Mensch hatte sich so sehr für ihn interessiert wie Anna. Niemand war so mitfühlend und gleichzeitig so scharfsichtig gewesen. Sie hatte ihm den Trost gespendet, nach dem er sich immer gesehnt hatte. Sie hatte ihm Zuversicht eingehaucht, wo bislang vor allem Mutlosigkeit gewesen war. Und er hatte sie kein einziges Mal danach gefragt, was sie vom Leben erwartete. Wo ihre Träume lagen und was sie noch erreichen wollte. Er war einfach davon ausgegangen, dass sie bereits am Ziel war. Eine eigene Praxis klang doch schon ziemlich nach einer Endstation – im besten Wortsinn zwar, aber was sollte dann noch kommen? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr schämte er sich. Er hatte ihr auf der Rückfahrt von London versprochen, dass er »es« wiedergutmachen wollte. Dabei hatte er aber nur ein entspannteres Wochenende voller Zweisamkeit im Sinn gehabt, wo es jetzt doch so offensichtlich war, dass er noch nicht einmal die grundlegende Basis draufhatte: ihre wahren Bedürfnisse zu kennen.
Aber was, wenn Isla tatsächlich recht hatte? Wenn sein Egoismus und sein scheinbares Desinteresse daher rührten, dass er kein wirkliches Interesse an Anna hatte? Dass er sie vielleicht als Freundin ansah, aber nicht liebte? Seine Gedanken begannen wieder, wie rasend zu kreisen, und Anna war nicht da, um ihn zu beruhigen und zu fokussieren.
Er stöhnte frustriert und gequält auf. Dann stopfte er seine schmutzigen Klamotten in die Waschmaschine, schlüpfte in die alte Reithose seines Vaters und lief zum Stall. Bewegung an der frischen Luft und Kontakt zu freundlichen großen Tieren mussten als Therapie reichen. Später würde er mit Kristie backen und sich dann wieder zu seiner Musik flüchten. Das würde helfen. Irgendwie.
• • •
Yoga und Meditation hatten ihr schon einmal das Leben gerettet – und würden es jetzt wieder tun. Am Montagabend saß Anna im Lotussitz auf ihrer Yoga-Matte und versuchte, ihren Kopf frei zu bekommen und sich zu zentrieren. Eigentlich ging sie montags gern zur Chorprobe in die Kirche, aber heute brauchte sie Abstand. Abstand von all den exzentrischen, aufdringlichen, neugierigen, herzlichen, anstrengenden Dorfbewohnern.
Fast den ganzen Samstag hatte sie bei Shona und den Alpakas verbracht, weil sie mit den Tieren üben wollten, brav am Halfter zu laufen. Ab dem nächsten Frühjahr wollten sie ja Alpakawanderungen und Alpakatherapie anbieten – was zumindest in Shonas Augen mehr oder weniger dasselbe war, schließlich fand sie Spaziergänge mit den flauschigen kleinen Kamelen immer irre entspannend. Anna wollte das doch noch recht vage Konzept gern etwas verfeinern und hatte sich vorgenommen, die langen dunklen Wintermonate dafür zu nutzen, sich schlauzumachen. Doch nun wollte Shona ihre Herde nicht nur beim Krippenspiel einsetzen, sondern am Tag des Christmas-Cèilidhs kleine Schnupperwanderungen anbieten. Offenbar hatte Bürgermeister Collum große Pläne für diesen Tag. Glücklicherweise waren die Alpakas recht kooperativ und gutmütig, sodass es wohl irgendwie funktionieren würde. Gestern Nachmittag war Anna dann bei drei Familien zum Adventskaffee eingeladen gewesen, und weil sie es nicht übers Herz gebracht hatte, jemandem abzusagen, hatte sie alle drei besucht.
