Anitas Schatten

Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass Kråkenes Vater mit offenen Armen aufgenommen hatte. Er konnte in einem Bootshaus am Ortsrand wohnen, mit eigenem Anleger und Boot. Und es war nicht einfach ein schnödes Bootshaus. Ich würde es eher als Luxusausgabe bezeichnen. Rot angestrichen, frisch renoviert, neue Fenster. Innen gab es eine Küche mit Hochbett, das Badezimmer hatte Fußbodenheizung, das Wohnzimmer schöne alte Möbel - und einen riesigen Fernseher. Vom Wohnzimmer aus führte eine steile Treppe zu einem kleinen Schlafzimmer unter dem Dach, das der Prof und ich sofort besetzten.

»Himmel«, sagte Mutter. »Hier wohnst du ja besser als zu Hause.«

»Was nicht ist, das kann noch werden«, sagte Vater. »Wenn diese Glückssträhne noch weiter anhält … Ich muss zugeben, dass es morgens mehr Spaß macht, ins Badezimmer zu gehen, wenn der Boden warm ist. Das Einzige, was wir uns in Torshov nicht zulegen können, ist die Aussicht. Und das Glucksen der Wellen unter dem Wohnzimmerboden bei Flut natürlich.«

»Das haben wir doch schon«, sagte ich. »Wenn ihr die Wellen nicht hören könnt, wenn der Prof unten in die Badewanne steigt, dann müsst ihr euch wirklich mal die Ohren waschen.«

Der Prof überhörte das und wandte sich an Vater. »Wo steckt denn der tote Kabeljau, Pettersen? Ich bin total ausgehungert, weil Peter mich im Flugzeug zum Kotzen gebracht hat.«

»Der liegt im Badezimmer in einem Eimer. Ihr könnt ihn ja zerlegen, dann setze ich die Kartoffeln auf.«

»Schön«, sagte der Prof munter. »Und vergiss die Möhren und Butter mit Eierstücken nicht.«

 

Es war ganz einfach ein Spitzenessen. Gunnar, der frisch geschieden war und nicht gern kochte, war richtig glücklich, als Mutter darauf bestand, dass er zum Essen blieb. Wir saßen also zu sechst um den abgenutzten Holztisch. Dampfender Kabeljau, der wie Perlmutt glänzte, dazu Möhren und Kartoffeln.

»So was kriegst du in der Stadt einfach nicht, selbst wenn du Beziehungen hast«, sagte Vater und spuckte diskret eine Gräte auf den Boden.

»Stimmt«, sagte der Prof. »Wenn sonst niemand den Kopf will …«

»Um Himmels willen!«, sagte Mutter. »Nimm du den nur.«

»Willst du den Kopf fressen?«, fragte My mit freudigem Entsetzen. Sie freute sich immer wieder über die perversen Essensgelüste des Prof.

»Aber sicher!«, sagte der Prof und starrte fasziniert den Kabeljaukopf auf seinem Teller an. Der Kabeljau seinerseits glotzte aus milchweißen Augen blind zurück.

Mir schauderte. Und während der Prof sich mit Hilfe von Schwester My als Gehirnchirurg betätigte, bat ich Vater und Gunnar, von dem Mädchen zu erzählen, nach dem die Boote gerade den Fjord absuchten.

»Wir wissen so gut wie nichts«, sagte Gunnar. »Das ist ja gerade das Schlimme. Und das bisschen, das wir wissen …«

»Ist noch schlimmer«, fiel Vater ihm ins Wort. »Ihr Boot trieb einige Hundert Meter vom Land entfernt auf dem Wasser. Am letzten Samstag. Und man braucht ja nicht viel Fantasie, um sich auszurechnen, was passiert ist. Armes Kind. Mit knapp 16 ist es einfach noch zu früh, um den Löffel abzugeben.«

»Und ihre Eltern? Wie gehen die damit um?«, fragte Mutter.

»Seit acht oder zehn Jahren wohnt sie allein mit ihrem Vater zusammen«, sagte Gunnar. »Ihre Mutter hat sich umgebracht. Manche hier im Ort meinen, Anita könnte die Schwermut ihrer Mutter geerbt haben.«

»Dass sie freiwillig ins Wasser gegangen ist, meinst du?« Der Prof blickte ihn mit ernster Miene an.

