AM FREITAG WAR ANNA ungewöhnlich nervös. In ein paar Stunden würde sie tatsächlich von einer Limousine abgeholt und zum Flugplatz in Inverness gebracht werden. Von dort würde es dann mit dem kleinen Privatjet weiter nach London gehen. Das alles lag weit außerhalb ihrer Komfortzone und fühlte sich irgendwie falsch an. Es passte nicht zu ihr – und es passte auch nicht zu Lennox. Sie fragte sich trotzdem, was genau ihr Problem war, denn eigentlich sollte sie sich auf das luxuriöse kleine Abenteuer freuen.
Vor allem aber sollte sie sich jetzt schleunigst auf ihre Arbeit konzentrieren und ihre Patienten zügig versorgen, damit es überhaupt klappte. Das Wartezimmer war auch kurz vor Mittag immer noch gut gefüllt. Sie tippte rasch den aktuellen Befund von Gemeindesekretärin Leslie Turner in ihren Computer, dann stand sie auf, um sich bei Maggie am Tresen den nächsten Schwung Patientenakten zu holen. Immer noch vier. Puh. Sie schaute kurz auf die Namen und stutzte, als sie den von Marlin Fraser entdeckte. »Marlin Fraser will zu mir in die Sprechstunde?«, sagte sie halblaut – mehr zu sich als zu ihrer Helferin.
»Ja, er kam vor einer Viertelstunde. Ich wollte ihn eigentlich wegschicken, weil die offizielle Sprechzeit schon vorbei ist, aber er hat gemeint, dass er unbedingt zu dir muss. Und ganz ehrlich, er sieht nicht gut aus. Wahrscheinlich hat ihn auch die Grippe erwischt.«
Daran hatte Anna ihre Zweifel, denn erstens war Marlin geimpft, und zweitens verfügte er über eine wahre Rossnatur. Sie nahm an, dass seine Beschwerden andere Ursachen hatten, aber diese Überlegung behielt sie für sich. Sie rief also nacheinander die anderen drei Patienten auf, kümmerte sich um deren Wehwehchen und bat schließlich Marlin in ihr Sprechzimmer.
Maggie hatte recht – der alte Fraser-Patriarch sah wirklich nicht gut aus. Blasser, fast gräulicher Teint, blutunterlaufene Augen, eingefallene Wangen. Von seiner üblichen kraftstrotzenden Männlichkeit war nicht mehr viel übrig. Sie reichte ihm zur Begrüßung die Hand und fühlte fast augenblicklich seinen Schmerz, der allerdings kein körperlicher, sondern ein seelischer war. So weit, so erwartbar. Doch sie fragte sich, ob er das zugeben konnte oder ob er sich eher auf äußere Symptome beziehen würde.
»Was kann ich für dich tun, Marlin?«, fragte sie freundlich und deutete auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch.
»Ich fühl mich nicht gut«, brummte er. »Und das ist deine Schuld. Also sorg dafür, dass es wieder weggeht.«
Okay, aggressiv und voll auf die Zwölf, das war seine Taktik, dachte sie halb amüsiert. Sie beschloss, seine haltlose Schuldzuweisung zunächst nicht zu kommentieren. »Du siehst wirklich schlecht aus«, sagte sie stattdessen voller Mitgefühl, das sie nicht einmal vortäuschen musste. Er tat ihr tatsächlich leid, mit seiner Unfähigkeit oder dem Unwillen, eigene Fehler einzugestehen. »Am besten checke ich dich gründlich von Kopf bis Fuß durch, damit wir nichts übersehen. Mach schon mal den Oberkörper frei, damit ich Herz und Lunge abhören kann, dann schauen wir weiter.«
Er rührte sich nicht von der Stelle, sondern funkelte sie wütend an. »Diese Nummer hat vielleicht bei Jack funktioniert. Glaub bloß nicht, ich lasse zu, dass du mir einen Finger in den Hintern schiebst.«
Anna hatte Mühe, ihr Pokerface aufrechtzuerhalten. »Zunächst wollte ich mich aufs Blutdruckmessen und Abhören beschränken.«
»Mit meinem Herz und meiner Lunge ist alles in Ordnung. Und Blutdruck habe ich nicht!«
»Wir wollen hoffen, dass das nicht stimmt, sonst hat Jack bald einen neuen Kunden.« Das war unprofessionell, doch sie konnte sich die Spitze nicht verkneifen. »Aber wenn du dich nicht von mir untersuchen lassen möchtest, kann ich dich auch nicht behandeln.«
»Wir beide wissen, dass meine Beschwerden keine körperlichen Ursachen haben«, knurrte er wütend.
