NATURGEISTER

»VIELEN DANK, DAS WAR wirklich ein wundervolles Erlebnis«, sagte Celeste am frühen Sonntagnachmittag bei der Verabschiedung und umarmte Anna mit einem seligen Lächeln im Gesicht.

Auch Abby, Kieran und Maya waren entspannt, fröhlich und vielleicht sogar ein wenig glücklich. Der Workshop war überstanden, und er war nach den Anfangsschwierigkeiten ausgesprochen gut gelaufen. Trotzdem verspürte Anna nicht etwa Stolz auf sich, sondern vor allem tiefe Erleichterung, weil es endlich vorbei war.

Sie bereute die Entscheidung nicht, den Kurs anzubieten und durchzuziehen, aber sie hatte auch nicht das Bedürfnis, das Experiment so rasch zu wiederholen. Das Seminar hatte sie nicht nur mehrfach an ihre persönlichen Grenzen gebracht, sondern diese auch überschritten. Auch wenn sie den Teilnehmern laufend gepredigt hatte, dass man die eigenen Grenzen manchmal ausdehnen musste, um sich weiterzuentwickeln, blieb es doch eine sehr anstrengende Angelegenheit.

Ihre Gedanken kehrten wieder zu ihrem Kurzzeitgast Len zurück, von dem sie inzwischen wusste, dass er mit vollem Namen Lennox hieß und der einzige Fraser-Sprössling aus Kirkby war, den sie noch nicht kannte. Sie war überrascht gewesen, dass niemand davon gewusst hatte, dass Lennox nach Kirkby zurückgekehrt war, um an ihrem Kurs teilzunehmen. Nun ja, streng genommen konnte man auch gar nicht sagen, dass er am Workshop teilgenommen hatte, nachdem er kaum eine halbe Stunde nach seiner verspäteten Ankunft panisch geflohen war. Dieser Moment ging ihr nicht aus dem Kopf. Es war unfassbar intim und noch viel erschreckender gewesen. Es hatte sich für sie angefühlt, als hätte sie versehentlich seinen Schutzschild zerschmettert und ihn der Wucht des darauf folgenden Gefühlssturms ausgeliefert. Wenn es schon für sie so intensiv gewesen war, wollte sie sich gar nicht ausmalen, was er empfunden haben musste. Was er womöglich immer noch empfand. Sie wollte ihn gern um Verzeihung bitten, gleichzeitig wusste sie nicht, wofür genau – denn eigentlich hatte sie nichts Falsches gemacht.

Am Freitagabend hatte sie kurz mit Colleen telefoniert, die sich erkundigt hatte, was im Workshop vorgefallen war. Lennox hatte seiner Schwägerin gegenüber wohl nur erwähnt, dass es »nicht das Richtige« für ihn gewesen sei, und Anna selbst hatte auch nicht wesentlich mehr dazu beitragen können. Immerhin wusste sie, dass er in Islas Wohnung untergeschlüpft war und wohl noch ein Weilchen in Kirkby bleiben wollte. Vielleicht ergab sich ja die Gelegenheit, mit ihm zu reden. Morgen wollte sie auf jeden Fall mit Isla quatschen, denn die wusste mit Sicherheit mehr zu sagen, war aber wegen des Trubels um ihren zweiten Michelin-Stern und des üblichen harten Wochenendgeschäfts gerade nicht ansprechbar.

Sie räumte den Seminarraum auf und entfernte die letzten Spuren des Workshops. Am Dienstag würde hier wieder ihr üblicher Yogakurs stattfinden. Mutmaßlich ohne Dramen, Tränen und Offenbarungen, wie es sie in den letzten beiden Tagen gegeben hatte. Hoffentlich jedenfalls. Sie seufzte. Dafür, dass sie so viel Yoga gemacht hatte, fühlte sie sich gerade ziemlich verspannt. Spontan fielen ihr ein paar Übungen ein, mit denen das in den Griff kriegen könnte, aber im Moment zog sie nichts mehr auf die Matte. Stattdessen wollte sie das erstaunlich schöne Herbstwetter ausnutzen und eine kleine Wanderung machen. Das hatte gestern auch der Gruppe gutgetan. Sie war mit den vieren auf einen der Berge in der Nähe gestiegen, auf dessen Gipfel es einige große Steine gab. Historiker waren sich nicht sicher, ob dies eine antike Opferstätte oder eine Art Andachtsort war, auf jeden Fall boten die moosbewachsenen Findlinge reichlich Raum für blühende Fantasie. Bei diesen Steinen hatte Abby ihrer Freundin Celeste ihre Liebe gestanden.

