Eigentlich war nichts dagegen einzuwenden, unter einem blauweiß gestreiften Sonnenschirm neben einem zur Hälfte mit Vespas gefüllten Schuppen zu sitzen und von einem Mann zu träumen. Es vertreibt die Zeit, fand Serena. Es hielt geistig fit … und körperlich auch. Die Brise, die in ihrem Haar spielte, erinnerte sie an Petes Hände. Die Sonne auf ihrer Haut an die Wärme seines Körpers. Bald würde sie endlich wieder in seinen Armen liegen. So war es jedenfalls geplant. Nun musste sie nur noch einen Weg finden, zu ihm zu kommen, ohne Schande über ihre Familie zu bringen.
Nico brachte ihr Mittagessen heute etwas später als sonst. Er wirkte müde, kleinlaut. Als trage er die Last der ganzen Welt auf den Schultern, und noch mehr. Er reichte ihr die Tagespost und ihre Lunchbox, wie immer, und ließ sich auf den Stuhl neben ihr sinken.
„Chloe hat heute Morgen am Anleger gewartet, als die Boote einliefen“, sagte er schließlich.
Das klang vielversprechend. „Daran sind bestimmt die im Mondschein gepflückten Rosen schuld.“
„Sam ist nicht in der Schule.“
Das klang gar nicht vielversprechend.
„Also dachte sie, er wartet vielleicht am Hafen auf die Boote. Auf mich. Aber er war nicht dort.“
„Oh.“
„Chloe hat mir erzählt, was sie über seine Mutter gesagt hat. Sie befürchtet, dass Sam etwas davon mitbekommen hat.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das ungekämmte Haar. „Ein paar von seinen Kleidern sind verschwunden. Seine Portemonnaie …
Chloe glaubt, er ist fortgelaufen.“
„Wohin?“
Nico zuckte hilflos die Schultern. „Ich habe am Fähranleger gefragt, am Fahrkartenschalter. Er hat keine Fahrkarte gekauft, niemand hat ihn eine Fähre besteigen sehen. Wahrscheinlich ist er noch auf der Insel. Ich dachte, ich nehme eine Vespa und suche ihn. Er ist wahrscheinlich nur schwimmen und spazieren gegangen. Das macht er manchmal. Ausbüxen. Wahrscheinlich ist alles halb so wild.“
Serena nickte. „Ja. Der kommt schon wieder.“ Sie blickte den Berg hinauf, blickte über das Meer. „Aber wo kann er nur sein?“
Am Nachmittag standen alle Vespas bis auf die, die Nico genommen hatte, wieder im Schuppen. Keiner von Serenas Kunden hatte Sam gesehen. Laut Chloe hatte keiner Sam gesehen, und Serena beschloss, den Laden für den Rest des Tages zu schließen.
Chloe half ihr.
Als Nico zurückkam und ihnen erzählte, dass ein Katamaran fehlte, begann Chloe leise zu weinen. Nicos stand unentschlossen daneben, bis er sie schließlich in seine Arme zog.
„Nicht ganz, wie ich es mir vorgestellt habe“, murmelte er sanft in ihr Ohr. „Nicht ganz der Anlass, den ich mir vorgestellt habe.“
Chloe lachte unter Tränen, ein erstickter, gepresster Laut, und schlang die Arme um ihn.
„Glaubst du, dass Sam den Katamaran genommen hat?“, fragte Serena ihn leise.
„Der ist zu groß für ihn, Serena. Wenn er umkippt, kriegt er das Segel nie wieder hoch.“ Nico blickte auf das Meer hinaus. „Der Wind kommt aus Nordost. Ich nehme Theos Schnellboot. Wenn Sam den Katamaran genommen hat, kann er nicht weit gekommen sein.“ Er gab ihnen hastig Theos Funkfrequenz, die Serena sich auf die Hand kritzelte.
„Ich komme mit dir, Nico“, sagte Chloe mit bebender Stimme.
„Nein.“ Er strich ihr sanft das Haar aus dem Gesicht. „Du suchst hier weiter. Hör dich um. Bitte Marianne Papadopoulos um Hilfe.“
„Die habe ich schon angerufen“, murmelte Chloe. „Ich habe jeden Einzelnen auf dieser Insel angerufen. Es ist niemand mehr übrig, bei dem ich noch nachfragen könnte.“
Vielleicht nicht auf dieser Insel. Serena griff nach ihrem Handy und suchte nach einer neuerdings vertrauten Nummer. Nicos Blick traf ihren, als sie das Telefon ans Ohr hielt, und er nickte kaum merklich. Er wusste, was sie vorhatte. Sie rief Pete an.
„Wo bist du?“, sagte sie, als er antwortete.
„Kos“, erwiderte er fröhlich. „Bitte sag, dass du gleich in einem himmelblauen Kleid dieses Restaurant betrittst.“
„Sam ist verschwunden“, erklärte sie unumwunden.
Pete schwieg. Auch Serena schwieg und ließ ihm Zeit, die Situation zu begreifen und die Richtung zu ändern. Und das tat er. In weniger als einer Sekunde wandelte er sich vom Geliebten zum Krieger und erntete dafür ihre grenzenlose Bewunderung. „Habt ihr die Polizei benachrichtigt?“
„Das macht Chloe gleich. Er ist noch nicht lange fort, erst ein paar Stunden, aber Chloe macht sich große Sorgen. Wir alle machen uns Sorgen.“ Dann rückte sie mit der Hiobsbotschaft heraus. „Nicos Katamaran ist auch verschwunden.“
„Wo ist Nico?“
„Auf dem Weg zum Hafen. Er will mit Theos Schnellboot nach ihm suchen.“
„Wie ist seine Funkfrequenz?“
Sie gab sie ihm, und auch Nicos Handynummer.
„Gib ihm meine“ sagte Chloe nervös, und Serena gab ihm auch die.