»Sondern?«, fragte sie milde nach.
»Ich bin komplett isoliert. Meine Familie spricht nicht mehr mit mir, mein bester Freund auch nicht, und sogar Betty zeigt mir die kalte Schulter. Ich kann nirgendwo hingehen, weil immer einer von denen da ist und es auffallen würde, wenn …« Er rang um Worte.
»Interessant«, bemerkte Anna, ohne näher zu erklären, was genau sie so spannend fand. Sie wollte ihn weiter aus der Reserve locken.
»Ich muss nachts heimlich an den Kühlschrank gehen, wenn ich etwas essen will«, beklagte er sich weiter. »Oder nach Inverness fahren.«
»Das ist natürlich nicht schön, aber auch nicht direkt ein medizinisches Problem.«
»Sag ich doch. Es ist kein medizinisches Problem. Du hast mir das angetan!«, rief er laut.
»Ich?« Das Pokerface zu wahren wurde immer schwieriger.
»Natürlich du! Oder deine merkwürdige Freundin, die nichts Besseres zu tun hat, als ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angehen.«
»Ist das so?«
»Stell dich nicht dumm, so etwas kann ich nicht leiden!«, brüllte Marlin.
»Und ich kann es nicht leiden, grundlos angeschrien zu werden«, entgegnete Anna milde.
Im nächsten Moment klopfte es an der Tür, und gleich darauf streckte Maggie ihren Kopf ins Zimmer und fragte besorgt: »Alles in Ordnung hier? Brauchst du vielleicht Hilfe?«
»Alles gut, Maggie, danke«, beschwichtigte Anna ihre Mitarbeiterin mit einem freundlichen Lächeln und wandte sich, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, wieder Marlin zu. »Können wir jetzt sachlich über alles reden?«
»Du hast mein Leben ruiniert!«, presste er hervor – deutlich leiser, aber leider immer noch genauso unsachlich.
»Marlin, ich ahne, dass du im Moment eine schwierige Zeit durchmachst, aber das ist ganz sicher nicht meine Schuld. Das weißt du genauso gut wie ich. Ich habe keine Ahnung, was dich damals dazu bewogen hat, deinen Tod vorzutäuschen und den musikalischen Teil deiner Vergangenheit zu beerdigen, aber ich habe damit nichts zu tun. Ich würde übrigens darauf wetten, dass deine Familie und deine Freunde ganz anders auf die ziemlich schockierende Enthüllung reagiert hätten, wenn du es zugegeben und vielleicht sogar eine Erklärung abgegeben hättest. Wenn du dich also fragst, wer dein Leben ruiniert hat, dann schau in den Spiegel. Und sieh genau hin, denn ich vermute, dass dir nicht gefallen wird, was du siehst.«
»Du tust gerade so, als wäre es eine bewiesene Tatsache, dass ich …«, begann er, und Anna musste ihn für das Ausmaß seiner Selbstverleugnung fast bewundern.
»Marlin, auf diesem Niveau werde ich nicht mit dir diskutieren! Ich weiß nicht, wem du etwas vormachen willst – wahrscheinlich hauptsächlich dir selbst –, aber ich habe dafür weder Zeit noch Lust darauf. Es war deine Entscheidung, deine Vergangenheit zu begraben und sie vor deinen Kindern geheim zu halten, und es war ebenfalls deine Entscheidung, jetzt, wo es rausgekommen ist, alles zu leugnen. Ich kann dir nur einen Tipp geben: Man kann Entscheidungen auch überdenken, sie anders bewerten und dann neue treffen. Die Wahrheit zu sagen wäre ein guter erster Schritt. Deine Kinder und Geschwister sind allesamt Menschen, die verzeihen können – auch wenn das in diesem Fall ziemlich viel verlangt ist.«
»Du weißt ja nicht, wovon du redest«, entgegnete er – und klang mit einem Mal so niedergeschlagen und hoffnungslos, dass Anna nur mit Mühe ihr Mitgefühl im Zaum halten konnte.