Anna musste lächeln, als sie daran dachte – und auch daran, wie glücklich die beiden Frauen vorhin abgereist waren. Sie waren als alte Freundinnen angekommen und als brandneues Liebespaar weggefahren. Diese über Jahre verborgene, nicht eingestandene Liebe und Leidenschaft hatten wohl für die enorme Verkrampfung bei den beiden gesorgt, die Anna am Freitag wahrgenommen hatte. Kein Wunder, wenn man so lange gegen seine Natur ankämpfte. Das war eine wundervolle Auflösung gewesen. Auch Kieran hatte sich auf ihr Konzept einlassen können und hatte beim Abschied ebenfalls viel lockerer gewirkt, auch wenn er weiterhin für seine Frau gesprochen hatte: »Wir haben das Wunder der Passivität für uns entdeckt!«

Auweia. Da lag noch einiges im Argen bei der persönlichen Entwicklung, doch Anna hatte sich jeden Kommentar verbissen. Weder war Passivität der zentrale Kern ihrer Übungen, noch ging es um Wunder, aber Maya hatte ihr wissend zugezwinkert. Manche Beziehungen waren wohl ein wenig seltsam, Menschen waren es sowieso. Ihre persönliche Lektion lautete wie so oft, das Andersartige zu akzeptieren. Das schien überhaupt die Lernaufgabe ihres Lebens zu sein, und sie war dankbar, dass es ihr immer besser gelang.

Sie ging in den Materialraum, um die Yoga-Matten und die Decken zu verstauen. Da entdeckte sie unter der Sitzbank einen grau gemusterten dünnen Baumwollschal. Sie hob ihn auf, und ihr Herz machte einen irrationalen Stolperer. Dieser Schal gehörte ohne den geringsten Zweifel Len. Er hatte ihn bei seiner Ankunft nicht getragen, aber womöglich war er ihm beim Umziehen oder bei seinem überstürzten Aufbruch aus dem Rucksack gefallen. Sie drückte ihre Wange gegen das weiche Gewebe und schnupperte daran. Der Schal war offensichtlich frisch gewaschen, aber ganz diffus meinte sie seinen Geruch wahrzunehmen. »Campbell, jetzt drehst du langsam durch!«, schimpfte sie mit sich selbst. Ernsthaft – sein Geruch? Der war ihr während der kurzen Begegnung überhaupt nicht aufgefallen, aber anscheinend flippten ihre überreizten Sinne jetzt völlig aus.

Entschlossen steckte sie den Schal in ihre Umhängetasche und war schon drauf und dran, den Raum zu verlassen, als ihr Blick an etwas Rotem hängen blieb. Sie bückte sich und hob einen kleinen runden Button mit dem Logo des Fringe-Festivals auf. Sie liebte das alljährliche Kulturfestival in ihrer Heimatstadt Edinburgh, bei dem in jedem Sommer Hunderte Künstler – Theatergruppen und Musiker – auftraten. Dieses Jahr war sie zum ersten Mal, seit sie denken konnte, nicht dabei gewesen, was ihr in der Rückschau einen gehörigen Stich versetzte. Lennox schien es jedoch erlebt zu haben, vielleicht sogar als Musiker? Sie erinnerte sich an seinen abgewetzten Gitarrenkoffer und daran, dass Isla erzählt hatte, ihr Bruder verdinge sich als Straßenmusiker. Anna wusste nicht, was sie von all diesen neuen Erkenntnissen halten sollte, aber es war eine nicht zu leugnende Tatsache, dass der junge Mann mit dem markanten Gesicht und den düster umwölkten Augen sie in seinen Bann gezogen hatte.

Noch ein Grund mehr, schleunigst und ausführlich ihren Kopf zu lüften. Sie steckte den Button ebenfalls ein, verließ die Schule und ging die paar Schritte zu ihrem Haus. Als sie die Wohnung betrat, wurde sie von ihrem Kater regelrecht enthusiastisch begrüßt.