„Pete …“
„Bleib mit Nico in Kontakt“, sagte er. „Versucht, andere Boote zu kontaktieren, von denen ihr wisst, dass sie in der Nähe unterwegs sind. Fähren, Fischerboote, Charterboote. Konzentriert euch darauf, den Katamaran zu finden.“
„Wie schnell kannst du hier sein?“ Sie wollte, dass er da war. Sie brauchte ihn. Sie alle brauchten ihn.
„Bald.“
Serena war sich noch nie in ihrem ganzen Leben so hilflos vorgekommen. Sie und Chloe waren mit einer Vespa die benachbarten Strände abgefahren, hatten aber keine Spur von Sam gefunden. Nach einer Stunde vergeblichen Suchens beschlossen sie, ins Dorf zu Marianne Papadopoulos’ Laden zu fahren. Bei der alten Frau liefen alle Fäden zusammen. Wenn jemand die Leute mobilisieren konnte, nach Sam zu suchen, dann sie.
Und sie tat es. Mit der Effizienz eines Generals rekrutierte Marianne Papadopoulos ihre Truppen und schickte sie los. Theo kontaktierte sämtliche Boote in der Nähe. Andere organisierten Suchtrupps an Land. Es war noch früh, beruhigte sie Chloe. Wenn er auf dem Meer war, würde Nico ihn finden. Sie sprach nicht aus, was alle dachten. Dass das Meer für einen Jungen aus der Stadt wie Sam gefährlich war und dass sie ihn vielleicht niemals finden würden, wenn ihm etwas zugestoßen sein sollte …
Chloe war zu angespannt, um etwas zu essen. Chloe trank nur Kaffee. Serena bekam keinen Kaffee herunter und hielt sich stattdessen an den Kuchen. Jeder nach seiner Fasson.
Marianne Papadopoulos war die Erste, die den Hubschrauber hörte.
„Du hast Tomas’ Piloten angerufen?“, fragte sie Serena rundheraus. „Der, mit dem du dich seit einigen Wochen herumtreibst?“
„Wir treiben uns nicht herum“, sagte sie trotzig. „Wir lernen uns näher kennen, und ja, ich habe ihn angerufen.“
„Braves Mädchen“, sagte Marianne. „Da kommt er.“
„Wir müssen los“, befahl Serena ihrer Freundin und nahm Chloe die halbvolle Kaffeetasse aus der Hand. „Pete ist da.“ Und zu der alten Frau sagte sie: „Hast du unsere Nummern? Hast du Nicos Nummer?“
„Ich brauche nur noch die Funkfrequenz des jungen Mannes, dann habe ich alles!“ Marianne reichte ihr eine Kuchenschachtel. „Falls ihr Hunger bekommt“, erklärte sie. „Falls ihr Hoffnung braucht.“
„Habt ihr ihn gefunden?“, waren Petes erste Worte, als er aus dem Hubschrauber stieg.
Serena schüttelte den Kopf.
„Ich muss tanken“, waren seine zweiten. „In fünf Minuten sind wir in der Luft. Steigt ein.“ Er verlor keine Zeit, doch er gab Chloe einen Kuss auf die Stirn, als er ihr einen Platz hinter dem Cockpit zuwies. Serena kletterte auf den Sitz neben ihm. „Ich bin froh, dass du angerufen hast!“
„Ich bin froh, dass du gekommen bist.“
„Wer koordiniert die Suche am Boden?“
„Marianne Papadopoulos. Sie will deine Kontaktdaten.“
„Die bekommt sie. Ich habe schon mit Nico gesprochen. Er konzentriert seine Suche auf den nordöstlichen Korridor. Wir werden die Suche ausdehnen.“
Er funkte Mrs. Papadopoulos an, gab Serena eine Karte und bat sie, ein Gitter darauf zu zeichnen. Er startete den Hubschrauber, erklärte ihnen das Muster, nach dem sie vorgehen würden, und wie sie die See unter sich am besten absuchten, ohne die Augen zu überanstrengen oder müde zu werden. Sein Optimismus beruhigte und wirkte motivierend.
Wie selbstverständlich übernahm Seenotrettungshubschrauberpilot Pete Bennett das Kommando.
Sie suchten eine Ewigkeit, bis der Hubschrauber aufgetankt werden musste. Nachdem sie gelandet waren, empfahl Pete ihnen, etwas zu trinken und Kuchen zu essen, und bat Theo, Scheinwerfer aufzutreiben, die er beim nächsten Stopp als Suchscheinwerfer am Hubschrauber befestigen wollte. Wenn sie Sam nicht bald fanden, würden sie im Dunkeln weitersuchen müssen.
Es waren nur noch zwei Stunden bis zum Sonnenuntergang, als sie starteten.
Nach und nach schraffierte Serena die kleinen Kästchen auf der Landkarte auf ihrem Schoß und suchte auf dem Wasser nach Spuren von Nicos Katamaran, nach Spuren von Sam. Erfolglos.
Der Wind nahm zu, als der Tag sich dem Ende neigte. Auf den Wellen bildeten sich kleine Schaumkronen, und die Dämmerung setzte ein, was die Suche nach kleinen Jungen auf dem Wasser erschwerte. Serenas Augen fühlten sich trocken an und brannten, doch sie hörte nicht auf zu suchen. Niemand tat das.
Es fühlte sich an, als seien Stunden vergangen, als Chloe sich hinter ihnen rührte. „Da“, sagte sie, und man hörte ihr die Erschöpfung an. „Da drüben ist etwas.“ Mit „da drüben“ meinte sie westlich, vor der untergehenden Sonne. Mit „etwas“ meinte Chloe einen kleinen weißen Fleck, den Serena kaum erkennen konnte.