»Stimmt. Das weiß ich nicht. Aus dem einfachen Grund, dass ich noch nie so lange mit einer derartigen Lüge und einem so großen Geheimnis leben musste. Ganz ehrlich, ich möchte diese Erfahrung auch nie machen. Was ich aber ganz sicher weiß, ist, dass du dir in dieser Situation nur selbst helfen kannst. Wenn du meinen freundschaftlichen und ärztlichen Rat hören möchtest, dann empfehle ich dir dringend, möglichst rasch reinen Tisch zu machen. Denn irgendwann schlagen sich seelische Probleme auch in körperlichen nieder, und wir wollen doch beide nicht, dass du richtig krank wirst, oder?«
Er schüttelte matt den Kopf und schien zu überlegen, wie er reagieren sollte. Der innere Kampf spiegelte sich ziemlich eindrucksvoll in seinen Augen und seinen Gesichtszügen. »Ich könnte es dir erklären«, sagte er schließlich und sah sie beinahe Hilfe suchend an.
»Das könntest du, aber das würde dir nicht die gewünschte Erleichterung verschaffen. Ich bin eine Außenstehende, der es im Grunde egal ist. Aber deine Familie leidet darunter. Jeder auf seine Art.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, lenkte er nach einer sehr langen Pause ein. »Mit fast allem. Nur nicht damit, dass du eine Außenstehende bist und dass es dir egal ist.« Mit diesen Worten erhob er sich mühsam und stapfte grußlos aus ihrem Sprechzimmer.
• • •
Irgendwie hatte Lennox sich den London-Trip anders vorgestellt. Am Donnerstag war er, nach einer recht kurzen Nacht mit Anna auf der Studiogalerie, zu der langen Fahrt in Richtung Süden aufgebrochen. Voller Vorfreude und Ideen. Sein Leben hatte endlich eine Richtung eingeschlagen, in die er gehen wollte. Er hatte Pläne und Ziele – noch nicht die ganz großen, aber erreichbare und realistische Zwischenschritte. Und er hatte Anna, die Frau, die sein Leben in mehr als einer Hinsicht gerettet hatte. Niemand verstand ihn so gut wie sie, nicht einmal Isla. Sie gab ihm das Gefühl, alles schaffen zu können, was er sich wünschte. Durch ihre Augen sah er sich selbst ganz anders, erkannte plötzlich einen Sinn in seinem Leben. Und als wäre das alles nicht schon großartig genug, war sie auch noch die sinnlichste, leidenschaftlichste und tabuloseste Partnerin, die er jemals gehabt hatte. Es war nicht einfach nur heißer Sex, es war die absolute Verschmelzung. In ihr konnte er sich jedes Mal aufs Neue verlieren und in Abertausende Teilchen explodieren. Wenn sie sich danach in den Armen lagen, setzte er sich wie ein magisches Mosaik wieder zusammen – Mal für Mal in einer besseren Version als zuvor.
Und jedes Mal mit neuen Ideen für Songs, sodass er am liebsten aufspringen und sich seine Gitarre schnappen würde, um die Energie auf der Stelle in Musik zu übersetzen. Auch dieser Impuls wurde immer stärker, doch er ahnte, dass Anna das vermutlich nicht so gut fände, und bislang hatte er sich einigermaßen im Griff gehabt. Den halben Freitag hatte er jedoch im Studio eines Freundes verbracht und seine aufgestaute Kreativität in ein Keyboard und von da auf seine Computerfestplatte fließen lassen. Er konnte es kaum erwarten, diese rohen Demoversionen auszuarbeiten, Texte zu dichten und richtige Songs daraus zu machen. Am liebsten hätte er auf der Stelle weitergearbeitet, doch er wollte ja genauso gern Zeit mit Anna verbringen. Rasch war er dann seinen Fundus durchgegangen, nur um zu beschließen, dass er einfach alles mitnehmen würde. Aussortieren konnte er in Kirkby immer noch, und man wusste schließlich nie, wofür manche Dinge noch nützlich sein konnten.