»Warum bist du nicht draußen, wenn es dir hier drin zu langweilig ist?«, fragte sie das Tier tadelnd, als ihr die umarrangierten und zum Teil attackierten Sofakissen auffielen. Eigentlich machte Elvis schon lange nichts mehr kaputt – es sei denn, er war sauer auf sie oder bekam nicht genügend Aufmerksamkeit von ihr. Beides traf auf die vergangenen Tage wohl zu. Immerhin schien er ihr inzwischen verziehen zu haben, denn er strich laut schnurrend um ihre Beine und rammte ihr dabei ein ums andere Mal seinen dicken Schädel gegen die Schienbeine. So konnte man Liebe und Zuneigung also auch zeigen. Zumindest wenn man ein Kater war.

»Ich zieh mir nur schnell etwas anderes an, dann machen wir einen Ausflug«, versprach sie und verschwand ins Schlafzimmer, wo sie das Yoga-Outfit gegen Jeans, Pulli und Wanderschuhe eintauschte und sicherheitshalber ihre dünne Wetterjacke darüberzog. Auch wenn die Sonne momentan golden und herbstsatt vom blauen Himmel schien, konnte sich das in den Highlands rasch ändern. Außerdem wusste sie noch nicht, wie lange sie unterwegs sein würden, und ging lieber auf Nummer sicher.

Kaum waren sie und Elvis aus dem Haus, stießen sie auf Betty Murray, die von allen Dorfbewohnern nur »Die Königin« genannt wurde, weil sie eine so imposante Erscheinung war. Die groß gewachsene, weißhaarige Frau war eine erfolgreiche Krimiautorin und ehemalige Investigativjournalistin. Zusammen mit Marlin Fraser – dem Vater von Isla und Lennox – und Pfarrer Jack McTavish bildete sie eine Achse der Information im Ort. Schnippische Zungen bezeichneten die drei als Seniorenklatschzentrale von Kirkby. Eine ähnliche Funktion – wenn auch in der nächstjüngeren Generation – hatten Colleen, Bürgermeister Collum McDonald und Jon, der Wirt des Wise Pelican. Diesen sechs Leuten entging nichts. Daher war Anna auch nur wenig überrascht, als Betty sie direkt auf Lennox ansprach: »Was hältst du von Kirkbys verlorenem Sohn?«

»Von wem redest du?«, stellte sie sich bewusst dumm, denn sie wollte vermeiden, dass sie zu interessiert wirkte.

»Du weißt genau, wen ich meine. Lennox Fraser, der mehr als drei Jahre lang nicht mehr in Kirkby war, nur um dann ausgerechnet bei deinem ersten Workshop aufzutauchen.«

Anna machte sich gar nicht erst die Mühe, nachzufragen, woher genau Betty diese Information hatte, denn schließlich waren seit dem fraglichen Aufeinandertreffen schon fast achtundvierzig Stunden vergangen. Da wäre es interessanter gewesen, herauszufinden, wer im Ort noch nicht davon wusste. »Ich schätze mal, das war ein Zufall«, behauptete sie, obwohl sie nicht an Zufälle glaubte.

»Ein Zufall? Schätzchen, das nimmst du dir doch selbst nicht ab. Kennt ihr euch schon länger? Vielleicht aus Edinburgh? Es wäre ja nichts dabei – außer dass wir es dir alle übel nehmen würden, dass du nie etwas verraten hast.«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht!«, beeilte sich Anna zu betonen. »Ich schätze mal, er ist wie die anderen Teilnehmer durch meinen Podcast auf den Workshop aufmerksam geworden. Warum er sich aber angemeldet hat, obwohl er mit Yoga nichts anfangen kann, entzieht sich meiner Kenntnis.« Oder mit mir nichts anfangen kann, fügte sie in Gedanken hinzu. »Das müsstest du ihn selbst fragen.«

»Das habe ich vor, meine Liebe. Darauf kannst du wetten.« Betty grinste verschmitzt. »Ich bin gespannt, was Marlin dazu sagt. Der fällt aus allen Wolken, wenn er seinen Sprössling sieht.«

»Er weiß doch garantiert schon Bescheid. Irgendjemand wird ihn oder Shona angerufen haben.«

»Vermutlich«, gab Betty zu. »Aber trotzdem wird es spannend, Vater und Sohn miteinander zu erleben. Nach allem, was man so hört, haben die beiden nicht das beste Verhältnis zueinander.«

»Nach allem, was man so hört? Ich dachte, dass du und Marlin ganz dicke wärt und alles voneinander wüsstet.« Anna war ernsthaft überrascht.

