Inzwischen war es ziemlich dunkel geworden. Der Mond hatte sich hinter einer dichten Wolkendecke verkrochen, die inzwischen fast den ganzen Himmel überzogen hatte. Und es wehte ein heftiger Wind. Regen hing in der Luft und die Wellen trugen weiße Schaumkappen, als wir losfuhren. Ich steuerte und der Prof diente vorne am Bug als Ballast. Ich geriet ordentlich ins Schwitzen. Ich war nicht an hartes Wetter auf See gewöhnt. Der Vorteil war dabei immerhin, dass wir die ganze Zeit den Motor laufen lassen konnten, ohne von den Leuten auf der anderen Inselseite gehört zu werden. Wir konnten miteinander reden, und ab und zu stachen wir durch einen Wellenkamm und wurden von der Gischt übersprüht. Ich freute mich nicht besonders auf die Übernachtung im Freien, aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass es für den allerschlimmsten Fall auf der anderen Seite der Insel noch leere Häuser gab.
Ich dachte darüber nach, was der Prof über die Turmfalken gesagt hatte. Dass die Jagd auf sie streng verboten war. Ja, in Norwegen standen sämtliche Raubvögel unter Naturschutz. War die Feder, die er unter der Gefriertruhe gefunden hatte, eine Spur, die in die richtige Richtung zeigte, oder führte sie nur in eine neue Sackgasse? Der Fund dieser Feder brauchte nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Selbst wenn Oddvar einen Turmfalken aufbewahrt hatte, dann wäre das kein Beweis für irgendeinen Gesetzesbruch. Er konnte den Falken tot aufgefunden haben, und niemand konnte ihm verbieten, ihn in die Gefriertruhe zu legen, solange er keine Zeit hatte, ihn auszustopfen. Oben in seinem Wohnzimmer standen schließlich jede Menge ausgestopfter Vögel herum. Aber auch wenn wir uns damit nicht so recht auskannten, so war ich doch ziemlich sicher, dass keine Raubvögel darunter gewesen waren. Ich meine, Enten und Eiderenten sehen eben nicht aus wie Falken und Adler. Man braucht kein Ornithologe zu sein, um das zu kapieren.
Aber je mehr ich über die rotbraune Feder nachdachte, umso überzeugter war ich davon, dass sie nichts mit den ganzen seltsamen Ereignissen zu tun hatte. Mit dem Einbruch auf dem deutschen Schiff. Mit der Verwüstung von Oddvars Stromnetz. Mit Anitas rätselhaftem Verschwinden. Wenn es zwischen allem einen Zusammenhang gab, wie der Prof ja offenbar annahm, dann konnte ich nicht begreifen, wie eine einsame Feder uns die Augen öffnen sollte. Der Prof machte sich wohl nicht so ganz klar, dass wir beide aus der Stadt kamen. Für ihn war es ein großes Erlebnis, wenn er eine Turmfalkenfeder fand. Aber die Leute hier oben brauchten das deshalb noch lange nicht als Sensation zu betrachten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Oddvar die Feder auf der Jagd im Wald gefunden und sie in seinem eigenen Keller verloren.
Wir kamen hinter der Landzunge in Windschutz und zogen das Boot an Land. Es regnete ein wenig, aber darauf konnten wir keine Rücksicht nehmen. Unter den Bäumen war der Boden noch immer trocken. Trotzdem bedeckten wir unsere Sachen mit einer Plastikplane, ehe wir uns auf den Weg auf die andere Seite machten. Der Prof und ich waren gespannt darauf, ob die Boote noch immer dort lagen - und was sich dort eventuell abspielte. Es war schon nach halb zwölf und bestimmt grillten sie nicht im Regen am Strand Würstchen. Andererseits begriff ich auch nicht so recht, warum Oddvar hier draußen überhaupt übernachten sollte, wo er doch mit seinem Boot nur eine Viertelstunde zu seinem Haus und seinem Bett brauchen würde.
Als wir den höchsten Punkt des Weges erreicht hatten, sahen wir sofort die Umrisse der beiden Boote. Beide lagen noch an derselben Stelle wie vorhin. Oddvars am Anleger, das Segelboot der Deutschen etwas weiter draußen.
Weil es dunkel war, hatte der Prof sein Fernglas nicht bei sich. Er kniff die Augen zusammen und sah sich alles ganz genau an. »Interessant«, murmelte er.
Ich konnte hier nicht viel Interessantes entdecken und das sagte ich auch.
»Die Jolle«, sagte der Prof. »Die Jolle der Marlene ist verschwunden. Das kann bedeuten, dass sie an Land gegangen sind.«
»Oder dass sie Oddvar besuchen wollten«, sagte ich.