Wie jeden Montag war die Sprechstunde auch heute wieder besonders stark frequentiert gewesen. Am Morgen vorwiegend von lernunlustigen Jugendlichen und arbeitsunlustigen Büromenschen, die um eine Krankschreibung baten. Später waren dann die schwereren Fälle gekommen, und am Nachmittag war sie erneut bei zwei alten Patienten zu Hause gewesen, bei denen sie sich nicht sicher war, ob sie das diesjährige Weihnachtsfest noch erleben würden.
Das war alles Teil ihres Jobs, den sie so sehr liebte, aber sie stellte fest, dass die räumliche und persönliche Nähe es schwieriger machte, die nötige Distanz herzustellen. Sie ärgerte sich, dass die siebzehnjährige Siobhan heute das große Leiden gab und angeblich einen Anflug von Grippe vermutete, nachdem sie gestern beim Weihnachtspunsch im Wohnzimmer ihrer Eltern noch getönt hatte, dass ihr vor der Lateinklausur graute. Hielt das Mädel sie für so dämlich, dass sie den Zusammenhang nicht sah? Trotzdem hatte sie ihr ein Attest geschrieben, die Erziehung von Teenagern gehörte nämlich nicht zu ihrer Jobbeschreibung als Landärztin. Außerdem ging es ihr über Gebühr nahe, dass die siebenundachtzigjährige »Granny Sandkirk« so tapfer ihrem Ende entgegenlitt. Sie hatte Krebs im Endstadium und war nur nach Hause überwiesen worden, weil Anna den Klinikärzten zugesichert hatte, dass sie sich um die palliative Versorgung der alten Frau kümmern würde. Die trug ihr Schicksal auch mit großer Gelassenheit, während ihr Ehemann von Tag zu Tag verzweifelter wurde.
All diese Dinge beschäftigten Anna mehr, als sie es für möglich gehalten hätte – und lenkten doch nur von ihrem viel größeren Problem ab. Lennox. Ihr Herz tat weh, wenn sie an ihn dachte. Ihre Seele brannte vor Sehnsucht, und ihr Verstand versuchte zu begreifen, was eigentlich geschehen war. War es ein Fehler gewesen, letzten Dienstag so mit ihm zu sprechen? Sie glaubte nicht, denn was wäre die Alternative gewesen? Sie hatte begriffen, dass sie mehr wollte. Eine richtige Beziehung. Aber sie hatte auch einsehen müssen, dass Lennox ihr nicht das geben konnte, was sie sich so sehr wünschte: Sicherheit und Geborgenheit in einem anderen Menschen zu finden und sich bedingungslos geliebt zu fühlen, mit all ihren Schwächen, Sorgen und Ängsten.
Lennox interessierte sich nicht einmal für diese Dinge. Er war auf unfassbar charmante Weise egozentrisch. Seine Gedanken, sein Fühlen und Sein drehten sich ausschließlich um ihn selbst. Es war aufregend gewesen, dabei für kurze Zeit Zaungast zu sein und ihm womöglich auch zu helfen, seinen eigenen Weg zum Glück zu finden. Sie sah ganz deutlich sein Potenzial und auch seine Fähigkeit zu lieben – aber er war augenscheinlich noch nicht bereit. Würde es womöglich nie sein. Vor allem aber war das alles erschöpfend und destruktiv für sie selbst. Nein, es war die richtige Entscheidung gewesen, einen Schlussstrich zu ziehen, bevor es ihr noch mehr wehtat.
Dank Yoga und Meditation hatte sie sich schon aus viel tieferer Verzweiflung herausgeholt. Sie hatte gelernt, dass sie nicht auf andere Menschen angewiesen war, wenn es darum ging, sich ausgeglichen und, ja, auch glücklich zu fühlen. Es lag bei ihr selbst und in ihr. Sobald sie wieder Kontakt zu ihrer inneren Glücksquelle aufnehmen konnte, würde es ihr garantiert auch besser gehen. Blöd nur, dass dieser Brunnen derzeit von ziemlich viel Gefühlsgeröll verschüttet war.
