HOSEN RUNTER

LENNOX WUSSTE NICHT, WAS er fühlen oder denken sollte. In seinem Kopf herrschte Chaos, größeres Chaos als jemals zuvor. Und leider war ihm jede Fähigkeit zum logischen und analytischen Denken abhandengekommen. Allein die Vorstellung, dass sein Vater der Sänger von Starlight Lin sein sollte, war so verstörend und absurd, dass er die Wahrheit schlicht nicht einordnen konnte. Der Schluck Whisky, den ihm Linda beinahe mit Gewalt eingeflößt hatte, vernebelte seine Sinne zusätzlich. Wenigstens war ihm nicht mehr so schlecht wie eben noch, als er befürchtet hatte, gleich vom Stuhl zu kippen. Anna hielt immer noch seine Hand – und sie fühlte sich an wie ein Rettungsring in stürmischer See. Stürmische, eiskalte See bei Nacht und in dichtem Nebel, sodass es keinesfalls sicher war, dass die Rettung auch rechtzeitig eintreffen würde.

»Und was jetzt?«, sprach Linda aus, was sie vermutlich alle dachten.

Er hatte darauf keine Antwort, sondern starrte nur leer ins Nichts.

»Sollen wir den alten Lügner damit konfrontieren?«

»Nenn ihn nicht so«, schimpfte Anna leise mit Linda. »Wir wissen nichts über seine Beweggründe. Aber ja, wir müssen ihn konfrontieren. Allerdings nicht allein. Wir brauchen Verstärkung. Ich werde gleich mal Alex anrufen, vielleicht kann er vorbeikommen, und dann werden wir gemeinsam einen Schlachtplan erarbeiten. Ich halte es übrigens für sehr unwahrscheinlich, dass niemand im Dorf von seinem Vorleben weiß. Seine Geschwister müssen es wissen. Pfarrer Jack vermutlich auch. Die beiden waren ja schon zu Schulzeiten befreundet.«

Lennox war froh, dass wenigstens Anna noch zu halbwegs klaren Überlegungen imstande war, und er musste ihr recht geben: Es konnte nicht sein, dass Rupert, Alice, Heather, George und Jack ahnungslos waren. Was das Gefühl des Betrugs jedoch nur verschlimmerte. »Isla«, murmelte er. »Ich muss mit Isla reden!«

»Ich finde, wir sollten erst mit Alex sprechen«, erwiderte Anna sachte. »Isla hat um diese Zeit Rushhour in der Küche. Wir können ihr das jetzt nicht antun. Das hat Zeit bis später.«

Sie ließ seine Hand los, was die Leere in ihm schlagartig vergrößerte. Mit leicht zitternden Fingern griff er nach der Teetasse und trank einen Schluck. Undeutlich nahm er wahr, wie Anna mit seinem Bruder telefonierte, dann hörte er ein mechanisches Klappern, und gleich darauf kam Elvis ins Wohnzimmer stolziert. Offensichtlich war sein heutiger Ausflug beendet. Er schien kurz die Lage zu checken, lief dann zielstrebig zu Lennox und sprang auf seinen Schoß. Dort drehte er sich umständlich ein paarmal im Kreis, rieb dabei seinen dicken Katerkopf an Lennox’ Kinn und rollte sich schließlich schnurrend zusammen.

»Ich finde es immer wieder faszinierend, wie empathisch dieses Tier ist«, sagte Linda mit überraschend sanfter Stimme. »Er merkt es immer sofort, wenn es jemandem schlecht geht.«

Lennox nickte nur und streichelte das weiche Fell des Katers. Der erstaunlich schwere Körper strahlte eine Wärme ab, die ihm guttat und ihn auf ähnliche Art und Weise erdete, wie Anna es mit ihrer Berührung geschafft hatte.

»Alex und Colleen kommen in ein paar Minuten«, kündigte Anna an. »Sollen wir sonst noch jemanden dazuholen? Shona ist heute mit Kendrick in Inverness, wenn ich mich richtig erinnere. Ich glaube, eine seiner vielen Schwestern hat Geburtstag.« Sie sah Lennox fragend an.

»Warten wir erst mal ab, was Alex sagt«, entgegnete Lennox mit rauer Stimme.