»Ich meine das nicht«, sagte Gunnar. »Ich hatte Anita sechs Jahre in meiner Klasse und ich kenne sie als munteres, lebhaftes Mädchen. Und auch wenn die Pubertät …«

»Auch wenn die Pubertät alle um den Verstand bringt, glaubst du nicht an die Selbstmordtheorie?«, fragte ich.

»Nein, das tue ich nicht«, sagte Gunnar und unterdrückte ein Lächeln. »Die Götter mögen wissen, dass ihr Vater ein ziemlicher Idiot sein kann, vor allem nach ein paar Schnäpsen, aber ich glaube nicht, dass sie zu Hause zu leiden hatte. Und ich habe erst vor wenigen Wochen mit ihr gesprochen. Damals hatte sie lauter Pläne für die Sommerferien.«

»Aber kann sie nicht ein bisschen zu früh mit den Ferien angefangen haben?«, fragte der Prof. »Ich meine, jeden Sommer tauchen in Oslo Leute auf, die aus Orten wie diesem hier abgehauen sind. Und ich bin ganz sicher, dass die wenigsten vorher Papa einen Zettel geschrieben haben.«

Gunnar zögerte mit der Antwort. »Möglich ist das natürlich. Aber ich glaube es nicht. Alles hier oben liegt so offen zutage. Jemand hätte davon gewusst. Und Bescheid gesagt. Spätestens, als die Suche losging. Und wir wissen, dass sie kein Flugzeug und keinen Bus genommen hat. Wenn sie mit einem Auto verschwunden ist, dann muss ein Fremder dieses Auto gefahren haben. Und jetzt, außerhalb der Reisesaison, gibt es von der Sorte hier nicht viele.«

»Und die Sache mit dem treibenden Boot sieht ja auch nicht so gut aus«, meinte Vater. »Nein, sie ist sicher ertrunken.«

Mehr wurde bis auf weiteres nicht über diese Angelegenheit gesagt. Der Prof kochte Kaffee und wir sprachen über Fische und das Wetter und über die Verhältnisse im Ort. Und danach wollten die Älteste und die Jüngste einen Blick auf Vaters Kunst werfen, während der Prof und ich zum Anleger liefen, um uns das Boot und die Aussicht anzusehen.

Der Wind hatte sich gelegt und es war nicht mehr so kalt. Ein riesiges Biest von Möwe breitete widerwillig die Flügel aus und segelte im Schrägflug übers Wasser, als wir den Anleger erreicht hatten. Durch das blaugrüne Wasser konnten wir ganz deutlich den Boden sehen, obwohl es mehrere Meter bis zum Grund waren.

»Tja«, sagte ich. »Etwas mehr Wasser als im Oslofjord.«

Der Prof nickte, aber ich merkte, dass er mit seinen Gedanken woanders war.

»Eiwei«, sagte ich. »Jetzt geht es nur noch um die Verschwundene? Um Anita?«

Er beförderte mit der Schuhspitze einen Stein ins Wasser. »Irgendwas an dieser Sache stimmt nicht.«

»Es ist etwas Schreckliches passiert«, sagte ich. »Das ist alles. Ich kann daran jedenfalls nichts Geheimnisvolles erkennen. Falls nicht irgendein Mr. X mit geilem Piepmatz sie aufgelesen hat. Und in dem Fall werden nicht wir sie finden.« Ich nickte in Richtung Meer. »Und wenn sie irgendwo da draußen liegt, auch nicht.«

Er lächelte. »Du kennst mich doch. Manchmal habe ich einfach so ein Gefühl, dass … Ja, dass etwas nicht stimmt.«

»Das weiß ich ja. Und meistens hast du damit sogar Recht. Aber echt - die Frau ist schon seit fast einer Woche verschwunden. Und ihr Boot trieb leer auf dem Fjord herum …«

»Sicher. Das sieht nicht gut aus. Da gibt's wirklich nichts zu diskutieren. Ich habe nur eben so ein Gefühl, dass alles eine andere Erklärung hat als die wahrscheinlichste. Vielleicht werde ich ganz einfach ein bisschen verrückt.«

