Greenpeias

Wir hatten vielleicht zehn oder fünfzehn Meter zurückgelegt, als jemand uns rief. Frau Schultz kam angelaufen und winkte mit der rechten Hand. In der linken trug sie eine Plastiktüte.

»Seht mal!«, sagte sie atemlos. »Das habt ihr verdient, weil ihr rechtzeitig Bescheid gesagt habt.«

»Nein, das ist doch nicht …«, fing ich an, aber der Prof trat mir vors Schienbein, worauf ich verstummte. Und bei näherem Nachdenken ging mir auf, dass er Recht hatte. Dieser Einbruch hätte ziemlich übel enden können, wenn wir ihn nicht rechtzeitig entdeckt hätten. Auf einem Segler von diesem Kaliber war schließlich jede Menge teurer Technik an Bord.

Die Plastiktüte enthielt zwei riesige Toblerone-Packungen für uns und eine Flasche Weißwein, die ziemlich edel aussah, »für eure Eltern«. Frau Schultz hielt uns sicher für Brüder, und wir sahen keinen Grund, hier irgendwelche Erklärungen abzugeben. Außerdem steckte sie uns jedem einen Hunderter zu. Wir bedankten uns höflich und nutzten die Gelegenheit, um ihren Kahn in höchsten Tönen zu loben, und bei so was schmelzen alle Bootsbesitzer. Als wir uns verabschiedeten, hatte ich fast das Gefühl, dass der Prof und ich eine neue Freundin hatten.

»Nette Frau«, sagte ich, als wir weitergingen.

»Ja«, sagte der Prof. »Aber irgendwo stimmt hier was nicht. Oder, genauer gesagt: Hier stimmt ganz schön viel nicht. Zuerst dieser Selbstmord - oder das Unglück, woran ich nicht glaube. Dann dieser seltsame Einbruch. Ein Einbruch, den diese Leute nicht mal angezeigt hätten, wenn die Polizei nicht ohnehin schon informiert gewesen wäre. Kann es vielleicht sein, dass sie etwas zu verbergen haben?«

»Was sollte das denn sein?«, fragte ich. »Drogen? Unwahrscheinlich, wenn du mich fragst.«

»Tja. Ja, du hast wohl Recht. Andererseits haben in dieser Branche doch wohl die Leute Erfolg, die nicht das tun, was alle anderen für wahrscheinlich halten. Aber warum zum Kranich bricht irgendwer in einem Schiff ein und macht Fotos? Da liegt doch der Hund begraben. In dieser Frage.«

»Wenn die ihren Kahn mit Drogen beladen haben, dann liegen die wohl kaum auf dem Tisch rum, während sie in der Pizzeria sitzen und Bier trinken«, sagte ich. »Und der Typ, der an Bord war, hatte nicht genug Zeit, um richtig zu suchen. Außerdem: Unser Fotograf würde sich wohl kaum mit zwei Fotos von so einer Ladung zufrieden geben. Entweder hätte er die Leute angezeigt oder er hätte, falls er in derselben Branche tätig ist, den Stoff eingesackt. Hätte ihn ganz einfach geklaut.«

»Ja«, sagte der Prof. »Aber die Schultzes können ja .auch einfach nur behauptet haben, es sei nichts verschwunden. Wenn ihnen zum Beispiel ein Kilo Heroin fehlt, dann erzählen sie das ganz bestimmt nicht hier im Hafen herum.«

»Natürlich nicht«, meinte ich. »Aber trotzdem stimmt das irgendwie nicht. Ich habe zwar noch nie Leute gesehen, denen gerade ein Kilo Heroin abhanden gekommen ist, aber die sehen bestimmt nicht so lässig aus wie die Schultzes. Dafür steht zu viel Kohle auf dem Spiel. Und der Sheriff kennt sie doch offensichtlich. Ich hatte jedenfalls nicht den Eindruck, dass die zum ersten Mal hier sind.«

»Was macht ihr denn da eigentlich?« Plötzlich tauchte zwischen zwei an Land gezogenen Booten meine Mutter auf. Sie trug einen grünen Plastikeimer in der Hand. »Jetzt habe ich alle sauber gemacht, aber ich finde, ihr seid alt genug, um euch selber um eure Fische zu kümmern.«

»Wir wollten uns ja auch gar nicht drücken«, sagte ich. »Aber erstens mussten wir kurz einem Einbrecher das Handwerk legen. Und zweitens …«