Sein Bruder und Colleen waren erwartungsgemäß genauso geschockt wie er selbst. Es war fast lustig gewesen, das Gefühlsroulette auf ihren Gesichtern zu beobachten: erst amüsiert, dann irritiert, dann immer ungläubiger und schließlich vollkommen fassungslos. Alex nahm die Whiskystärkung sofort an und schüttelte zunächst nur stumm den Kopf.

»So eine krasse Nummer hätte ich eurem Dad echt nicht zugetraut«, sagte Colleen, die als Erste die Sprache wiederfand. »Ich meine, wie kann man so etwas verheimlichen? Und vor allem: Warum? Vielleicht wollte er aus der Musikszene aussteigen, aber deswegen hätte er vor seiner Familie doch nicht sein wahres Ich verleugnen müssen. Hast du denn gar nichts mitbekommen?«, fragte sie Alex.

Der war kurz vor einem Schleudertrauma vor lauter Kopfschütteln. »Nein. Überhaupt nichts. Ich meine, er war oft lange weg, als ich klein war. Manchmal monatelang. Das fand ich natürlich schon doof, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, was für eine Erklärung man mir dafür gegeben hat. Es war halt auch irgendwie normal für mich, weil ich es von Anfang an so kannte. Ich hatte meine Mum, meine Großeltern, Tanten und Onkel – insofern war es okay. Wenn er dann zu Hause war, war er anfangs immer ein bisschen der Außenseiter. Wir waren ja ein eingeschworenes Team und er außen vor. Ich glaube, das war schon auch schwierig für ihn. Aber kaum hatten wir uns alle aneinander gewöhnt, war er wieder weg.« Er kratzte sich am Kopf und runzelte die Stirn. »Ich kann mich dunkel erinnern, dass es auch oft Streit zwischen ihm und Mum gab, weiß aber nicht, worum es genau ging. Nur dass ich voll auf ihrer Seite stand. Und dann war er eines Tages einfach wieder da und ist geblieben.

Plötzlich waren wir eine richtige Familie. Isla, Lennox und Shona kamen auf die Welt, dann ist Mum gestorben, und wir waren nur noch zu fünft. Ich glaube, ich hatte nach Mums Tod ziemliche Ängste, dass Dad auch wieder weggehen könnte, so wie früher, aber er hat mir hoch und heilig versprochen, dass er uns nie verlassen wird – und immerhin das hat er gehalten.« Alex’ Blick hatte die ganze Zeit gewirkt, als wäre er auf einen Ort in seinem Inneren gerichtet. Jetzt schaute er die anderen wieder bewusst an. »Ich fass es einfach nicht, dass er uns so komplett verarscht hat.«

»Und …«, begann Lennox, doch er brachte die Worte nicht über die Lippen.

»Und dich wegen deiner Musik so fertiggemacht hat«, vervollständigte Alex seinen Satz und legte ihm in einer seltsam beschützenden Geste eine Hand auf die Schulter. Seine Augen funkelten gefährlich wütend. »Allein dafür könnte ich ihm schon den Hals umdrehen«, grollte er. »Was hat er sich nur dabei gedacht!«

»Euer Dad ist kein schlechter Mensch«, begann Colleen sachte und erntete dafür ein doppeltes Schnauben von den Brüdern. »Er hat eine sehr seltsame Entscheidung getroffen, aber ich bin mir sicher, er hatte gute Gründe dafür.«

»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür, seine Partei zu ergreifen«, blaffte Alex seine Verlobte an, die erschrocken die Augen aufriss. So hatte sie ihn offensichtlich noch nicht erlebt. »Siehst du nicht, was er uns angetan hat? Vor allem Lennox angetan hat, aber auch uns anderen? Es war und ist alles eine Lüge!«

»Ja, schon, aber …« Colleen blickte hilflos in die Runde. »Aber vielleicht hat er es aus Liebe getan?«

»Aus Liebe?«, spie Lennox aus. »Seltsame Form von Liebe.«

Anna nahm wieder seine Hand und sagte dann mit fester Stimme, vorwiegend an Colleen gewandt: »Ich glaube, wir müssen zwei grundlegende Dinge festhalten. Marlin Fraser hat vor vielen Jahren eine Lebensentscheidung getroffen, über deren Hintergrund wir im Moment nur spekulieren können, und er wird sich dazu erklären müssen. Es steht aber außer Frage, dass diese Entscheidung nicht nur sein eigenes Leben betrifft, sondern auch das seiner Kinder und vermutlich auch das der restlichen Familie. Es mag schon sein, dass seine Intention gut war, und ich halte ihn auch nicht für einen grundsätzlich schlechten Menschen, aber ich finde, wir sollten jetzt lieber Lennox, Alex, Isla und Shona zur Seite stehen.«