„Ich sehe es“, sagte Pete, und etwas in seiner Stimme ließ Serena senkrecht sitzen und den Atem anhalten. Sie änderten die Richtung und flogen im Sinkflug auf die Stelle zu. Noch ehe Serena den Umriss eines Segels im Wasser und eine kleine Gestalt, die sich an den Rumpf eines gekenterten Katamarans klammerte, erkennen konnte, gab Pete bereits die Koordinaten über Funk an Nico weiter.
„Er ist es. Wir haben ihn gefunden!“
„Er bewegt sich nicht“, rief Chloe in diesem Moment mit Panik in der Stimme und nestelte an ihrem Sicherheitsgurt herum. „Er ist verletzt. Sein Kopf ist ganz blutig!“
Pete flog den Hubschrauber näher heran, um besser sehen zu können. Sam durfte den Schiffsrumpf auf keinen Fall loslassen. Der Krach hätte den Jungen aufschrecken müssen, ebenso wie die vom Hubschrauber aufgepeitschte See … Nicht zu nah, nicht zu nah …
„Seine Hand hat sich bewegt“, murmelte Serena.
Sie hat sich nicht bewegt, dachte Pete grimmig. Sie ist abgerutscht.
„Er lässt los“, sagte Chloe, zerrte eine Rettungsweste unter ihrem Sitz hervor und öffnete die Tür.
„Was machst du da?“ Pete fuhr herum und starrte sie an.
„Chloe …“, begann Serena und löste ebenfalls ihren Sicherheitsgurt.
Chloe ignorierte die beiden, zog das Aufblasventil und warf die Rettungsweste hinaus. Pete sah sie gut fünfzig Meter vom Ziel entfernt landen.
Serena versuchte ihre verzweifelte Freundin zu beruhigen. „Sam braucht sie nicht. Er hat den Schiffsrumpf. Nico kommt ihn holen.“
„Sag ihm, er soll sich beeilen“, sagte Chloe und sprang der Rettungsweste hinterher.
Pete spürte, wie sich das Gewicht des Hubschraubers verlagerte und versuchte es laut fluchend auszugleichen, während Chloe im Wasser aufkam. „Viereinhalb Meter!“, schimpfte er. „Schwimmer springen aus viereinhalb Metern Höhe, verdammt noch mal!“ Bei neun Metern konnte man sich die Beine brechen. Fünfzehn Meter waren lebensgefährlich. „Wo ist sie? Wo zum Teufel ist sie?“ War sie mit den Füßen zuerst gelandet? Der Abstand zwischen der Tür und den Rotorblättern war bei diesem Ding winzig. Hatte sie die Arme beim Sprung vor der Brust gekreuzt oder in die Höhe gerissen? Verdammt! Hatte sie überhaupt noch Arme?
„Es ist alles gut gegangen.“
Er kämpfte mit dem Hubschrauber, bekam ihn wieder unter Kontrolle und brachte ihn in die gewünschte Position, weit genug von Sam entfernt, damit er nicht den Halt verlor. Als er sich umdrehte, sah er, wie Serena sich weit aus der Tür lehnte und nach Chloe Ausschau hielt, und ihm blieb fast das Herz stehen. „Komm sofort zurück ins Cockpit“, brüllte er. „So wahr mir Gott helfe, Serena, wenn du ihr folgst, bringe ich dich eigenhändig um!“ Seine Worte wurden fast vom Rattern der Rotorblätter übertönt, doch sie hörte ihn. Die Haare flatterten ihr wild ums Gesicht, als sie seinen Blick erwiderte und grinste.
„Das habe ich nicht vor!“, rief sie zurück. „Sie ist okay. Sie hat die Rettungsweste!“
„Die hätte sie auch, wenn sie sie angezogen hätte, bevor sie gesprungen ist!“ Er sehnte sich nach seinem Seahawk und seiner Crew. Sean an der Winde und Merry im Wasser. Nach einer Sicherheitsleine und einem Korb oder irgendetwas, um Sam – und jetzt auch noch Chloe – in den Hubschrauber zu holen und an Land zu fliegen. Aber er musste mit dem auskommen, was ihm zur Verfügung stand, und so funkte er Nico an und informierte ihn, dass jetzt zwei Personen im Wasser waren und er sich beeilen sollte.
Nicos wilde Flüche offenbarten seine Gefühle. Er brauchte gar nicht erst fragen, wer noch im Wasser war, und Pete hatte keine Lust, es ihm zu sagen. Die beiden wichtigsten Menschen in Nicos Leben waren dort unten – er würde so schnell kommen, wie er konnte.
„Ist schon gut“, murmelte Serena und legte Pete die Hand auf die Schulter, nachdem sie wieder auf ihren Sitz geklettert war. „Chloe ist eine gute Schwimmerin. Und eine gute Seglerin. Sie wird den Katamaran aufrichten und segeln, wenn es sein muss.
Wo ist Nico. Wie weit entfernt ist er?“
„Er kommt gleich“, sagte er und ließ den Hubschrauber nach oben steigen, damit Chloe ungehindert zu dem Katamaran gelangen konnte. Mit grimmiger Erleichterung beobachtete er, wie sie sich auf den Schiffsrumpf hievte, sich rittlings daraufsetzte und sich die Rettungsweste anzog, ehe sie zu Sam hinüberrutschte. Endlich war sie zur Vernunft gekommen.
„Schau“, sagte Serena mit erstickter Stimme, und er sah, wie Chloe sich Zentimeter für Zentimeter dem Jungen näherte, mit ihm redete, auf ihn einredete, während ihr Tränen über die Wange strömten. Sam schlug blinzelnd die Augen auf und bewegte seine Hand ein klitzekleines Stück in ihre Richtung. Und dann zog Chloe ihn auf das Schiff, schlang ihn in ihre Arme, und er klammerte sich an ihr fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. „Alles ist gut. Chloe hat ihn. Schau. Sie lässt ihn gar nicht wieder los.“
Pete nickte kurz und verkniff sich die Bemerkung, dass längst nicht alles gut war. Sie wussten nicht, wie schlimm Sams Kopfverletzung war – ob er nur eine Beule davongetragen hatte oder schwere Verletzungen. Er wollte nicht an all die Male denken, wo es nicht gereicht hatte, jemanden festzuhalten, um ihn zu retten. Bitte nicht dieses Mal, betete er. Nicht dieses Mal.