Ich lachte. »Das wäre wirklich kein großes Wunder. Wir latschen doch überall voll in irgendwelche Mysterien. Aber ich glaube, diesmal kannst du ganz ruhig bleiben, Prof. Hier oben sind Angeln und frische Luft angesagt, sonst nichts. Ich meine, das mit dem Boot hat doch etwas zu bedeuten!«

»Ganz sicher. Aber was?«

»Für mich ist der Fall klar. Sie ist ins Wasser gefallen und ertrunken. Wenn sie das Boot auf dem Wasser gelassen hat und ohne ein Wort an irgendwen nach Kopenhagen abgedampft ist, dann muss sie doch ein ziemlicher Arsch sein. Ihr Vater ist doch bestimmt total fertig.«

»Vielleicht ist der hier ja der Arsch?«, fragte der Prof geheimnisvoll.

»Sehen wir uns lieber mal den Kahn von meinem Alten an«, sagte ich.

»Hab ich schon«, sagte der Prof. »Rana. 14 Fuß. Zehn PS Johnson. In so einem ist Platz genug für eine Menge Kabeljau.«

 

Wir wanderten ins »Zentrum«. Kråkenes war eine Cowboystadt. Zwei sich kreuzende Straßen. Zwei Tankstellen, eine Imbissbude und eine Kirche. Sowie Bürgerhaus, Pizzeria und Wohnhäuser. Das war alles, aber es reichte sicher. Hier konnte man sich nicht einmal verirren, wenn man blind und blau war.

»Langsam kapiere ich, was Gunnar damit gemeint hat, dass hier oben alles so offen zutage liegt«, sagte ich.

»Das ist bloß ein Mythos«, meinte der Prof. »Hier ist es auch nicht offener als in Oslo. Alle Orte, wo Menschen zusammen wohnen, sind geheimnisvoll. Weil der Mensch selber geheimnisvoll ist und voller Rätsel steckt. Wir, zum Beispiel, bilden uns wohl ein, alles voneinander zu wissen. Aber das stimmt natürlich nicht.«

Ich blieb stehen. »Hast du noch andere Perversionen, außer denen, von denen du mir schon erzählt hast?«

Er nickte. »Mein Leben wird von Dämonen und schwarzen Engeln gelenkt. Und im tiefsten Herzen verachte ich alles, was mit Essen zu tun hat. Nein, ganz ehrlich, Peter. Die Menschen wissen im Grunde nicht viel voneinander. Wir leben allesamt mehr oder weniger in unserem eigenen Universum. Und dieses Universum kann sich ändern. Ganz plötzlich. Deshalb nehme ich solche Beschreibungen wie die, die Gunnar von Anita geliefert hat, nicht so wichtig. Dass sie vor ein paar Wochen munter und zufrieden war - was zum Teufel spielt das denn für eine Rolle? Noch am selben Nachmittag kann ihr doch der Himmel auf den Kopf gefallen sein.«

»Der Himmel auf den Kopf?«

»Etwas kann passiert sein. Von dem vielleicht nur sie allein weiß. Etwas, das ihr den Boden unter dem Hintern ganz schön heiß gemacht haben kann.«

»Oder das sie dazu gebracht hat, ganz freiwillig den Löffel abzugeben«, sagte ich.

»Sicher. Natürlich. Aber das glaube ich nun mal nicht. Doch wechseln wir nun das Thema, wie sie im Radio immer sagen. Ich brauche zwei Postkarten.«

»Himmel«, sagte ich. »Du bist doch schneller wieder zu Hause bei Jorun als die Karte.«

»Von der Zukunft haben wir keine Ahnung. Und außerdem hat das nichts damit zu tun. Der Gedanke zählt. Das kleine Signal von mir, das ihr erzählt, dass ich an sie denke. Da spielt es keine Rolle, wann die Karte ankommt.«

»Und sie? Denkt sie an dich?«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine - meinst du, morgen früh wird bei uns eine Eilkarte für dich abgegeben? Eine mit dem Bild vom Osloer Rathaus?«

»Jetzt redest du Müll, Pettersen. Ich glaube, du solltest dir wirklich eine Freundin zulegen. Du schwimmst irgendwie die ganze Zeit immer nur an der Oberfläche herum. Ein bisschen Liebe ist gar nicht schlecht, verstehst du. Liebe macht dir klar, dass nicht alles nur ein Witz, ein unverbindlicher Spaß ist.«