»Haben wir auf dem Rückweg beim Kiosk vorbeigeschaut und für Rolf und dich eine Flasche Wein gekauft«, fügte der Prof hinzu. Er hielt ihr die Flasche hin. »Riesling. Ich hoffe, der ist nicht zu süß für dich, ich weiß ja, dass du's gern trocken hast.«

Sie blickte uns ungläubig an. Uns und die Flasche. »Was soll das denn nun wieder? Habt ihr schon wieder irgendeinen Unfug angerichtet? Meine Güte, ihr seid einfach unglaublich! Was sollen wir mit euch beiden bloß anstellen? Soviel ich weiß, gibt es keine Entwöhnungskuren für notorische Schnüfflertätigkeit. Zeig noch mal die Flasche! Himmel, das ist wirklich ein Spitzenwein.« Plötzlich blickte sie vom Etikett hoch und sah mich an. »Also, was ist hier eigentlich los?«

Wir lieferten ihr eine Kurzfassung der Lage.

»Aber, mein Junge«, meinte sie besorgt. »Tut das jetzt schrecklich weh?«

»Nein«, sagte ich. »Nur weh.«

»So was kann gefährlich sein, weißt du. Davon kannst du zeugungsunfähig werden und so.«

»Keine Panik«, sagte der Prof. »Eh du dich's versiehst, bist du auch schon Großmutter. Peter muss sich nur schnell noch eine Freundin zulegen. Der Junge hat doch Eier aus Beton.«

 

Wir gingen schlafen. Unten in der Küche hörten wir meine Eltern, die in kindlichem Eifer Kommentare über den Wein von sich gaben. Der Prof, der im Bett immer noch eine Runde lesen musste, überflog die Lokalzeitung.

»Gute Lektüre, diese Kråkenespost«, schmunzelte er. »Hör dir das mal an: Derjenige, der am Mittwochabend vor dem Supermarkt mein Fahrrad gestohlen hat, soll es sofort zurückstellen. Andreas Hansen. PS: Ich weiß, dass du das warst, Kjell.«

Ich lachte. »Nichts über Anita?«

»Doch, natürlich. Hauptsächlich über Anita. Fast alles handelt von Anita. Ist doch immer so, wenn junge Leute verschwinden oder unerwartet sterben. Immer waren sie etwas ganz Besonderes. Der Sonnenstrahl aller. Die beste Stütze ihres Vaters und eine Hilfe für alle alten Leute. Kinder und Jugendliche beten sie an. Ich meine, ich will ja nicht zynisch sein, aber wenn ich so etwas lese, dann habe ich fast den Eindruck, dass der Ort evakuiert werden muss, wenn sie nicht zurückkommt. Ich finde es ziemlich geschmacklos, dass sie sich nicht ein bisschen gemäßigter ausdrücken können. Schließlich ist nicht noch einmal Jesus Christus von uns gegangen, sondern aller Wahrscheinlichkeit eine ganz normale junge Norwegerin. Schlimm genug, natürlich. Wenn es denn wirklich so war, wohlgemerkt.« Er blätterte weiter.

»Warum bist du eigentlich so skeptisch, Prof. Ist das bloß ein Gefühl, oder weißt du etwas, was du mir aus irgendeinem Grund nicht erzählen willst?« Zu meinem eigenen Ärger hörte ich mich dabei ziemlich sauer an.

Der Prof musterte mich aufmerksam über den Zeitungsrand hinweg.

»Nein«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Ich muss zugeben, dass ich nichts Konkretes weiß. Aber hier spielt sich irgendetwas ab, genau vor unserer Nase. Davon bin ich reichlich überzeugt. Überleg doch bloß. Erst dieses Verschwinden. Seit diese Reise hierher geplant war, habe ich sehr genau den Wetterbericht verfolgt. Am Tag, an dem sie verschwunden ist, gab es kaum Wind und fast an der ganzen Küste hat die Sonne geschienen. Und die Leute hier oben können doch mit Booten umgehen. Die Kinder wachsen hier so mehr oder weniger im Boot auf, Peter. Natürlich kann sie Pech gehabt haben, das weiß ich ja auch. Aber es kommt mir nicht wahrscheinlich vor. Und in der Zeitung steht, dass sie sonst nie allein rausgefahren ist. Sie scheint von der geselligen Sorte zu sein. Mitglied bei der Landjugend und bei drei Dutzend anderen Vereinen. Und dann ist da noch die Sache mit ihrer Jacke. Dass die gefunden wurde, wirkt doch wie ein verdammter Glückstreffer.«