Er ließ den Hubschrauber noch weiter nach oben steigen. Es gab nichts, das sie tun konnten, außer für eine ruhigere See und weniger Lärm sorgen. Nichts, was sie tun konnten, außer höher zu fliegen, damit Nico sie sehen konnte. Damit sie Nico kommen sehen konnten. Er funkte Marianne an und die Polizei und sorgte dafür, dass ein Arzt Sam erwarten würde, wenn Nico ihn an Land brachte. Sonst gab es nichts mehr zu tun.
Endlich erschien Nico am Horizont. In Theos Schnellboot schoss er wie eine tief fliegende Kugel über das Wasser und steuerte direkt auf den Katamaran zu. Aus dem Hubschrauber beobachteten sie die Rettungsaktion.
Als Chloe mit Sam in den Armen und in Decken gewickelt im Schnellboot saß, wandte sich Pete zu Serena um und lächelte ihr erleichtert zu.
Scheinbar immun gegen den ohrenbetäubenden Lärm, bedeckte sie sein Gesicht, seine Wangen, sein Haar mit Küssen und brach plötzlich in Tränen aus.
Die Inselbewohner, die an Land nach Sam gesucht hatten, waren schon in der Taverne des Hotels versammelt, als Pete und Serena eine gute halbe Stunde nach der Landung dort ankamen. Er nahm das Bier entgegen, das Theo und Marianne Papadopoulos grinsend vor ihn stellten, nahm ihre Danksagungen entgegen, aber ihm war nicht zum Feiern zumute, noch nicht.
Ja, sie hatten Sam gefunden, aber bis ein Arzt oder ein Sanitäter ihn untersucht und ernste Verletzungen ausgeschlossen hatte, war Pete nicht in Feierlaune.
Serena saß neben ihm an der Bar und lächelte trotz Erschöpfung siegessicher. Auch sie hatte ein Bier bekommen. „Wir haben ihn gefunden“, sagte sie und stieß ihr Glas gegen seins. „Kopf hoch, Flieger. Lächle ein wenig.“
Er lächelte ein wenig. „Das ist ein Anfang.“
„Es ist ein guter Anfang“, korrigierte sie ihn.
Immer mehr Einheimische strömten in die Taverne, angezogen von der gemeinsamen Sorge und der Hoffnung auf gute Nachrichten. Die Gemeinschaft hielt zusammen wie Pech und Schwefel, und heute Abend ließen sie ihn dazugehören. Sie wussten, wer er war. Sie beglückwünschten ihn, weil er Sam gefunden hatte.
„Das ist mein Job“, wollte er mehr als einmal antworten, doch das war eine Lüge, und er machte sich nichts vor. Er war kein Rettungshubschrauberpilot mehr. Er wusste nicht, was er war.
Er wollte wissen, wie es dem Jungen ging. Er wollte die Erleichterung spüren, die mit der Gewissheit kommen würde, dass Sam gesund war. Dann konnte er feiern.
Serenas Handy klingelte, und sie hielt sich wegen des Lärms das freie Ohr zu, als sie den Anruf entgegennahm, und stützte die Ellbogen auf den Tresen.
„Schhh“, sagte Marianne mit scharfem Blick und immer in der Angst, etwas zu verpassen. „Schhh!“
Die Stimmen wurden unwesentlich leiser, und Pete legte trostspendend und trostsuchend zugleich die Hand auf Serenas Rücken. Heute Abend waren alle Blicke auf sie beide gerichtet, aber es war ihm egal, ob es Gerede gab. Serena bedeutete ihm etwas. Ihr Glück und ihre Zukunft bedeuteten ihm etwas. Ebenso wie Sams.
Er hatte keine Lust mehr, diskret zu sein.
Langsam beugte er sich so weit vor, dass seine Wange die ihre fast berührte. Serena strich sich mit zitternden Fingern eine Haarsträhne hinter das Ohr, ehe sie seine freie Hand mit ihrer suchte und ihre Finger mit seinen verschränkte. „Sie sind zurück“, flüsterte sie. „Der Arzt ist jetzt bei Sam. Nico sagt, er redet, sein Blick ist klar, und nachdem sie das Blut abgewischt hatten, sah man, dass der Schnitt am Kopf nicht so groß ist.“ Sie suchte seinen Blick, Tränen standen in ihren Augen. „Nico sagt, der Arzt sagt, es geht ihm gut!“
Abrupt stand sie auf und wiederholte ihre Worte auf Griechisch, und die Menge jubelte. Die Menschen begannen, Pete zu küssen, sein Gesicht, sein Haar, und dann stand er plötzlich, und auch Serena küsste ihn.
Danach wurde die Stimmung ausgelassen, und als Nico und Chloe kamen – Nico mit einem schlaftrunkenen, sonnenverbrannten Jungen mit Kopfverband auf dem Arm –, gab es nur noch Stehplätze. Die drei blieben nur wenige Minuten, gerade lang genug, dass Chloe sich bei allen für ihre Hilfe bedanken und erklären konnte, dass sämtliche Getränke aufs Haus gingen. Und mit der Entschuldigung, dass Sam Ruhe brauche, verschwanden die drei.
Pete ließ sich noch ein wenig feiern und beobachtete, wie Serena in der lachenden Menge verschwand, zu der sie, im Gegensatz zu ihm, gehörte. Dann zog er sich zurück.