»Natürlich«, beeilte sich Colleen zu versichern, und in ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich stehe immer auf deiner Seite.« Sie schmiegte sich an Alex und fügte dann mit einem Blick auf Lennox hinzu: »Auf eurer Seite.«

»Weiß ich doch«, entgegnete Alex mit deutlich sanfterer Stimme und küsste sie auf die Schläfe. »Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Ich bin … Ich weiß … Das Fundament meines Lebens wurde nur gerade ziemlich nachhaltig zerstört. Ich bin mit der Gewissheit aufgewachsen, dass mein Vater ein schottischer Großgrundbesitzer, Hufschmied und Hobbyschäfer ist. Dazu habe ich mir vorgestellt, dass er früher noch einen anderen Job hatte, der ihn einige Jahre lang von der Familie ferngehalten hat, der aber nicht weiter wichtig war, denn sonst hätte man ja mal darüber gesprochen. Und jetzt erfahre ich, dass er ein richtig großer Popstar gewesen sein soll. Das muss ich erst mal verarbeiten.«

»Starlight Lin war mein größtes Vorbild«, erklärte Lennox leise. »Musikalisch und von den Texten her. Ich wollte immer so sein wie Lin…« Ihm wurde schon wieder heiß und kalt und gleichzeitig kotzübel. »Warum?« Das letzte Wort war nur noch gehaucht.

»Wir werden Antworten finden, Mann, das versprech ich dir!« Alex mahlte mit den Kiefern. »Dad ist heute mit Rupert bei einer Pferdeauktion in der Nähe von Aberdeen. Ich schätze, dass sie nicht vor dem späten Abend heimkommen werden. Aber ich werde mir jetzt mal unsere Tanten und Pfarrer Jack vorknöpfen«, kündigte er an.

»Ich komme mit«, sagte Colleen rasch.

»Nein, das mach ich allein. Mir wäre es wichtiger, dass du dich um die Gäste kümmerst. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob Alice in der Lage sein wird, für die Teestunde zu sorgen, wenn ich mit ihr fertig bin.«

»Ähm …«, mischte sich Linda ein, und es war klar, dass es in ihrem Kopf gerade wie wild ratterte. »Ihr habt doch dieses sensationelle Spa, von dem mir Anna so vorgeschwärmt hat, ja?«

»Ja«, bestätigte Alex stirnrunzelnd und offenbar etwas irritiert wegen des abrupten Themenwechsels.

»Ich für meinen Teil würde mir jetzt gerne einen netten Nachmittag mit Sauna, Dampfbad und Massage machen – und falls ihr noch ein Zimmer frei habt, möchte ich es für eine Nacht buchen. Annas Gästezimmer ist … nun ja …« Sie verdrehte völlig übertrieben die Augen und schielte dann in Richtung Lennox.

Colleen hatte die unausgesprochene Botschaft offenbar verstanden, denn sie antwortete mit einem strahlenden Lächeln: »Du kannst gerne eines unserer Cottages haben, und das Spa steht dir zur freien Verfügung. Willst du gleich mit uns mitkommen?«

»Unbedingt!« Linda schickte ein vielsagendes Grinsen in Richtung Anna und Lennox und stand dann umgehend auf, um ihre Sachen aus dem Gästezimmer zu holen.

Lennox war nicht sicher, was hier gerade passierte, doch Anna schien es zu begreifen. »Alles klar. Ihr habt doch sonntags oft ein gemeinsames Familienfrühstück in Harriswood House, oder? Wie wäre es, wenn wir uns da alle treffen?«

»Das halte ich für eine sehr gute Idee!«, erwiderte Alex. »Ich werde Isla und Shona dazubitten und keine Ausrede gelten lassen«, fügte er entschlossen hinzu. »Und dann werden wir Antworten kriegen.«

»Ich kann es kaum erwarten«, murmelte Lennox voller Bitterkeit.