»Ja. Aber das ist nicht besonders wahrscheinlich. Ich meine, wenn sie schon zusammen ein kleines Fest feiern wollen, dann liegt es doch näher, dass er zu ihnen fährt. Sie haben mehr Platz und gemütlicher ist es bei ihnen bestimmt auch.«
Ich nickte. »Lass uns vom Weg verschwinden. Wenn sie an Land gegangen sind, laufen wir ihnen sonst noch voll in die Arme.«
»Klug gedacht, Watson! Von jetzt an müssen wir vorsichtig sein, um das Wild nicht zu verscheuchen.«
Wir verließen den Weg und gingen die nächsten zweihundert Meter durch eine enge Kluft. Die Kluft zog sich nach Süden, wir mussten jedoch nach Westen, aber wir gingen davon aus, dass wir ziemlich genau auf das verlassene Fischerdorf stoßen würden, wenn wir abbogen und über den Berg gingen. Das stimmte auch, aber wir mussten uns langsam und vorsichtig weiterarbeiten, das Gelände war unwegsam und überall gab es Felsblöcke und Dornbüsche. Ein falscher Schritt konnte hier zu einer mittleren Katastrophe führen.
Als wir endlich die Häuser sahen, ließen wir uns zu Boden fallen und blieben lange so liegen.
»Nichts«, flüsterte der Prof. »Kein Lebenszeichen. Aber ich spüre, dass sie da unten sind!«
Ich selber war einfach nur gespannt. Spürte im ganzen Körper meine Nervosität.
Und dann passierte plötzlich etwas. Am äußersten Rand meines Blickfeldes, im Norden, sah ich eine ganz rasche Bewegung. Dann lag der Bergkamm wieder leer da. Ich hatte nur einige wenige Sekunden lang vor dem Himmel eine Silhouette gesehen, aber ich war mir sicher. Ein Mensch war gebückt auf die kleine Siedlung unter uns zugerannt. Das sagte ich dem Prof.
»Bist du dir sicher?« Er sah in die Richtung, in die ich gezeigt hatte.
»Bombensicher.«
»Aber du konntest nichts erkennen?«
»Ganz unmöglich auf die Entfernung. Ich konnte nicht einmal Geschlecht oder Alter feststellen. Aber ich bin hundertprozentig sicher, dass es ein Mensch war.«
Und dann passierte es noch einmal. Und diesmal hatten wir es beide gesehen. Den Umriss eines Menschen, der über den Bergkamm lief und dann darunter in der Dunkelheit verschwand.
Mehrere Minuten lagen wir ganz still, wir bewegten nicht einen einzigen Muskel, aber mehr passierte jetzt nicht.
Ich wollte mich schon vorsichtig erheben, aber der Prof packte mich am Arm. »Noch nicht! Wir müssen noch eine Runde warten. Ich weiß es natürlich nicht sicher, aber ich habe das Gefühl, dass diese beiden Gestalten nicht zu den Bootsleuten gehören. Und wenn ich Recht habe, dann kann jetzt bald irgendetwas passieren.«
Aber das tat es nicht. Einmal glaubten wir eine Tür zu hören, die ins Schloss fiel, aber daran konnte auch der Wind schuld gewesen sein.
Wir standen auf und gingen vorsichtig auf die Häuser zu. Sehr vorsichtig, das muss ich schon sagen. Wir wollten nicht denselben Fehler machen wie die, die wir als Silhouetten vor dem Himmel gesehen hatten, daher bewegten wir uns ausschließlich in Bodensenken. Nach einer Viertelstunde standen wir im tiefen Schatten hinter einem Bootshaus. Zu unserer Linken lagen Anleger und Meer, rechts war ein überwucherter Weg oder Pfad, der zwischen den anderen Häusern weiterführte. Wir beschlossen sofort diesen Pfad zu vergessen, weil wir dort bestimmt gesehen worden wären. Aber jetzt war Ebbe, und nachdem ich in die Knie gegangen war und den Boden überprüft hatte, wusste ich, dass wir unter dem Anleger weitergehen konnten. Es war glatt und rutschig, aber wir kamen trockenen Fußes weiter, solange wir uns in der Nähe der Felswand hielten. Nach fünfzig Metern befanden wir uns auf der Höhe von Oddvars Fischkutter, und der Prof, der vor mir ging, hob warnend die Hand und blieb stehen. Stimmen. Wir hörten sie beide ganz deutlich. Verstehen konnten wir zwar nichts, aber jedenfalls waren über uns irgendwo Menschen, die miteinander redeten. Sie konnten nicht auf dem Anleger stehen, dann hätten wir sie sehr viel besser gehört; sie hielten sich wahrscheinlich in einem der verlassenen Häuser in der Nähe auf.