Serena spürte sofort, dass er fort war. Sie dachte, er würde wiederkommen. Vielleicht ließ er sich an der Rezeption ein Zimmer reservieren. Er war der Held des Tages, und sie hätte schwören können, dass er es genossen hatte. Doch nachdem zwanzig Minuten verstrichen waren, und dann noch einmal zwanzig, und er immer noch nicht zurück war, kamen Serena Zweifel. Würde er gehen, ohne sich von ihr zu verabschieden?
Sie wusste es nicht.
Er hatte betrübt gewirkt. Selbst nachdem er Sam gesehen und mit ihm geredet und Chloe gescholten hatte, sie dürfe nie wieder so aus seinem Hubschrauber springen, wirkte er betrübt. Adrenalin war eine komische Sache. Noch Stunden später pulsierte es durch ihren Körper. Die Luft schmeckte aromatischer, die Lichter waren strahlender. Sie war überwach und platzte schier vor Energie. Fühlte er dasselbe? Er hatte in den vergangenen Stunden die Entscheidungen getroffen. Fühlte er mehr?
Wie konnte man noch mehr Adrenalin verkraften?
An der Rezeption erfuhr sie, dass er zwar ein Zimmer reserviert hatte, dort aber nicht war. Sie fragte Chloe und Nico, aber die hatten ihn auch nicht gesehen. Sie ging nach draußen und spähte den Pfad entlang, der zum Häuschen ihrer Großeltern und weiter führte.
Sie blickte in den Himmel und ahnte plötzlich, wo sie ihn finden würde.
Auf dem Weg machte Serena einen kleinen Zwischenstopp im Haus. Sie brauchte eine Jacke gegen die kühle Nachtluft, auch wenn ihr beim Aufstieg auf den Berg bestimmt warm wurde. In letzter Minute griff sie nach einer leichten Decke und machte sich, statt auf eine Taschenlampe auf das Mondlicht vertrauend, auf den Weg, den Ziegenpfad hinauf.
Sie fand Pete auf dem Bergplateau, unter sich die Lichter des Dorfes, über sich die Sterne. Schweigend ließ sie die Decke vor seine Füße fallen und wartete, dass er etwas sagte.
Er blickte auf die Decke, blickte sie an, und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ist das ein Wink?“, fragte er.
„Du bist früh gegangen.“
Er zuckte die Schultern. „Ich hatte genug.“
„Magst du keine Anerkennung?“
„Das schon.“
„Warum bist du dann gegangen?“ Eigentlich meinte sie: Warum bist du ohne mich gegangen?
Pete sah sie an, sein Blick dunkel und unergründlich. „Ich bin müde, Serena. Dort drinnen konnte ich nicht denken. Und ich muss nachdenken.“
Er dachte an andere Rettungsaktionen, wo sein Bestes nicht gut genug gewesen war. Sie sah es in seinen Augen.
„Du warst heute wundervoll. Das weißt du doch, nicht wahr?“
Er zuckte die Schultern. „Es war eine Situation, mit der ich vertraut bin. Dafür wurde ich ausgebildet.“
„Und darüber bin ich froh.“ Sie holte tief Luft. „Ich habe dich heute beobachtet. Ich habe eine Seite an dir gesehen, die ich nicht kannte. Aber ich habe immer geahnt, dass diese Seite in dir steckt. Es war schön anzusehen. Und ich habe dabei etwas begriffen, was du im tiefsten Innern deines Herzens längst selbst weißt.“ Sie ging auf ihn zu, legte ihre Hand an seine Wange und suchte seinen Blick. „Du gehörst nicht hierher, Pete Bennett. Touristen umherfliegen, Vieh zusammentreiben, Fracht befördern oder was immer du als Nächstes vorhast. Die Menschen brauchen dich. Der Seenotrettungsdienst braucht dich. Geh nach Hause.“
„Das ist dein Rat?“
„Na ja. Leider habe ich keine Lösung, wie du mit den Gefühlen klarkommen sollst, die dich damals dazu bewogen haben, deinen Abschied zu nehmen. Aber ich arbeite daran.“
„Ach ja?“ Er lächelte schief. „Halt mich auf dem Laufenden.“
Das würde sie. „Ich weiß, es geht dir unter die Haut, wenn du es nicht schaffst, jemanden zu retten. Weil du mit dem Herzen dabei ist. Weil es für dich keine Option, ist zu versagen, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten.“
„Es ist aber eine Option, Serena. Es ist die Realität.“
„Ich weiß. Aber wenn du dort oben bist und jemanden suchst, ist es nicht deine Realität. Erst wenn der Tod dich einholt.“
Pete widersprach ihr nicht. Wie könnte er auch, dachte sie schmerzenden Herzens. „Frag mich, warum ich dich angerufen habe, als Sam verschwunden war.“
„Weil du einen Hubschrauber brauchtest?“ Zärtlich, fast sanft, streichelte er ihre Wange, so sanft für einen Mann mit seiner Kraft.
„Weil wir dich brauchten. Weil du mit dem Herzen dabei bist. Weil es für dich keine Option ist, zu versagen, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten. Das ist dein Dilemma, Flieger. Wenn du nicht so mit den Menschen mitleiden würdest, wärest du auch nicht mit derselben Leidenschaft dabei, wenn es darum geht, sie zu retten.“
„Das ist kein Rat, Serena. Das ist eine Tatsache.“
Sie musste über seine Sturheit lachen, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich meine ja nur, wenn du lernst, es als Teil deines Jobs zu akzeptieren, zieht es dich vielleicht nicht mehr so herunter.“ Das war ein Rat. Ob er ihn annehmen würde?