»Kommt ihr klar?«, erkundigte sich Alex, als er Colleen in den Mantel half und dann selbst in seine Jacke schlüpfte.

Es war so offensichtlich, was damit gemeint war, dass selbst Lennox den Subtext verstand: Schaffst du es, meinen kleinen Bruder vor sich selbst und vor größeren Dummheiten zu bewahren? Das hatte Alex wohl in Wirklichkeit gemeint.

»Wir kommen klar«, bestätigte Anna mit einem leichten Lächeln. »Viel Spaß im Spa«, wünschte sie ihrer Freundin Linda, die soeben mit gepackter Tasche aus dem Gästezimmer trat und nun noch ihr Tablet einpackte, bevor sie sich Alex und Colleen anschloss.

»Puh«, sagte Anna, als der Trupp gegangen war, und sah Lennox aufmerksam an.

»Ja. Puh.« Er streichelte den weiterhin schnurrenden Kater, der keine Anstalten machte, seinen Schlafplatz zu verlassen. »Hast du irgendwas, was meine rasenden Gedanken beruhigen könnte?«

»Whisky?«

»Beruhigen, nicht betäuben. Das ist doch das Blöde an Alkohol. Der Effekt ist nur ganz kurzfristig, und hinterher fühlt man sich beschissener als vorher.«

»Du bist wirklich ein ganz besonderer Mann, Lennox Fraser«, stellte sie fest, und ihre warme Stimme legte sich wie eine Decke über ihn – samtig, weich und … lockend?

»Weil ich keinen Alkohol mag oder weil ich mein Leben mit einer Lüge verbracht habe?« Er versuchte, sich an Fakten zu halten und nicht über den Effekt ihrer Stimme nachzudenken.

»Dein Leben ist keine Lüge. Dein Vater hat gelogen, ja, aber damit hat er in erster Linie sich selbst geschadet – auch wenn sich das für dich und deine Geschwister akut ganz anders anfühlen muss. Nein, du bist in meinen Augen ein besonderer Mann, weil du dich deinen verwirrenden Gedanken und Gefühlen stellen und sie nicht verdrängen oder betäuben willst.«

»Das mit dem Verdrängen habe ich viel zu lange probiert. Das hat mich jedenfalls auch nicht glücklich gemacht. Und du hast recht – es ist die Lüge meines Vaters, nicht meine. Trotzdem hat sie mein Leben beeinflusst. Wer weiß, wie es sonst gelaufen wäre?«

»Das weiß keiner, und wir werden es nie erfahren. Aber womöglich ist es so besser? Es könnte doch sein, dass du dich nie aus Marlins Schatten herausgewagt hättest, wenn du gewusst hättest, dass er in seinem früheren Leben der Musiker Lin gewesen ist.« Sie zuckte mit den Schultern. »Auch das ist reine Spekulation und vor allem nicht zielführend. Euer Dad schuldet euch eine Menge Antworten, aber du hast nach wie vor alle Möglichkeiten. Du kannst dich jeden Tag aufs Neue entscheiden, in welche Richtung du gehen möchtest.«

»Ich weiß.« Er seufzte resigniert, aber nicht mehr mutlos. »Ich werde nicht wieder in das alte Muster zurückfallen und meinem Vater die Schuld an meinem persönlichen Elend geben – auch wenn ich jetzt ein richtig gutes Argument dazubekommen habe. Trotzdem wünsche ich mir, dass er die Hosen runterlässt und gründlich auspackt.« Warum hatte er diese seltsame Formulierung gewählt? Und was hatte sie eben gesagt – dass er sich entscheiden könne, in welche Richtung er gehen wollte? Seine Wunschrichtung in genau diesem Moment kannte er, und sie hatte erschreckend viel mit heruntergelassenen Hosen zu tun …

»Es wird ihm wohl nicht viel anderes übrig bleiben.« Annas Lächeln ließ nicht nach, stattdessen bekam es etwas leicht Verwegenes, das er ihr gar nicht zugetraut hätte. »Du hast mich vorhin gefragt, ob ich irgendwas hätte, um deine rasenden Gedanken zu beruhigen. Außer Whisky, Gin und verschreibungspflichtigen Mittelchen könnte ich dir ein paar Yoga-Übungen und eine gemeinsame Meditation anbieten – falls du es noch mal wagen möchtest.«

• • •

Ob Lennox auch nur ansatzweise bewusst war, welch hypnotische Wirkung seine Augen haben konnten? Das wilde Sturmgrau, in dem sie gerade schimmerten, wirkte gefährlich und gleichzeitig unfassbar anziehend. Auf eine verführerische, geradezu erotische Art und Weise.