Elvis kletterte auf ihren Schoß und rollte sich dort schnurrend zusammen. Seit ein paar Tagen war er wieder fast ständig zu Hause und anschmiegsamer denn je. Wenigstens ihr Kater spürte, was sie brauchte, dachte sie und streichelte sein weiches Fell. Leider half er ihr nicht dabei, ihre Gedanken zu beruhigen und in die Meditation zu kommen. Sie atmete tief ein und aus und versuchte es mit jeder Technik, die sie bei Finlay gelernt hatte. Ohne Erfolg. Dann klingelte auch noch ihr Telefon.
Normalerweise schaltete sie ihr Handy lautlos, wenn sie Yoga machte, doch seit es Granny Sandkirk immer schlechter ging, wollte sie jederzeit ansprechbar sein. Sie schubste Elvis energisch zur Seite, faltete ihre Beine auseinander und stand strauchelnd auf. »Bitte lass es nicht Granny sein«, flehte sie leise zu niemand Konkretem.
Es war Linda, die anrief. »Bist du zu Hause?«, rief sie ins Telefon, ohne sich mit einer Begrüßungsfloskel aufzuhalten.
»Ja. Warum?«
»Weil du unbedingt den Fernseher anmachen und dir die Talkshow von Shane Harmon reinziehen solltest.«
»Und warum sollte ich das?« Eine langweilige Talkrunde im Fernsehen war so ziemlich das Letzte, wonach ihr der Sinn stand.
»Tu’s einfach!«, beschwor Linda sie. »Danach ruf ich dich wieder an.«
Anna seufzte. Na schön, wenn es Linda so wichtig war, würde sie sich eben die Talkshow ansehen. Womöglich war einer ihrer gemeinsamen Freunde zu Gast. Sie schaltete den Fernseher an und goss sich eine Tasse von dem Kräutertee ein, den sie vorhin zubereitet und in eine Thermoskanne gefüllt hatte. Damit kuschelte sie sich auf ihr Sofa. Elvis war ebenfalls zur Stelle und kletterte wieder auf ihren Schoß.
Die Begrüßungsfanfare ertönte, und im nächsten Moment spuckte Anna fast eine Teefontäne aus, als der Moderator seine Gäste vorstellte. Neben zwei Politikern saßen dort nämlich Krimiautorin Betty Murray und Marlin Fraser. Anna hustete heftig und hätte dabei fast den Titel der Show verpasst: »Totgesagte leben länger!«
»Heilige Scheiße«, keuchte sie und wappnete sich innerlich für das, was gleich kommen würde.
Zunächst befragte Harmon die beiden Politiker, die vor Jahren in einen deftigen Skandal verwickelt gewesen waren, an den sich Anna nur noch vage erinnern konnte. Offensichtlich standen die beiden bei ihrer Partei jetzt aber wieder hoch im Kurs und waren wie Phoenix aus der Asche aus ihrem selbst gemachten Elend aufgestiegen. Anna wippte nervös hin und her, sodass es sogar Elvis zu bunt wurde. Mit einem indignierten »Mau« sprang er von ihrem Schoß und verzog sich auf seinen Kratzbaum, von wo aus er sie mürrisch beobachtete, wie sie aus dem Augenwinkel wahrnahm. Doch sie hatte keinen Gedanken für ihr Haustier übrig. Wie gebannt starrte sie auf den Bildschirm und merkte, dass ihre Hände vor Aufregung feucht wurden, als die Politiker endlich zum Schluss ihrer fragwürdigen Heldengeschichte kamen und sich Harmon den anderen beiden Gästen zuwandte. Zunächst war Betty dran, die königlich und elegant wie immer auf ihrem Sesselchen thronte und mit einem leicht ironischen Lächeln in die Kamera blickte.