»Da liegst du wirklich daneben, Prof. Ich habe im Bootskurs jedenfalls gelernt, dass man dicke Kleidungsstücke so schnell wie möglich loswerden muss, wenn man im Wasser gelandet ist. Die ziehen nach unten und hindern dich am Schwimmen.«

»Sicher. Aber ihr Boot war nicht umgekippt. Es trieb ganz normal auf dem Wasser. Und wenn Anita es geschafft hat, im Wasser diese Windjacke auszuziehen, was schließlich alles andere als leicht ist, dann war sie auf jeden Fall bei vollem Bewusstsein und kräftemäßig in Spitzenform. Und dann raffe ich ja nicht, warum sie ihre Kräfte nicht genutzt hat, um sich wieder an Bord zu ziehen. Das ist nun wirklich nicht so verdammt schwierig. Vergiss nicht, hier ist die Rede von einer Zehn-Fuß-Jolle, nicht von einem blöden Fischkutter.«

»Du hast eins vergessen«, sagte ich.

»Und das ist?« Nun musterte er mich fast schon feindselig. Der Prof gehört nicht zu der Sorte, die sich gern ihre Theorien runtermachen lässt.

»Sie kann bei voller Fahrt über Bord gegangen sein. Und dann ist ihr das Boot ganz einfach weggefahren.«

Er legte die Zeitung weg und knipste die Leselampe aus. »Gute Nacht!«, sagte er und drehte sich zur Wand.

Und nach ein oder zwei Minuten: »Das können wir ja morgen überprüfen. Nur so zum Zeitvertreib, meine ich. Und du - nur noch eins, ehe das Sandmännchen angetanzt kommt: Kann dich da oben in der Gasse vielleicht der wortlose Tor fotografiert haben?«

»Ja«, sagte ich. »Das kann er. Das Problem ist nur, dass es auch so gut wie jeder andere gewesen sein kann. Ich habe wirklich nur einen Schatten gesehen.«

»Zwei Mysterien«, der Prof seufzte tief. »In so einem Kaff. Einigen wir uns darauf, dass es verhältnismäßig wahrscheinlich wirkt, dass sie auf irgendeine Weise zusammenhängen?«

»Von mir aus gern«, sagte ich. »Davon werde ich auch nicht weniger müde. Gute Nacht!«

»Nacht.«

Ich wollte gerade meine Lieblingsfantasie ablaufen lassen, die mit Vibekke in der Hauptrolle, als die Stimme des Prof noch einmal die Dunkelheit zerriss. »Schläfst du schon?«

»Nein, ich wollte gerade ein paar gewagte Gedanken riskieren«, sagte ich. »Was ist denn jetzt wieder?«

»Riecht die Kiste vielleicht nach Greenpeias

»Greenpeias

»Greenpeace. Die Leute hier oben nennen die 'Greenpeias‘ Das Wort Peias bedeutet in einigen Dialekten hier so viel wie Blödmann oder Clown und jedenfalls einen wenig sympathischen Typen. Schließlich sind die Leute hier an der Küste alles andere als begeistert von diesem Verein. Weil die sich so gegen den norwegischen Walfang einsetzen.«

»Weiß ich doch«, sagte ich. »Das weiß die ganze Welt. Aber ich glaube nicht, dass sie jetzt schon junge Norwegerinnen entführen. Auf diese Weise kriegen die doch keine PR!«

»Nein, ich hatte auch eher an den Einbruch gedacht. Im Winter sind sie auf einem Walfänger eingebrochen und haben ihn versenkt.«

»Falsch«, sagte ich. »Das war nicht Greenpeace, sondern Sea Shepherd. Und hier oben gibt es keinen einzigen Walfänger. Der Bruch war auf einem Segelboot, das deutschen Touristen gehört. Tut mir Leid, Prof, aber ich glaube, deine Birne ist nicht mehr ganz wach.«

»Das werden wir ja sehen«, sagte er. »Meine Ideen sind nur selten total daneben.«

Ich gab keine Antwort. Ich drehte mich zur Wand und schloss die Augen. Vibekke schwamm langsam durch einen stillen Waldsee, und dabei war sie nur mit ihrer Zahnspange bekleidet.