Er war noch beim Einpacken gewesen, als Anna ihn aufgeregt angerufen und ihren bevorstehenden Abflug in Inverness angekündigt hatte – deutlich früher als erwartet, doch offenbar hatte sie die Hausbesuche am Nachmittag streichen können. Das hatte bei ihm für einige Hektik gesorgt, und er hatte es nur mit Mühe fertiggebracht, vor ihr im Hotel zu sein. Alex hatte nicht zu viel versprochen: Das Boutique-Hotel seines Kumpels war wirklich wunderbar. Sie hatten eine kleine Suite – mit riesiger Whirlpool-Badewanne, für die ihm spontan einige interessante Verwendungszwecke in den Sinn kamen. Eigentlich hatte er noch shoppen und sich ein paar neue Klamotten kaufen wollen, aber das hatte er leider nicht mehr geschafft, und so musste er in Jeans, seinen heiß geliebten Schnürboots und seiner treuen schwarzen Lederjacke zu dem Dinner in einem fancy Restaurant gehen, für das Isla eine Reservierung organisiert und auch gleich sämtliche Kosten übernommen hatte. Normalerweise hätte ihn das nicht gestört, er machte sich nicht allzu viel aus Äußerlichkeiten – zumindest aus seinen eigenen nicht –, aber Anna hatte sich mit ihrem Outfit so viel Mühe gegeben, dass er sich unzulänglich vorkam.
Dieses vergleichsweise lächerliche Detail entpuppte sich als Gradmesser für das restliche Wochenende. Anna war auf bezaubernde Art aufgeregt, weil London für sie so neu war, er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihr eine unvergleichlich schöne Zeit zu bieten, und dem Impuls, sich um seine Musik zu kümmern. Außerdem hatten sie fast keine Zeit für Spontaneität, denn seine Geschwister hatten es offensichtlich darauf angelegt, Anna und ihm ein unvergessliches Wochenende zu bescheren – mit dem Ergebnis, dass sie von einem Event zum anderen hetzten. Jon hatte seinen Bruder, der in London eine Werbeagentur leitete, gebeten, Tickets für zwei angeblich superspektakuläre Ausstellungen zu besorgen, Isla hatte für den Samstag einen Lunch und ein weiteres tolles Abendessen bei befreundeten Spitzenköchen organisiert, danach stand ein Whisky-Tasting an Shonas früherem Arbeitsplatz an, mit anschließendem Besuch in ihrem Lieblingsclub, was sie ebenfalls arrangiert hatte. Alles lieb gemeint und jede Aktion für sich auch ganz wunderbar, aber in der Masse einfach zu viel. Sie waren überwältigt und überrumpelt, und statt der erhofften Zweisamkeit herrschte vor allem Stress.
Nun saßen sie bereits seit mehreren Stunden im Auto, auf dem Rückweg nach Kirkby, hatten schon einen kurzen Pausenstopp hinter sich – und hatten an diesem Sonntag bislang kaum ein Wort miteinander gewechselt. Anna hatte ihm mehrfach angeboten, sich beim Fahren mit ihm abzuwechseln, doch das wollte er nicht. Zum einen schien sie verdammt müde zu sein, und zum anderen half ihm die Konzentration aufs Fahren, seine Gedanken in Schach zu halten.
»Es tut mir echt leid, wie das gelaufen ist«, begann er, um das vielsagende Schweigen zu brechen. Vielleicht half es ja dabei, diesem leeren Satz mehr Wahrheit einzuhauchen, wenn er ihn nur oft genug wiederholte. Dabei stimmte es, es tat ihm wirklich leid. Trotzdem fühlte sich die Aussage hohl und wertlos an. Er wagte einen kurzen Seitenblick auf Anna, die erschöpft und abgekämpft wirkte.
»Muss es nicht«, antwortete sie ebenso stereotyp. »Deine Familie hat es doch nur gut gemeint.«
»Ja, schon, aber …« Zum ersten Mal, seit er Anna kannte, hatte er Schwierigkeiten, seine Empfindungen auszudrücken und mit ihr zu sprechen. Irgendwie war dieser London-Trip keine gute Idee gewesen.
Sie legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel, und er spürte ihr Lächeln mehr, als er es tatsächlich sah. »Ich versteh schon. Mach dir keine Gedanken, alles ist gut.«
Die Wärme, die ihre Hand ausstrahlte, tat gut, und er entspannte sich etwas. »Ich mach’s wieder gut, versprochen.«
»Es gibt nichts gutzumachen. Ich hatte ein außergewöhnliches Wochenende. Hey, ich durfte in einem Privatjet fliegen und habe Champagner serviert bekommen. Wir haben viele tolle Sachen erlebt und …« Offensichtlich gingen ihr die positiven Argumente aus, was wirklich untypisch war, denn bisher hatte er sie als den optimistischsten Menschen überhaupt kennengelernt.