»Jeder von uns hat dunkle Geheimnisse«, erwiderte die ältere Frau nebulös und blickte kurz gedankenverloren in die Ferne, dann fasste sie sich wieder und lächelte Anna fröhlich an. »Aber ich werde herausfinden, was dahintersteckt.«

»Daran habe ich keinen Zweifel.«

»Was haben dein schmucker Begleiter und du heute noch vor?«, wechselte Betty abrupt das Thema – auch dank Elvis, der gerade um ihre Beine herumstrich.

»Ich wollte eine kleine Wanderung machen, um meinen Kopf auszulüften«, antwortete Anna wahrheitsgemäß. »Die letzten Tage waren doch etwas anstrengend. Außerdem will ich das Wetter ausnutzen. Unwahrscheinlich, dass es noch lange so schön bleibt.«

»Dann viel Spaß und noch mehr Inspiration. Ich schau jetzt mal, ob ich Lennox finde und ein paar Antworten auf die drängendsten Fragen kriege.« Bettys blaue Augen blitzten unternehmungslustig, und Anna bekam fast Mitleid mit dem armen Kerl.

Elvis und sie bogen bei der Kirche ab, liefen am Friedhof vorbei in ein kleines Waldstück und dann in einem weiten Bogen um das imposante Herrenhaus Monroe Manor herum, das von dem etwas exzentrischen George Stewart und seiner Frau Heather bewohnt wurde, die wiederum die jüngere Schwester von Marlin Fraser war. Gefühlt war der halbe Ort miteinander verwandt, verschwägert, befreundet – oder verfeindet.

In dem Dreivierteljahr, seit Anna in Kirkby lebte, hatte sie längst noch nicht alle diese verstrickten Beziehungen entschlüsselt, aber sie musste zugeben, dass solche Strukturen eine enorme Faszination auf sie ausübten. Sie selbst war ohne nennenswerte Familie aufgewachsen. Ihren Vater kannte sie gar nicht, und ihre Mutter, die sie mit sechzehn zur Welt gebracht hatte, war mit achtzehn an einer Überdosis Heroin gestorben. Anna hatte die ersten Jahre ihres Lebens wechselweise bei ihrer mit sich selbst überforderten Tante oder in diversen Pflegefamilien verbracht, bis sie mit vierzehn in eine betreute Wohngruppe von verhaltensauffälligen Jugendlichen gekommen war. So unwahrscheinlich das auch klang, aber das war ihre Rettung gewesen.

Diese Kinder waren zu ihrer Familie geworden, zu ihren besten Freunden und Wegbegleitern. Gemeinsam – und auch dank der sehr engagierten Betreuer – hatten sie sich aus ihren Herkunftssümpfen herausgearbeitet und waren erfolgreich ins Erwachsenenleben gestartet. Anna wusste, dass sie Glück gehabt hatte – oder ihren inneren Glücksbrunnen rechtzeitig hatte anzapfen können –, und sie war dankbar für ihre Herzensfamilie. Doch ab und zu wünschte sie sich insgeheim, dass auch sie einer großen, chaotischen und sicherlich manchmal schwierigen Familie wie den Frasers angehören würde. Immerhin war sie nun Teil dieser Dorfgemeinschaft, die sie herzlich aufgenommen und fast von Anfang an als eine der Ihren akzeptiert hatte.

Sie und ihren verrückten Kater, der die Umstellung vom reinen Stadtstubentiger zum ziemlich unabhängigen Dorfcasanova ohne Probleme hinbekommen hatte – und das, obwohl Katzen doch angeblich so unflexibel waren. Nun ja, Elvis war schon immer anders gewesen als die meisten Katzen. Gerade stromerte er mit hoch aufgerichtetem Schwanz einige Meter entfernt neben ihr durch die Natur und benahm sich eher wie ein Hund als wie ein typischer Vertreter seiner Art.