»Meditation?«, hakte er skeptisch nach. »Braucht man nicht viel Erfahrung, um da einen wirklich guten Effekt zu erzielen?«

»Es ist wie mit allen Dingen im Leben – man muss überall klein anfangen und viel üben …« Sie wollte mit ihm nicht über Meditation sprechen. Sie wollte ihn berühren. Richtig berühren, nicht nur seine Hand. Und sie wollte spüren, was in ihm vorging, aber vor allem wollte sie wissen, wie es sich anfühlte, wenn er in ihr … »O Gott.« Sie schnappte nach Luft, über sich selbst erschrocken, und schlug sich die Hand, mit der sie die ganze Zeit seine gehalten hatte, vor den Mund.

»Was ist los?«, fragte er alarmiert.

Sie schluckte. »Nichts. Sorry. Ich …« Muss mich jetzt ganz schnell wieder zusammenreißen! Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Was um Himmels willen war nur los mit ihr? Ein Freund war in Not, befand sich in einem Zustand größten emotionalen Aufruhrs – und sie dachte an Sex? Wohin hatte sich ihre legendäre Empathie verzogen? Sie, die fast immer ahnte, was ihr Gegenüber gerade am dringendsten brauchte, die durch genaues Zuhören, einen offenen Blick und eine Berührung herausfand, wie sie am besten helfen konnte – allein dadurch, dass sie die Bedürfnisse selbst fühlte … »O!« Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag, und ihr Herz klopfte auf einmal rasend schnell.

»Anna, du machst mir Angst«, lauteten die nächsten Worte aus Lennox’ Mund. Sie hörte sie laut und deutlich, doch ihr Unterbewusstsein verstand: Anna, ich brauche dich nackt in deinem Bett!

Die Luft zwischen ihnen knisterte plötzlich wie aufgeladen. Elvis schien das auch zu spüren, denn er sprang abrupt von Lennox’ Schoß, schenkte den beiden noch einen kurzen wissenden Blick und verzog sich dann mit buschig aufgestelltem Schwanz in die Küche, zu seinem Futternapf, in dem eine Portion Trockenfutter auf ihn wartete.

Anna konnte sich nicht daran erinnern, aufgestanden zu sein. Genauso wenig hatte sie bewusst mitbekommen, dass Lennox seinen Platz am Tisch verlassen hatte und ihr jetzt gegenüberstand. Was sie jedoch mit allen Nervenenden mitbekam, war, wie er mit seinen Fingern, die sich rau, aber warm anfühlten, eine Locke aus ihrem Gesicht strich und ihr mit Augen, die nun nicht mehr wütend-stürmisch schimmerten, sondern silbrig und aufgeregt, tief in die Seele blickte.

»Ja«, hauchte sie als Antwort auf seine unausgesprochene Frage, ob er sie küssen dürfe. Zentimeter für Zentimeter kamen seine sinnlichen Lippen den ihren näher. Gleich war es so weit. Gleich.

Nichts hätte sie darauf vorbereiten können, wie es sich anfühlte, ihn zu küssen, nicht einmal ihre intensive erste Berührung beim Yoga-Workshop. Sie hatte das Gefühl, nicht nur mit ihrem eigenen Körper wahrzunehmen, sondern auch mit seinem. Sie spürte ihre Lippen auf seinen, nicht nur seine auf den ihren. Das war doch gar nicht möglich, oder? Wo hörte ihre Zunge auf und fing seine an? War es ihr Unterleib, der sehnsüchtig pochte, oder seiner? War es ihre Hand, die sich unter den Pullover schlängelte, um nackte Haut zu ertasten, oder seine?

»Was passiert hier?«, keuchte jemand. Sie? Er? Beide? Anna konnte es nicht sagen. Vor allem hatte sie keine Antwort, und sie wollte auch nicht darüber nachdenken. Sie wollte nur weiter eintauchen in den Strudel der köstlichen Gefühle, die sie in dieser Intensität noch nie erlebt hatte. Am liebsten wäre sie in ihn hineingekrochen, um nicht nur seine warme Haut zu streicheln, die sich über straffen, sehnigen Muskeln spannte, sondern die Muskeln selbst, seine Knochen, seine Organe – alles.