„Ich werde später darüber nachdenken.“ Seine Augen verdunkelten sich, während sein Blick auf ihren Lippen ruhte. „Jetzt denke ich gerade an etwas ganz anderes.“
„Ach ja?“ Sie legte ihre Hände auf seine Schultern. Sie spürte seine Kraft, seine Hitze. „Was könnte das wohl sein?“
„Du.“
„Hervorragend. Denn ich hatte gehofft, du könntest mir auch einen Rat geben. Ich habe nämlich gerade so viel Energie in mir, dass ich gar nicht weiß, wohin damit.“
„Adrenalin.“ Seine Lippen streiften die ihren, verweilten verheißungsvoll, saugten sanft und sinnlich. „Du musst ihm eine Richtung geben.“
„Ich bin froh, dass du es auch so siehst.“ Sie klammerte sich an ihn, presste die Lippen auf seine.
Pete war nicht darauf vorbereitet. Ihm war immer noch nicht bewusst, wie schnell sie seine Leidenschaft entfachen und seinen Hunger wecken konnte. Es war zu viel. Mehr, als er verkraften konnte, mehr, als gut für sie war. Und dennoch ließ er sein Verlangen nach ihr zu. Hin und her gerissen zwischen Sorge und Wonne, erwiderte er ihren Kuss: heiß, zärtlich, erfahren.
„Langsam“, murmelte er, als seine Gefühle wie eine Welle über ihm zusammenschlugen und er fürchtete, die Kontrolle zu verlieren. „Bitte, Serena. Langsam.“
„Ich kann nicht“, murmelte sie. „Es gibt nur dich, nur uns. Hilf mir.“
Doch er konnte niemandem mehr helfen.
Er griff mit den Fingern in ihr Haar, zog ihren Kopf zurück und liebkoste mit seinen Lippen ihren entblößten Hals, knabberte heftiger als beabsichtigt an ihrem Schlüsselbein. Er spürte ihren beschleunigten Puls an ihrem Hals, schmeckte Salz auf der Zunge, als sie mit den Händen durch sein Haar fuhr und den Kopf noch weiter zurückneigte.
Er wollte sie genießen, sich Zeit lassen, doch seine Hände fuhren hastig über ihren Rücken, ihren Po, und sein Griff wurde härter, verlangender, als er ihr Becken an seines drückte.
„Die Decke“, flüsterte sie, dicht an ihn gedrängt, während ihre Finger sich geschickt an seinen Hemdknöpfen zu schaffen machten.
Er wich zurück, löste sich nur von ihr, um die Decke auszubreiten, zog Serena wieder an sich und auf den Boden. Er wollte, dass sie auf dem Rücken lag, nackt und bereit für ihn. Das war der Anfang. Nur der Himmel wusste, wo es hinführen würde. Er nestelte an den Knöpfen vorn an ihrem Kleid. Nein, kein Knopf, ein Druckknopf. Er zog daran. Ein Klack, zwei. Ein Klack-klackklack, als sie ganz aus dem Kleid schlüpfte. Sie legte sich hin, ließ ihn nicht aus den Augen, als sie die Hände über dem Kopf kreuzte und ihm ihren Körper darbot. Ihm, der Nacht, dem Himmel, wie eine heidnische Göttin.
„Ich will dir nicht wehtun.“ Es war eine Entschuldigung, eine Warnung, und sie kam aus tiefster Seele. Seine Hände liebkosten ihre Hüften, ihre Schenkel, zu hastig, zu verlangend. Ebenso wie sein hungriger Mund, der seinen Händen folgte.
„Das wirst du nicht“, flüsterte sie, und er schwor es sich, als er ihre Schenkel weit öffnete und sich ihr mit dem Mund näherte.
Serena bog sich ihm unter den Liebkosungen seiner Zunge entgegen, und ihr Körper wurde von heftigem Begehren durchflutet. Sie empfand eine Lust, die an Schmerz grenzte, doch sie hielt ihn nicht auf. Sein hungriger, erfahrener Mund trieb sie mit schonungsloser Präzision in immer weitere Höhen. Zu schnell, doch sie konnte sich nicht bändigen, zu viel, doch es verlangte sie nach mehr. Sie verlor die Kontrolle, war mit diesem Mann überfordert, doch es war ihr egal. Sie brauchte ihn. Und dann erreichte sie den Höhepunkt, und Serena schloss die Augen, als eine Welle alles verzehrender Ekstase sie erfasste.
Pete blickte auf sie herab, als sie daraus emportauchte, das Haar zerzaust, der Blick begehrlich. Noch immer war es nicht genug. „Ich will mehr“, murmelte sie und half ihm dabei, sein Hemd auszuziehen. Dann ließ sie die Hände über seinen muskulösen Bauch hinunterwandern, dorthin wo sein Verlangen am heißesten brannte.
„Wie viel mehr?“
„Alles.“ Sie öffnete seinen Hosenknopf und dann den Reißverschluss. Schob die Hose seine Beine hinunter, bis er ebenso nackt war wie sie. „Einfach alles.“
Er fluchte. Kurz und passend. Und drang dann mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung in sie ein. Sein Drängen, seine Wildheit ließ sie aufschreien. Er drehte sich auf den Rücken, zog sie mit sich, und sie ritt ihn, blind vor Lust. Sie gehorchte ganz ihrem Körper, als sie ihn so tief in sich aufnahm, dass nichts mehr zwischen ihnen war, nicht einmal das Mondlicht.
„Nein“, flüsterte Pete, als er begann, sich zu bewegen, heftige Stöße, die seinem Atem entsprachen. Jede Faser seine Körpers strahlte Spannung aus. „Nicht alles. Nicht. Ich kann nicht.“
Aber er konnte doch.
Mit jeder seiner wilden Liebkosungen gab er es. Mit jedem Beben seines Körpers zeigte er es.