Der Pfad, auf dem sie lief, machte eine Linkskurve und führte nun einen bewaldeten Hügel hinauf, hinter dem sich ihr absoluter Lieblingsplatz in der näheren Umgebung von Kirkby befand. Mitten im Wald gab es hier eine kleine Quelle, umrahmt von uralten, verwitterten Steinen. Laut Pfarrer McTavish handelte es sich dabei um eine vorchristliche Andachtsstelle. Das glaubte Anna sofort, denn auch sie spürte die besondere Energie, die dieser magische Platz ausstrahlte. Es war ihr absoluter Kraftort, an dem sie immer auftanken konnte.

Elvis erahnte offenbar das Ziel des Ausflugs, denn plötzlich legte er einen Zahn zu und huschte in Richtung der Quelle davon. Anna wusste nicht, ob auch der Kater einen Sinn für positive Energie hatte oder ob er einfach nur darauf hoffte, im Wasser Kaulquappen zu fangen, womit er sich im Frühsommer ausführlich amüsiert hatte. Sie selbst ging in gemächlichem Tempo weiter und kostete die Vorfreude aus. Der Hügel war erklommen, jetzt war es nur noch ein kurzes Stück bis zur Quelle. Sie hörte schon das leise Plätschern des Bächleins, das dort entsprang – und noch etwas anderes.

Musik?! Zarte, wie vom Wind zerrissene Töne voller Melancholie. Ihr Herz schlug mit einem Mal schneller. Sie hatte zwei uralte Patienten, die ihr immer von ihren Erlebnissen mit den angeblich ortsansässigen Naturgeistern erzählten – von Feen, Elfen oder sonstigen Wesenheiten, die der schottischen Mythenwelt entsprungen waren und deren Namen sich Anna nicht merken konnte. Angeblich lebte auch im Dorfweiher Loch Leary ein mysteriöses Wasserpferd, das es auf Kinder abgesehen hatte. Bisher hatte sie über diese Geschichten nur gelächelt. In ihrer Vorstellung gab es keine übersinnlichen Wesen, sondern lediglich Dinge, die sich Menschen nicht so einfach erklären konnten. Wobei sie zugeben musste, dass das manchmal auf dasselbe hinauslief.

Konnte das nun tatsächlich der Gesang einer Quellnymphe sein? Die Musik war nun immer besser zu hören, und die Stimme war eindeutig tief und dunkel. Gab es auch männliche Nymphen? Irgendwie stellte sie sich dabei stets leicht geschürzte Damen vor, die es darauf anlegten, Menschen zu verführen.

Der Wald war hier ziemlich dicht, sodass sie sehr nahe kommen musste, bis sie etwas erkennen konnte. Unwillkürlich wurde sie langsamer und achtete darauf, keine unnötigen Geräusche zu machen. Der weiche, moosbewachsene Boden schluckte all ihre Schritte. Nach einigen Metern erreichte sie eine Stelle, von der aus sie einen guten Blick auf die Quelle hatte, ohne selbst gesehen zu werden. Vorsichtig spähte sie durch die Blätter und schnappte hörbar nach Luft. Auf einem der Steine, die die Quelle umfriedeten, genauer gesagt auf ihrem Lieblingsstein, saß Lennox Fraser mit seiner Gitarre und sang ein wunderbares Lied, das ihr genauso ins Herz fuhr wie seine ungebremste Gefühlswelle vor zwei Tagen. Und als würde das noch nicht reichen, hatte sich Elvis vor ihn gesetzt und himmelte ihn regelrecht an.

Anna wusste nicht, was sie tun sollte. Eigentlich hatte sie ja auf eine Gelegenheit gehofft, mit Lennox zu sprechen, und hier im Wald würden sie obendrein auch nicht von etwaigen neugierigen Dörflern gestört werden. Doch gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass sie sich nicht bemerkbar machen durfte, weil sie sonst etwas ganz Persönliches und Intimes unterbrechen würde. Seine Stimme war wunderschön, und die Melodie ging ihr derart unter die Haut, dass sie beinahe doch an übersinnliche Wesen glaubte. Das konnte nicht von einem irdischen Mann kommen. Schwankend zwischen den widerstreitenden Impulsen, zu bleiben oder zu gehen, riss sie sich schließlich los und hastete zurück, den Hügel hinauf. Ihr war plötzlich egal, ob er etwas hörte oder nicht, schließlich konnte er ja nicht wissen, wer der Störenfried war.