»Dass Shona uns ausgerechnet zum Whisky-Tasting geschickt hat«, brummte er kopfschüttelnd, als sei dieser Programmpunkt der blödeste von allen gewesen. Na ja, der sinnloseste auf jeden Fall, denn er hatte dabei nur Wasser getrunken.
»Lass uns nicht mehr drüber reden«, bat sie und schloss die Augen.
Lennox war sich nicht sicher, ob sie wirklich schlafen wollte oder nur keine Energie für ein Gespräch mit ihm hatte, aber er respektierte ihren Wunsch und schwieg ebenfalls. Zumindest äußerlich. In seinem Kopf diskutierte er mit mehreren Fraktionen sich widersprechender Stimmen. Doch je weiter er sich in Richtung Norden vorarbeitete, desto ruhiger wurde auch sein Geist, und er konzentrierte sich auf die positiven Aspekte. Sobald er seine Ausrüstung installiert hatte, würde er loslegen und erste Demos aufnehmen können. Wie von allein formten seine Gedanken Arrangements für seine neuen Melodien, verfeinerten Textzeilen und schliffen an Refrains.
»Ist das ein neuer Song?«, fragte Anna nach einer ganzen Weile. Sie waren inzwischen kurz vor Edinburgh, und draußen dämmerte es bereits.
»Was?«, fragte er überrascht. Hatte er am Ende nicht nur in seinem Kopf vor sich hin gesummt, sondern auch in Wirklichkeit?
»Was du da singst.« Er blickte kurz zu ihr und sah ihr Lächeln. »Fällt dir gar nicht auf, was?«
»Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht wecken.«
»Hast du nicht. Und ich finde es wirklich schön. Hast du schon einen Text?«
»Ich arbeite daran, aber der ist noch nicht spruchreif.« Bislang hatte er nur einen Nonsense-Text, in dem Kater Elvis durch die National Gallery in London spazierte und versuchte, Mäuse aus einem Gemälde zu fangen. Manchmal wunderte er sich schon über die Verdrahtung seiner Synapsen …
»Ich bin jedenfalls sehr gespannt.« Die letzte Silbe hing seltsam in der Luft, so als wollte sie noch etwas hinzufügen.
Lennox wagte einen weiteren Seitenblick. Sie schaute starr nach vorn, aber es arbeitete eindeutig in ihr. Er hatte keine Ahnung, was sie so beschäftigte, aber gleichzeitig war er sich absolut sicher, dass er es lieber auch nicht wissen wollte.
»Vielleicht solltet ihr, deine Geschwister und du, doch bald das Gespräch mit eurem Vater suchen«, brach es schließlich aus ihr heraus, und er fühlte ihren Blick auf sich ruhen.
Er hatte geahnt, dass ihm nicht gefallen würde, was sie zu sagen hatte, aber dass sie jetzt ausgerechnet von seinem Dad anfing, ging doch etwas zu weit. »Wenn überhaupt, sollte er das Gespräch mit uns suchen und nicht umgekehrt«, entgegnete er unwirscher als beabsichtigt.
»In einer idealen Welt wäre das auch so«, lenkte sie mit einem Seufzer ein. »Ich fürchte jedoch, dass normale Maßstäbe für Marlin Fraser keine besonders große Bedeutung haben.«
»Du meinst, dass er der sturste und verlogenste Bock der Welt ist?«
»Ich meine, dass es für einen derart meinungsstarken und unflexiblen Menschen schwierig ist, den ersten Schritt zu machen, nachdem seine … ähm … Welt in die Brüche gegangen ist. Der Schatten, über den er dafür springen muss, ist vielleicht zu groß für ihn.«
»Wie kommst du eigentlich dazu, Partei für ihn zu ergreifen?«, fuhr er sie an und war selbst erschrocken über die Heftigkeit seiner Worte. »Ich dachte, du stehst auf meiner Seite«, fügte er noch etwas defensiver hinzu.