»Bei der nächsten Gelegenheit müssen wir wieder nach oben«, sagte der Prof leise.
»Leichter gesagt als getan«, meinte ich. Dort, wo Oddvars Boot lag, führte zwar eine Leiter zum Anleger hoch, aber um sie zu erreichen, hätten wir schwimmen müssen, und das war nun wirklich nicht verlockend.
»Da vorn!« Der Prof zeigte in die Dunkelheit. »Da versuchen wir's.«
Zwanzig Meter vor uns konnte ich die Umrisse einer steilen Treppe ahnen. Die Treppe führte zum Boden eines Bootshauses hoch, vermutlich befand sich über ihr eine Luke. Wozu diese Treppe gut sein sollte, wo sie doch die meiste Zeit unter Wasser lag, begriff ich zuerst nicht. Aber dann ging mir auf, dass sie bei Ebbe sicher ein guter Eingang für Leute war, die mit kleinen Booten Waren brachten. Ich als Ostnorweger war ja nicht an die gewaltigen Unterschiede gewöhnt, die hier im Norden zwischen Ebbe und Flut bestehen.
Die Treppe war aus verwittertem Zement, vermischt mit grobem Sand und Kies. Von Grünwuchs überwuchert, bewohnt von einem Schneckenregiment. Wir schoben die Schnecken vorsichtig beiseite, um nicht ihre Häuser zu zertrampeln. Bis zur Luke waren es nur vier oder fünf Stufen, und ich war verdammt enttäuscht, als ich die Schulter dagegen stemmte, ohne dass sich an der Luke auch nur ein Millimeter bewegt hätte.
»Noch mal!«, sagte der Prof. »Los!«
»Ich geb' mir doch alle Mühe«, stöhnte ich. »Aber das reicht nicht.«
»Lass mich mal versuchen!« Er nahm meinen Platz ein, und nun sah ich, dass er die Taschenlampe mitgenommen hatte. Er bedeckte die Leuchtfläche mit der Hand und ließ nur einen schmalen Strahl zu den Spalten über uns wandern. »Gib mir das Messer, Peter.«
Ich zog vorsichtig sein langes Jagdmesser aus der Scheide und reichte es ihm. Vorsichtig schob er die Klinge in den Spalt zwischen Luke und Boden.
»Da! Ein Riegel oder sowas. Ich glaube, ich kann …«
Ein scharfes Klicken ertönte, und ich dachte, jetzt ist die Klinge abgebrochen, aber der Prof grinste weiß in der Dunkelheit. »Bitte einzutreten, Peterchen!« Er schob die Luke hoch und verschwand durch das dunkle Viereck.
Ich hinterher.
Wir befanden uns ungefähr in der Mitte eines hohen, großen alten Lagerhauses. Die riesigen Doppeltüren zum Anleger waren aus den Angeln gefallen. Jetzt bildeten sie mitten in der Tür einen riesigen Bretterhaufen und wir hatten freien Blick aufs Meer. Um uns herum standen Stapel aus Kästen und leeren Tonnen, es war das pure Schwein, dass die Luke nicht blockiert gewesen war. Der Prof ließ den Lichtstrahl über die Decke wandern. Die befand sich, wie gesagt, hoch über uns, und um den ganzen Raum zog sich eine Art Galerie, zu der auf zwei Seiten Treppen hochführten.
»Komm!«, sagte der Prof. »Ich glaube, wir müssen da rauf.« Oben gab es einen weiteren großen Lagerraum, viel größer, als er von unten gewirkt hatte. An beiden Enden des Zimmers, zum Meer und zum überwucherten Weg hin, gab es in den Wänden Ladeluken. Sie waren zwar geschlossen, aber Meer und Wind hatten ihnen übel mitgespielt. Hier und dort fehlten ganze Bretter und der Wind pfiff durch den Raum.
Zuerst sahen wir uns auf der Seeseite um. Die beiden Boote lagen wie vorher da, ganz ohne Licht.
»Ich dachte, selbst beim Ankern wären Lampen vorgeschrieben«, sagte ich.
»Sind sie auch«, antwortete der Prof. »Ich glaube, die Lunte brennt.«
Wir gingen zum anderen Fenster hinüber und schauten durch einen breiten Spalt.
»Auwei!« Der Prof schnappte nach Luft. »Offenbar haben wir die besten Plätze im ganzen Theater erwischt.«
»O zum Teufel!«, sagte ich und spürte, wie in mir die Übelkeit aufstieg.