»Alles klar«, sagte ich. »Postkarten kaufen.«

Die Imbissbude entpuppte sich als Kombination von Imbiss und Zeitschriftenkiosk. Es roch nach Pommes und Druckerschwärze, und an einem Resopaltisch saß die obligatorische Freundinnenclique und kicherte über ihren Getränken. Ich fühlte mich sofort ganz unwohl in meiner Haut und wusste nicht, wohin mit meinen Händen, während der Prof gegen solche Situationen immun zu sein schien. Unangefochten spazierte er zum Postkartenständer und spitzte die Lippen, während er das Angebot mit kritischer Miene durchsah.

Berge, Fjorde, Berge, Fjorde. Gewaltige Berge. Blauer, blauer Fjord. Fischkutter, Kabeljauköpfe, Möwen und Eiderenten. Seeadler und noch mehr Berge und Fjorde. Greetings from Norway.

»Habt ihr sonst keine mehr?«, rief der Prof der Frau hinter dem Tresen zu.

»Himmel«, zischte ich. »Das muss doch reichen.«

Der Prof gab mir keine Antwort. Er ging zur Theke und tuschelte mit der Frau. Einige Sekunden darauf verschwand sie mit ungläubiger Miene im Hinterzimmer und kam dann mit einem Schuhkarton zurück, den sie dem Prof hinstellte. Ich hörte sie mit der Zunge schnalzen und vertiefte mich in den Klappentext eines Liebesromans.

Bald darauf saßen wir an einem Tisch und tranken Cola. Der Prof hatte diverse archäologische Funde gemacht und wollte das feiern. Das war übrigens typisch für ihn. Wenn er ins Kino ging, dann sah er sich Filme aus den vierziger Jahren an. Wenn er Bücher las, dann waren die von Schriftstellern, von denen sonst kein Mensch gehört hatte. Und da war es ja nur natürlich, wenn er seiner Freundin aus einer der schönsten Ecken Norwegens eine Postkarte schicken wollte, dass er sich eine schwarzweiße aussuchte, die den Supermarkt des Nachbarortes im Jahre 1963 zeigte. Außerdem hatte er sich eine Ansicht des Altersheimes zur selben Zeit und eine vergilbte Farbpostkarte gesichert, die die Polizeiwache von Harstad um die Mitte der fünfziger Jahre zeigte.

»Die sind Gold wert«, flüsterte er. »Jorun wird außer sich sein! Und die Alte hinter dem Tresen hat nur den halben Preis gefordert. Ich fass es nicht!«

»Ihr spinnt doch beide!« Ich lachte. »Aber ganz ehrlich - schick deiner Mutter eine andere! Wenn du ihr auch schreiben willst, meine ich.«

»Klar doch. Meine Mutter kriegt ein Möwenjunges im Abendrot. Karten wie diese hier gehen nur an Leute, die sie zu schätzen wissen. Man wirft doch keine Perlen vor … Nein, das sollte ich wohl nicht sagen. Mal sehen. Mein liebes Schnuffelchen! Nur ein paar Zeilen von mir aus dem hohen Norden. Hier gibt's spitzenmäßigen Kabeljau, das kann ich dir versichern. Hab sicher 15 Kilo vertilgt.«

Der Prof sprach beim Schreiben laut und langsam. Die Mädels am Nachbartisch kicherten nicht mehr. Sie lachten laut.

Der Prof machte weiter. »Ein ganzer Blumenstrauß aus schönen Frauen hat sich am Nebentisch niedergelassen, aber meine Gedanken sind doch fast nur bei dir. Und ich glaube, sie interessieren sich vor allem für den jungen Pettersen. Jedenfalls lachen sie ununterbrochen.«

Das Lachen verstummte und der Prof blickte verwirrt auf. Ich folgte dem Blick der Mädchen. Und sah auf die Straße. Dort gingen in Ölzeug gekleidete Männer vorbei.

Einer hielt eine triefnasse Windjacke in der Hand. Wasser tropfte von der Jacke auf den Asphalt.

Hinter uns brach jemand in Tränen aus.

»Das war nur der Schatten«, sagte der Prof so leise, dass nur ich es hören konnte. »Das war nur Anitas Schatten.«