„Du und ich, Pete Bennett. Was immer du willst. Was immer du von mir willst. Nimm es.“ Sie verlor die Kontrolle, spürte, wie sie sich um ihn herum verengte, nur wenige Augenblicke vom Höhepunkt entfernt. „Denn so wahr mir Gott helfe, ich werde mir nehmen, was ich von dir brauche.“
„Also schön“, murmelte er, und es war zugleich Fluch und Gebet. „Also schön.“ Er stürzte sich auf ihre Lippen, trank aus ihrem Mund, trieb sie an ihre Grenzen. „Du und ich. Zusammen.“
Er hielt sein Wort. Sie erreichten die Sterne gemeinsam. Und er hielt sein Wort, als er sie in der Morgendämmerung weckte und sie an sich zog. Bauch an Rücken, wie Löffel in einer Schublade sahen sie die Sonne über dem Meer aufgehen. Gemeinsam.
Serena verschlug es den Atem, als die Sonne sich aus dem Meer erhob. Dann drehte sie sich auf den Rücken, und was sie nun sah, war nicht minder atemberaubend. Der Sonnenaufgang war von leiser, sanfter Schönheit gewesen. Die Schönheit des Mannes, der sich auf seine Ellbogen stützte und auf sie herabsah, war ganz anderer Natur. Sein Gesicht war markant, der Mund gerade, ohne jedes Lächeln. Sie erschrak beim Anblick der Kälte in seinen Augen. Doch dann lächelte er, und sein Blick wurde wärmer.
„Jetzt hätte ich gern meine Kamera“, murmelte sie.
„Für den Sonnenaufgang?“
„Für dich.“ Sie atmete tief ein, um seinen Duft in sich aufzunehmen. „Du bist umwerfend. Wenn du lächelst, geht mir das Herz über. Wenn du ernst bist, brichst du mir fast das Herz.“ Sie konnte nicht genug von diesem Mann bekommen. Jedes Mal, wenn sie ihn berührte, ihn küsste, ihn liebte, wollte sie mehr.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, setzte sich auf und zog die halbe Decke mit sich.
„Hast du etwas vor?“
„Allerdings. Ich habe es Tomas versprochen.“
„Heißt das, sonst würdest du bleiben?“
„Wahrscheinlich. Wenn ich bei dir bin, scheint alles andere irgendwie unwichtig. Und jetzt steh auf.“
Ihr Begehren kämpfte gegen ihre Empörung. Das Begehren gewann, als sie mit dem Finger über seinen Rücken strich. „Nur noch fünf Minuten“, sagte sie.
„Nein.“
Sie fuhr mit dem Finger seinen Rücken hinauf und bemerkte erfreut, dass er unter ihrer Berührung erschauerte. „Viereinhalb.“
Er drehte sich eilig um und drückte sie zu Boden. Sein Blick war wild, seine Berührung sanft. „Drei“, sagte er schroff. Aber dann wurden es doch zehn.
„Wie hältst du es dieser Tage mit der Diskretion?“, fragte Pete, als sie den Berg hinunter zu dem kleinen Häuschen stiegen. Er brauchte Kaffee, Frühstück, eine heiße Dusche. All das erwartete ihn im Hotel, wenn ihn seine weichen Knie so weit tragen würden. Vorerst war er froh, wenn er es zum Haus schaffte.
„Ich fürchte, es ist aussichtslos.“ Sie stolperte über einen kleinen Stein und lief fluchend weiter. „Nico ist bei der Arbeit. Sollte er zumindest. Zu Hause bekommen wir Frühstück. Kaffee“, sagte sie jammernd. „Etwas Frisches zum Anziehen.“
„Ich nehme Frühstück und Kaffee“, murmelte er. „Die Kleider sind für dich. Zieh sie an. Behalte sie an.“
„Gute Idee.“
Sie stolperten in die Küche, und Serena stürzte zum Kühlschrank, nahm eine Dose frische Kaffeebohnen und füllte reichlich in die Kaffeemaschine, ehe sie einen Becher darunterstellte und sie anschaltete. Zischend und dampfend tröpfelte diese Errungenschaft der Zivilisation Kaffee in die Tasse und half dabei, ihre Gedanken zu ordnen.
Vor seinen Augen entstand das Frühstück: eine Pfanne mit Würstchen und Tomaten, Brot im Toaster, eine weitere Pfanne mit Eiern. „Ist das genug?“, wollte sie wissen. „Es sieht so wenig aus.“
„Es ist genug.“ Bei Serena gab es keine halben Sachen, in keiner Beziehung. Das liebte er an ihr. Und das brachte ihn an den Rand der Verzweiflung.
„Wo fliegst du heute hin?“, fragte sie, locker und unkompliziert wie immer, doch diesmal konnte er nicht mithalten. Er hatte heute Morgen versucht, nach ihren Regeln zu spielen, aber er war nicht mit dem Herzen dabei, und das war der Knackpunkt. Sein Herz war woanders.
„Nach Kos.“
„Holst du die Passagiere von gestern ab?“
„Ja.“
Serena warf ihm einen besorgten Blick zu, ehe sie an ihrem Kaffee nippte. Er hatte wieder diesen grimmigen Gesichtsausdruck, der besagte: Dräng mich nicht, stecke deine Nase nicht in meine Angelegenheiten. Aber das tat sie doch nicht. Oder?
Sie hatte sich alle Mühe gegeben, so zu tun, als hätten die gestrigen Ereignisse und die letzte Nacht sie nicht in ihren Grundfesten erschüttert. Sie hatte seine Leidenschaft, seine Kraft aus nächster Nähe erlebt. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, und er hatte keine Sekunde gezögert. Und selbst nachdem der Job erledigt war, hatte sie ihn nicht in Ruhe gelassen. Hatte sein Leben für ihn analysiert, hatte ihm gesagt, wo ihrer Meinung nach sein Platz sei, ohne Rücksicht auf seine Meinung. Sie hatte ihn nicht einmal nach seiner Meinung gefragt.
„Was ich letzte Nacht gesagt habe …“, murmelte sie verlegen.