Was sie allerdings über Gebühr irritierte, war das Verhalten ihrer Katze. Elvis war ein freundliches Tier und mochte fast alle Menschen, aber er war auch eine treue Seele, und wenn sie gemeinsam loszogen, gingen sie auch gemeinsam wieder nach Hause. Das war ihre unausgesprochene Übereinkunft, selbst wenn die Motivation bei Elvis sicher hauptsächlich auf Annas Fähigkeit beruhte, Dosen zu öffnen. Doch diesmal blieb der Kater zurück. Selbst als sie oben auf dem Hügel einen schrillen Pfiff ausstieß, der ihn sonst immer anlockte, passierte nichts, außer dass sie eine empörte Antwort von zwei aufgeschreckten Krähen erntete.

Statt mit ausgelüftetem Kopf und neuer Energie kam Anna an diesem Sonntag mit noch wirreren Gedanken und einem gewaltig aus dem Lot geratenen Seelenfrieden nach Hause.

• • •

Katzen waren so gar nicht seine Welt. Lennox war mit Hunden, Pferden und Schafen aufgewachsen, aber Katzen hatten bei Familie Fraser keine nennenswerte Rolle gespielt – höchstens als halbwilde Stallbewohner, die im Gestüt seines Onkels Rupert die Mäusepopulation unter Kontrolle hielten. Es war nicht so, dass er Katzen nicht mochte, nur hatte er sich nie nennenswert mit ihnen auseinandergesetzt. Doch jetzt war wie aus dem Nichts dieser gigantische Kater aufgetaucht und hörte ihm nun schon seit einer geschlagenen Stunde beim Komponieren zu.

Er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass ihm etwas einfallen könnte, als er sich heute Mittag auf den Weg zur Quelle gemacht hatte. Er hatte seit Wochen keinen neuen Song mehr zustande gebracht. Nein, genauer gesagt schon seit Monaten. Dieser Zustand hatte ihm richtig Angst gemacht, denn dass er es nicht schaffte, seine Musik zu fühlen, war überhaupt noch nie passiert. Nicht dass es grundsätzlich einen Unterschied machte, es gab niemanden, der sich ernsthaft für seine Musik interessierte. Wobei, das war ungerecht. Auf den Festivals, auf denen er spielte, konnte er immer eine ganze Reihe Menschen in seinen Bann ziehen. Mit seinen eigenen Songs genauso wie mit den Coverversionen alter Achtzigerjahre-Britpop-Hits, die er so liebte. Er bekam auch durchaus Angebote und hätte einmal fast einen Plattenvertrag bei einem großen Label unterschrieben. Doch erstens waren die Vertragsbedingungen unterirdisch gewesen, und zweitens hatte ihm niemand völlige künstlerische Freiheit garantieren wollen, also hatte er dieses Angebot in den Wind geschossen.

Seine Kumpels, mit denen er Musik machte, hatten das nicht verstanden. Sie hatten ihn dazu gedrängt, diese Chance zu nutzen. Hätte er erst seinen Fuß in der Tür, so ihre Theorie, könnte er später seine Bedingungen diktieren. Er schüttelte bei dem Gedanken daran immer noch den Kopf. Das waren naive Annahmen von Künstlern, die sich nicht für Vertragsrecht interessierten. Er selbst tat das eigentlich auch nicht, aber seine fünf Semester Jura halfen ihm immerhin dabei, die Texte zu verstehen und die Konsequenzen der Klauseln zu begreifen. Ein Fuß in der Tür interessierte die Rechtsabteilungen der Labels überhaupt nicht. Im Zweifel hatten sie eher Formulierungen in die Verträge eingebaut, die für Köpfe in Schlingen sorgten, wenn die Künstler zu eigensinnig wurden. Nein, das war nicht sein Weg.