»Ms. Murray, in Ihrem neuen Roman geht es um einen Mordfall, der keiner war, weil das vermeintliche Opfer seinen Tod nur vorgetäuscht hat.« Er schaute in die Kamera und wandte sich direkt ans Publikum. »Das war übrigens kein Spoiler, das steht so schon im Klappentext. Worum es in der Geschichte wirklich geht, müssen wir alle selbst lesen. Wie kommt man auf so eine Idee?«
»Das habe ich mir nicht ausgedacht. So etwas passiert im wahren Leben.« Sie lächelte geheimnisvoll und warf einen vielsagenden Blick auf Marlin. Anna ahnte, dass das alles einstudiert war – zumindest zwischen den beiden –, hatte aber keine Ahnung, in welche Richtung es gleich gehen könnte.
»Was wollen Sie damit andeuten?«, bohrte Harmon prompt nach.
»Dass auch ich meinen Tod vorgetäuscht habe«, sprach Marlin an Bettys Stelle. »Ich schätze mal, dass sie mich mit ihrem Roman aus der Reserve locken wollte. Aber sorry, Betty, da waren andere schneller.«
Anna starrte fasziniert Marlins Gesicht an. Er sah gut aus, wirkte entspannt, und ein amüsiertes Lächeln spielte um seine Lippen.
»Das müssen Sie uns genauer erklären. In der Einführungsrunde haben wir Sie als Marlin Fraser, Hufschmied aus den Highlands, vorgestellt.« Wieder wandte sich Harmon zur Kamera und sprach das Publikum an: »Ein archaischer Job und zweifellos ein ehrenhaftes Leben, meine Damen und Herren, aber sicherlich fragen Sie sich wie ich, warum Mr. Fraser heute in meiner Show ist.«
»Das stimmt, ich bin Hufschmied«, entgegnete Marlin. »Aber ich hatte auch einmal ein anderes Leben.«
Es folgte ein Einspielfilmchen mit kurzen Sequenzen aus Songs und Interviews von und mit Starlight Lin, einer Szene, die den heutigen Marlin mit einer Gitarre zeigte, wie er seinen alten Hit Another World sang, und schließlich sogar noch mit einem Ausschnitt aus einem Video, in dem Lennox ebenfalls diesen Song performte. Über alldem erzählte eine bedeutungsschwangere Stimme aus dem Off, dass beim Flugzeugabsturz damals nur »Starlight« ums Leben gekommen war und »Lin« diesen Schicksalsschlag für einen Neustart genutzt hatte.
Anna starrte auf den Bildschirm und merkte, wie ihr Herz raste und ihre Ohren rauschten. Die Pause zwischen dem Ende des Einspielers und der nächsten Frage des Moderators erschien ihr wie eine Ewigkeit, dabei waren es höchstens ein, zwei Sekunden.
»Warum?«, wollte Harmon wissen und stellte damit die alles entscheidende Frage. »Warum haben Sie das getan?«
Über Marlins Gesichtszüge huschte kurz ein dunkler Schatten, dann hatte er sich wieder gefangen und antwortete mit ruhiger Stimme: »Weil es für mich in diesem Moment die einzig erträgliche Möglichkeit war, mit der Situation umzugehen. Meine Existenz zwischen Band und Privatleben war kaum noch zu managen. Ich wusste seit Monaten, dass ich eine Entscheidung treffen musste, ich wusste nur nicht, welche. Dann lief die große Nordamerika-Tour durch Kanada, die USA und Mexiko. Es war ein Triumph – und eine einzige Qual. Nach dem letzten Konzert in Mexiko habe ich ein offenes Gespräch mit Starlight gesucht und ihr gesagt, dass ich aussteigen wollte. Sie hat es nicht so gut aufgenommen, wie ich gehofft hatte.« Er schluckte sichtbar. »Es kam zu einem großen Streit, und ich habe mich spontan entschlossen, einen Linienflug zu nehmen und nicht mit unserem Bandjet zu fliegen.«
»Sie nennen Ihre frühere Bandpartnerin immer nur Starlight. Wollen Sie nicht ihren wahren Namen offenbaren?«, fragte der Moderator in Marlins Sprechpause hinein.