Er blickte sie kalt an. „Letzte Nacht hast du viel gesagt, Serena.“
„Über deinen Job.“
„Was ist damit?“
„Ich meine, es ist natürlich deine Entscheidung. Wieso mische ich mich überhaupt ein?“
Seine Lippen zuckten. „Ja, wieso nur?“
Er stellte den Kaffee auf den Tisch, nahm ihr die Grillzange aus der Hand und machte sich daran, die Würstchen umzudrehen, die sie vergessen hatte. „Ist schon gut, Serena“, sagte er leise. „Du hast nichts gesagt, was ich nicht schon selbst gedacht habe.“
„Dann … kehrst du also heim?“
„Ja.“
Das Fett brutzelte in der Pfanne, während ihre Überzeugung, dass er das Richtige tat, mit dem schmerzlichen Gefühl rang, etwas verloren zu haben. Sie brachte ein kleines Lächeln zustande. „Das freut mich für dich. Glaube ich. Wann fährst du?“
„Sobald ich eine Vertretung gefunden habe. Es sollte nicht schwer sein, jemanden zu finden.“
„Nein. Nein, sicher nicht.“ Der Schmerz wurde stärker, und sie versuchte, ihn herunterzuschlucken. Sie bewunderte seine Entscheidung, zum Seenotrettungsdienst zurückzukehren. Sie wusste tief in ihrem Herzen, dass er dorthin gehörte. Doch der Gedanke, dass er fortging, schmerzte. Sie konnte sich nicht vorstellen, je wieder in den blauen Sommerhimmel zu blicken, ohne an ihn zu denken, und das war schlimm, denn das Leben würde noch viele blaue Sommerhimmel für sie bereithalten.
Hoffte sie jedenfalls.
„Dann ist das jetzt wohl der Zeitpunkt, wo sich unsere Wege trennen und wir uns wie zivilisierte Menschen voneinander verabschieden“, sagte sie und scheiterte diesmal kläglich in ihrem Bemühen, locker zu klingen.
„Nein.“
„Nein?“
„Ich kann nicht.“ Er löschte die Flamme unter der Pfanne und wandte ihr sein ernstes Gesicht zu. „Letzte Nacht wolltest du alles, Serena“, sagte er leise. „Ich habe dir alles gegeben.“
Das hatte er noch nie getan. Noch nie war er derjenige gewesen, der mehr wollte als eine lockere Affäre. Doch jetzt wollte er. „Ich kehre heim, Serena. Ich will, dass du mit mir kommst. Dass du bei mir bist.“ Es fiel ihm nicht leicht, diese Worte auszusprechen. „Heirate mich.“
Er hatte sie erschreckt. Er sah die Bestürzung in ihrem Blick. Sie war wie gelähmt. Es war zu früh für die Frage, er wusste es, wusste, dass er es überstürzte. Aber ihm blieb keine Zeit. Es gab keinen anderen Weg. „Ich weiß, der Zeitpunkt ist ungünstig. Und ich will auf gar keinen Fall deinen Träumen oder deiner Karriere im Weg stehen. Wir können darüber reden. Wir können eine Lösung finden.“ Sein Herz sank, als sie weiterhin schwieg. „Serena, sag doch etwas.“
„Ich …“ Sie streckte die Hände nach ihm aus, als wollte sie ihn um etwas bitten, wenn er auch nicht wusste, was das sein könnte. Sie hatte bereits alles von ihm. Er hatte nichts mehr, was er ihr noch geben konnte. Er schob die Hände in die Hosentaschen, atmete tief durch und blickte aus dem Küchenfenster auf das Meer. „Denk darüber nach“, sagte er schroff. „Ich habe ein Haus am Hawkesbury, nördlich von Sydney. Es liegt in den Bergen mit Blick auf den Fluss. Es gibt einen Steg. Ein Boot. Dort ist es friedlich. Schön. Ein bisschen wie hier. Sydney liegt gleich vor der Haustür.“ Warum zeigte sie überhaupt keine Reaktion? „Du könntest arbeiten, wenn du willst. Du könntest freiberuflich von zu Hause aus arbeiten. Oder nach Sydney pendeln. Was dir lieber ist. Wir schaffen uns einen größeren Hubschrauber an.“ Seit er angefangen hatte zu sprechen, hatte sie sich nicht gerührt. Sie stand wie versteinert und schwieg. Ein Meer des Schweigens. So fühlte es sich also an, wenn man ertrank. „Verdammt, Serena, sag doch etwas!“
„Was soll ich denn sagen?“ Er wandte den Kopf, um sie anzusehen, und ihre Blicke begegneten sich. Ihre Augen brannten, und ihr Gesicht war blass. Sie sah auf tragische, herzzerreißende Weise wunderschön aus in ihrem Zorn – wenn es denn Zorn war, denn sie hatte noch immer nicht gesprochen. Vielleicht sah es nur wie Zorn aus. Wie Freude sah es jedenfalls ganz sicher nicht aus. „Dass du mich entzwei reißt? Denn das tust du!“
Sie legte die Hände an den Kopf und ging langsam zum Tisch, drehte um und kam zurück, bis sie neben ihm stand. „Ich dachte, wir wären uns einig“, erklärte sie hitzig. „Ich dachte, es ist ein Spiel. Für uns beide. Du kennst das Spiel, Pete Bennett. Wag ja nicht, mir zu sagen, du würdest dieses Spiel nicht kennen.“
„Ich kenne es“, sagte er leise, während ihm das Herz zerbrach. „Aber ich kann es nicht mehr spielen. Nicht mit dir. Mit dir habe ich es nie gekonnt.“
„Aber du musst!“, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Du musst, verstehst du das denn nicht? Ich habe den Job in Athen bekommen. Den du mir geholfen hast zu bekommen.“ Und mit einem erstickten Lachen: „Verflucht noch mal, Pete Bennett, ich habe den Job!“
Er sah sie durch die Küche rennen und die Tür hinter sich zuschlagen. Fort, nur fort.
Das war dann wohl ein Nein.