Das Problem war, dass er auch mit seinen fast dreißig Jahren keine Ahnung hatte, was sein Weg war und wohin er führen sollte. »Du bist ein Glückskind!« Wie oft hatte er diesen Satz in seiner Kindheit und Jugend gehört? Immer dann, wenn seine überdurchschnittliche Intelligenz und seine vielseitigen Talente zum Vorschein gekommen waren. Doch stets Klassenbester zu sein, Erfolge in allen Sportarten zu feiern, sich selbst Klavier und Gitarre beizubringen und auch noch bei allen beliebt zu sein, war auch eine Last und schützte nicht vor der seltsamen Leere im Herzen, die ihn seit frühester Kindheit quälte. Er fühlte sich der selten konkret ausgesprochenen Erwartung, dass er etwas Großes leisten würde, bis heute nicht gewachsen.

Er hatte es mit Jura, Astrophysik und sogar Philosophie versucht, aber kein Studium hatte ihn so gefesselt, dass er es abschließen wollte. Musik wäre mit Sicherheit der beste Weg für sein Leben gewesen. Erst ein richtiges Musikstudium und dann vielleicht professionelle Kontakte in der Branche. Doch das war mit seinem Vater nicht zu machen gewesen. Marlin Fraser, der all seine Kinder nach Kräften finanziell, ideell und emotional unterstützt hatte, zog ausgerechnet beim Thema Musik eine harte Linie. Warum, das wusste Lennox bis heute nicht, und inzwischen interessierte es ihn auch nicht mehr sonderlich, denn er und sein Dad, das hatte noch nie wirklich funktioniert. Vermutlich war das normal, in jeder Familie gab es doch schwarze Schafe, die überall aneckten, oder? Nur warum fühlte es sich dann so unendlich scheiße an?

Diesem Gedanken wollte er jetzt aber nicht weiter nachhängen. Vielmehr freute er sich, dass seine Kreativität wieder floss. Schon früher als Kind war er oft zu dieser Quelle gekommen und hatte hier stundenlang ausgeharrt, wenn ihm zu Hause mal wieder die Decke auf den Kopf gefallen war. Hier hatte er sich immer getröstet und inspiriert gefühlt. Wenn er sich richtig erinnerte, war ihm auch die Melodie zu seinem allerersten eigenen Song an diesem Ort eingefallen.

Daran hatte er heute Vormittag gedacht, als er in der Küche von Harriswood House beim großen Familienfrühstück gesessen hatte – mit seinem ältesten Bruder Alex, seinem Neffen Aidan, Colleen, Tante Alice und seinen Cousinen Kristie und Hailey. Für eine halbe Stunde war auch Isla vorbeigekommen, ehe sie wieder in ihr Restaurant gemusst hatte, um sich um das Mittagsgeschäft zu kümmern. Alle schienen sich aufrichtig zu freuen, dass Lennox wieder in Kirkby war, und alle schienen davon auszugehen, dass er auch bleiben würde. Woher auch immer sie diesen Gedanken hatten. Er selbst konnte es sich jedenfalls nicht vorstellen. Was sollte er hier tun? In diesem Ort gab es rein gar nichts, was er machen konnte – auch wenn Kristie allen Ernstes vorgeschlagen hatte, eine Band für die diversen Dorfpartys, Cèilidhs und Highland-Dancing-Events zu gründen. Zu tun hätte er damit angeblich genug. Und wenn ihm immer noch langweilig wäre, könnte er ihr ja tagsüber in der Backstube helfen.

Er musste unwillkürlich grinsen, als er daran dachte. Als Kinder hatten er und Kristie immer mit ihrer Großmutter gebacken, aus deren Küche das mit Abstand beste Shortbread der Welt stammte. Er konnte es beurteilen, denn er hatte sich praktisch im Alleingang durch alle Sorten gefuttert, derer er habhaft werden konnte. Immer auf der Suche nach dem einzigartigen Geschmack und der perfekten Konsistenz, wie sie nur seine Granny draufgehabt hatte. Zu seiner Überraschung war Kristie von einer ähnlichen Obsession befallen und experimentierte nun in der Backstube mit alten Rezepten. Leider hatte Granny ihr eigenes Rezept mit ins Grab genommen. Sie hatte es nie aufgeschrieben, sondern die Zutaten immer nach Gefühl gemixt. Kristie hatte ihm eine Kostprobe ihrer aktuellen Shortbread-Variante mitgebracht, und es war verdammt nahe dran. Aber immer noch nicht ganz perfekt, wie sie selbst zugab.