»Nein. Das werde ich auch nicht. Wir haben gemeinsam entschieden, dass wir niemals unsere Gesichter und unsere richtigen Namen offenbaren würden – allein schon, um unsere Familien zu schützen. Starlight Lin ist an diesem Tag gestorben. Daran wird sich nichts ändern.«
»Aber Sie leben doch«, wies Harmon auf das Offensichtliche hin.
»Marlin Fraser lebt, Lin ist tot«, beharrte Marlin.
»Wie kam es dazu, dass Sie jetzt, nach all den Jahren, an die Öffentlichkeit gehen?«
Gute Frage, lobte ihn Anna in Gedanken. Vor zwei Wochen war Marlin unfähig gewesen, es gegenüber seiner Familie zuzugeben, und jetzt saß er in einer nationalen TV-Show?
»Sagen wir’s so – es war keine freiwillige Entscheidung«, entgegnete er mit einem sparsamen Lächeln. »Mein jüngster Sohn Lennox ist ebenfalls Musiker und hat – ohne es zu wissen – ausgerechnet einige Songs seines Vaters performt. Irgendwelchen Fans ist die große stimmliche Ähnlichkeit aufgefallen, ein paar Menschen haben tiefer nachgebohrt und mich dann vor zwei Wochen mit ihrer Erkenntnis konfrontiert.« Er seufzte und wollte weitersprechen, doch Harmon grätschte dazwischen.
»Wollen Sie damit andeuten, dass Ihre Familie keine Ahnung von Ihrem Vorleben hatte?« Der Moderator riss in ziemlich überzeugend gespielter Überraschung die Augen auf.
»Meine Geschwister und ihre Partner wussten es natürlich schon, ein guter Freund ebenfalls, aber meine Kinder und alle anderen Menschen bei uns im Dorf hatten keine Ahnung«, gab Marlin zu. »Ich weiß, wie irre sich das anhören muss, aber damals schien es mir die beste und einfachste Lösung zu sein. Ich weiß nicht, ob Sie sich meinen Schock vorstellen können, als ich nach dem langen Flug von Mexiko aus in London gelandet bin. Das Erste, was ich sah, waren die Schlagzeilen, denen zufolge der Bandjet abgestürzt und alle Insassen gestorben waren. Ich war also offiziell tot – oder zumindest mein Musiker-Ich. Für meine Familie waren die Stunden, bis ich zu Hause war, die Hölle, und sie konnten es nicht fassen, dass ich doch noch lebte. Nach wenigen Tagen ist mir dann bewusst geworden, dass dieses schreckliche Unglück irgendwie auch ein Geschenk für mich war. Ich kam aus meinem Dilemma heraus. Ich konnte mich ins Privatleben zurückziehen, ohne vor den Fans in Erklärungsnot zu geraten und ohne die dauernde Angst, dass mein Doppelleben im Ort schließlich doch auffliegen könnte. Ich dachte, das wäre besser für alle Beteiligten.«
»Denken Sie das immer noch? Ich meine, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber an der Stelle Ihrer Kinder würde ich mich ziemlich betrogen fühlen.«
Marlin zuckte bei diesen Worten leicht zusammen und presste die Lippen aufeinander. »Das habe ich inzwischen auch begriffen«, sagte er leise und räusperte sich dann vernehmlich. »Ich möchte nicht, dass es noch länger zwischen uns steht, weshalb ich mich auch dazu entschlossen habe, es hier in dieser Sendung öffentlich zu machen. Es soll keine Geheimnisse mehr geben.« Die Kamera hatte Marlins Gesicht voll in den Fokus genommen. »Alex, Isla, Lennox und Shona – es tut mir leid, was ich euch damit angetan habe. Ich werde euch alles erklären. Bitte verzeiht mir.«