»Bett oder Boden?« Diesmal war es eindeutig Lennox, der sprach und sie für einen Augenblick aus der süßen Trance löste.

»Bett!« Sie zog ihn mit sich und schob ihn den Flur entlang zur Schlafzimmertür, ehe sie selbst noch kurz im Bad verschwand und dort hektisch nach Kondomen suchte. Sie hatte zwar eine Spirale, aber ihre jahrelange medizinische Erfahrung hatte ihr Vorsicht eingebläut. Trotzdem fand sie es ganz erstaunlich, dass sie überhaupt noch denken konnte. Als sie die Packung gefunden hatte und die Tür des Spiegelschranks schloss, erschrak sie bei ihrem Anblick. Ihre Lippen waren vom Küssen geschwollen, die Wangen stark gerötet, und in ihren Augen spiegelte sich so viel ungezügelte Lust, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie war sich fremd, und gleichzeitig fühlte sie sich so echt und authentisch wie selten zuvor. Und deshalb schob sie den kleinen warnenden Hintergedanken in ihrem Kopf beiseite, der ihr einreden wollte, dass man Ausnahmesituationen wie diese nicht ausnutzen sollte.

Jetzt war die Zeit dafür, zu handeln, zu leben und zu fühlen – nachdenken und planen konnte sie später immer noch. Also schlüpfte sie rasch in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Auf keinen Fall wollte sie gleich Elvis als Mitspieler haben.

Lennox stand mitten im Raum – leider noch vollständig angezogen – und schaute sie erwartungsvoll an. Er hob mit einem fragenden Lächeln eine Braue, als er sah, wie sie den Schlüssel drehte.

»Elvis«, sagte sie nur und klang leicht atemlos. Sie zeigte ihm die Schachtel mit den Kondomen und legte sie auf den Nachttisch. »Zieh dich aus«, bat sie und streifte sich gleichzeitig den Pulli über den Kopf. Als sie dann auch noch aus ihrer Jeans schlüpfte und den BH öffnete, sog er heftig Luft ein und verabschiedete sich ebenfalls rasch von Pulli, T-Shirt, Hose und Boxershorts.

Anna hatte nicht viel Gelegenheit, sich an seinem Anblick zu weiden, denn er überbrückte die kurze Distanz zwischen ihnen mit zwei großen Schritten, und schon bei der ersten Berührung verabschiedete sich ihre Denkfähigkeit in die hinterste Zimmerecke. Von nun an übernahmen reine Lust und pures Gefühl das Regiment und stellten mit ihren Körpern Dinge an, die zumindest Anna niemals für möglich gehalten hätte.

Sie lernten sich mit allen Sinnen kennen – Anna hätte nicht sagen können, ob über Minuten, Stunden oder Jahrhunderte hinweg. Kurz nahm sie wahr, wie er nach den Kondomen tastete, gefolgt von einem Gefühl der Fülle und der Verschmelzung, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Das hier war kein Sex, jedenfalls nicht nach den Maßstäben ihrer bisherigen Erfahrung, das hier war eine tiefe Verbindung, ein uraltes Spiel aus Leidenschaft und schließlich ultimativer Erlösung.

Lennox fand als Erster die Sprache wieder. »Was war das denn?« Er klang immer noch leicht atemlos und sehr verwundert, als er die weiche Daunendecke über ihnen ausbreitete und Anna fest an sich zog.

»Ich habe keine Ahnung«, gab sie zu. Sie hatte ihr Gesicht in seiner Halsbeuge vergraben und atmete seinen Duft ein, der ihr vertraut und gleichzeitig ganz neu erschien. »Und ich weiß auch nicht, ob ich gerade darüber nachdenken kann oder will. Mein Gedankenkarussell ist jedenfalls vollständig zum Stillstand gekommen.«

Er brummte etwas, das wie Zustimmung klang, doch Anna hörte es kaum noch. Draußen dämmerte der Abend, und hier drinnen, in ihrem Schlafzimmer, versank sie in einem wohlig warmen Kokon aus tiefer Zuversicht, schläfriger Leidenschaftlichkeit – und Liebe.