»Ich bin auf deiner Seite«, entgegnete sie sacht, aber mit klarer Stimme. »Ich denke aber auch, dass er selbst das größte Opfer seiner Heimlichtuerei ist. Er hat sich selbst doch am meisten und am schlimmsten betrogen, findest du nicht?«
Lennox starrte fassungslos auf die Fahrbahn. Hatte sie das jetzt ernsthaft gesagt? Wie konnte sie Verständnis für den Mann aufbringen, der in seinem Leben für so viel Schmerz und Elend gesorgt hatte? »Nein, finde ich nicht. Und selbst wenn es so wäre, dann wäre es sicher nicht mein Problem, sondern allein sein eigenes. Es war schließlich seine Entscheidung, so zu handeln, und das sind die Konsequenzen, mit denen er jetzt leben muss.«
»Ich verstehe wirklich gut, warum du so argumentierst, aber es würde auch von Größe zeugen, den ersten Schritt zu machen. Glaub mir, du hast viel weniger zu verlieren als er.« Sie seufzte erneut, und er hatte fast den Eindruck, dass es ihr leidtat, dieses Thema angeschnitten zu haben. Gut so. Er sagte nichts, aber nach ein paar Minuten fuhr sie fort: »Bitte sei nicht sauer auf mich, und noch mal, ich stehe nicht auf seiner Seite. Ich würde mir nur wünschen, dass ihr euch aussprecht, denn ich bin überzeugt davon, dass es euch allen guttun würde. Ihr lebt immerhin in einem relativ kleinen Ort, da kann man sich nicht so gut aus dem Weg gehen. Und denk nur an Alex und Colleen, die sogar im selben Haus wohnen wie dein Vater. Die zwei sollten sich im Moment einfach nur auf ihr Baby freuen dürfen und sich nicht mit Familienkriegen herumschlagen müssen.«
»Alex und Colleen geht es gut«, behauptete er. »Genau wie Isla, Shona und mir. Wir haben keinen Krieg, wir halten zusammen.«
»Ich weiß, und das finde ich auch schön, aber Marlin ist im Moment völlig isoliert. Er hat jeden Rückhalt in seiner Familie verloren. In einer Familie, die ihm wichtiger ist als alles andere. Auch wichtiger, als es seine Karriere war. Kannst du das auch von dir behaupten?«
Boah – falls es verbale Magenschwinger gab, dann hatte Anna soeben einen Treffer gelandet. Oder eher einen Tiefschlag. Was wollte sie damit ausdrücken? Er brachte es nicht über sich, den Mund zu öffnen und zu antworten, zu groß war seine Sorge, dass er etwas Unbedachtes von sich geben würde.
»Dein Dad war am Freitag bei mir in der Praxis«, erklärte sie schließlich. »Ich habe die ganze Zeit überlegt, ob ich es dir überhaupt erzählen soll oder nicht. Aber ich verrate schließlich keine vertraulichen Details aus unserem Gespräch. Ich will dir nur meinen Eindruck schildern – und der ist nicht gut. Er leidet körperlich und vor allem seelisch unter der Situation. Ich weiß, ich weiß«, sagte sie ungeduldig und erstickte Lennox’ nächste »Nicht mein Problem«-Tirade bereits im Keim. »Ich weiß, dass er selbst Schuld an der Sache hat, dass er sich da selbst reingeritten hat und jetzt nicht mehr rausfindet. Ich hoffe, dass er die Stärke aufbringt, sich seinen Fehlern und seiner Familie von selbst zu stellen, aber ich bin mir nicht sicher, ob er es schafft. Daher mein Appell an dich und deine Geschwister, einen ersten Schritt auf ihn zu wenigstens in Betracht zu ziehen.« Sie legte ihm noch einmal kurz die Hand aufs Bein und schloss dann wieder die Augen.
Nach ein paar Minuten nahm er ihre gleichmäßigen Atemzüge wahr. Diesmal war sie wirklich eingeschlafen. Sie hatte ihre Last an ihn weitergegeben und anscheinend ihren Frieden gefunden.
Kater Elvis’ Abenteuer im Museum waren jedenfalls ziemlich nachhaltig aus seinem Bewusstsein vertrieben worden. Stattdessen wurden seine Gedankengänge während der letzten drei Stunden Fahrt von sehr unangenehmen Überlegungen beherrscht.