Irgendwann in den nächsten Tagen wollte er sie mal nachmittags in der Old Bakery besuchen und mit ihr zusammen das Geheimnis lüften. Er freute sich darauf, auch wenn er nicht wirklich wusste, ob er in ein paar Tagen überhaupt noch hier sein würde – siehe Problem eins: Was sollte er in Kirkby machen?

Heute Abend würden sein Vater und Shona aus Edinburgh zurückkehren, und während er sich auf seine kleine Schwester freute, waren seine Gefühle seinem Dad gegenüber eher zweischneidig. Wie würde sein alter Herr reagieren? Wie lange würde es dauern, bis es wieder knallte? Und sollte er nicht einfach mal darüberstehen? Himmel, er war ein erwachsener Mann und nicht abhängig vom Urteil seines Vaters, der die grandiosen Errungenschaften seiner drei anderen Sprösslinge voller Wonne pries. Nein, wenn er wollte, konnte er einfach hierbleiben und Zeit mit seinen Geschwistern und der übrigen Verwandtschaft verbringen, die nämlich wirklich froh war, ihn bei sich zu haben.

Er freute sich auf morgen, wenn Isla freihatte und sie endlich mal in Ruhe über alles quatschen konnten. Dann würde er auch den sagenhaften Jon besser kennenlernen, der das Herz seiner Schwester und dem Vernehmen nach der ganzen Dorfgemeinschaft erobert hatte.

»Zu wem gehörst du eigentlich?«, fragte er schließlich den Kater, der nach wie vor nicht von seiner Seite wich, obwohl er jetzt schon minutenlang nicht mehr spielte, sondern seinen Gedanken nachhing.

Das Tier legte den Kopf schräg, und Lennox hätte sich nicht gewundert, wenn es auch noch gesprochen hätte. Vielleicht war das gar keine richtige Katze, sondern irgendein Naturgeist, der ihm eine wichtige Mitteilung machen wollte? Oder eine geheimnisvolle Botschaft überbringen? Oder der einen Lottogewinn verkünden würde? Er lachte laut auf. Das wäre mal wirklich eine Story.

»Nein, ernsthaft, Kater. Du siehst nicht so aus, als wärst du ein Streuner oder eine Wildkatze. Du siehst aus, als würdest du dich jeden Tag über gut gefüllte Näpfe und ein warmes Bett freuen. Also raus mit der Sprache, wo wohnst du, und was willst du von mir?«

Als eine Antwort erneut ausblieb, nahm Lennox die Gitarre wieder zur Hand. Ihm war die Idee zu einem weiteren Song gekommen. Er drückte auf den Aufnahmeknopf an seinem Handy und zeichnete auch diese Melodie auf. Einen Text hatte er noch nicht, stattdessen sang er unsinniges Kauderwelsch vor sich hin, bei dem die Begriffe »fetter Riesenkater« und »Lottogewinn« eine zentrale Rolle spielten. Das Tier schien es nicht persönlich zu nehmen, sondern lauschte ihm erneut mit gebannter Aufmerksamkeit, und er selbst fühlte sich plötzlich vergnügt und leicht. Zumindest wusste er, was er heute Abend tun würde: erst ein leckeres Abendessen bei Isla schnorren und dann weiter an seinen drei neuen Songs feilen. Drei! Das war eine Glückszahl, oder? Mit diesem Gedanken im Kopf steckte er sein Telefon in die Jackentasche, packte die Gitarre in ihren Koffer und schnallte ihn sich auf den Rücken.

Es war ein kleiner Plan, aber ein guter – und seit langer Zeit der erste, der sich richtig anfühlte.

»Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich geh jetzt nach Hause«, teilte er dem Kater mit und streichelte ihm den weichen Kopf. Dafür erntete er einen letzten tiefen Blick aus den bernsteinfarbenen Augen, und dann verschwand das Tier wie ein Geist im dämmrigen Wald.