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Die Überfahrt

Das Schiff erinnerte sie an die Piroge ihres Vaters. Es war kaum größer als das kleine Fischerboot, das ihre Familie über viele Jahre ernährt hatte, bevor ihnen die Lebensgrundlage entzogen worden war – der Fisch vor den Küsten Senegals. Wie das Boot ihres Vaters war es kunterbunt angestrichen. Der Anblick trieb Saba Tränen in die Augen. Würde es ein Abschied für immer von ihrem Heimatland sein? Das Boot, das sie ans Ziel ihrer Träume – Europa – bringen sollte, weckte viele Kindheitserinnerungen in ihr. Schnell wischte sie die Tränen beiseite, sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen, dies war die Chance ihres Lebens, und sie wollte sie nutzen!

Die Piroge legte mitten in der Nacht ab. Der Kapitän und der Schlepper wollten außer Sichtweite der Küste sein, bevor es hell wurde. Saba war die einzige Frau an Bord. Mit ihr und fünfunddreißig Männern tuckerte das nur eingeschränkt seetüchtige Boot in ausreichendem Abstand zur Küste gen Norden. Die Passagiere lebten in der ständigen Angst, aufgegriffen und zurückgeschickt zu werden. Dann wäre die hohe Investition umsonst gewesen. Ihr Vater Amadou hatte sein gesamtes Vermögen in diese Überfahrt investiert. Saba konnte es sich nicht leisten, zu scheitern.

Dass die Bootsfahrt anstrengend werden würde, war ihr klar gewesen; dass ihr jedoch eine solche Tortur bevorstand, damit hatte sie nicht gerechnet. Die Hitze und vor allem der Mangel an Wasser und Nahrung setzten ihr zu. Saba hatte gehört, dass es auf solchen Schiffen sexuelle Übergriffe auf die wenigen Frauen gegeben habe, die die gefährliche Überfahrt wagten, doch sie hatte Glück. Die Männer an Bord ließen sie in Ruhe. Die meiste Zeit kauerte sie sich an der Spitze des Bootes zusammen und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Ein Verhalten, das sie in den nächsten Jahren noch perfektionieren würde.

Nach zwei Wochen waren sie am Ende ihrer Kräfte. Die Wasservorräte gingen zur Neige, und sie hatten kaum noch etwas zu essen. Immer öfter kam es zu Streit zwischen den Männern an Bord, die Nerven lagen bei allen blank. Saba wusste, dass die Lage für sie als einzige Frau immer gefährlicher wurde. Sie war eines der schwächsten Glieder in der Kette, und das konnte ihr nun leicht zum Verhängnis werden. Zum Glück gab es an Bord zwei junge kräftige Männer, die sich um sie kümmerten und sie unter ihren Schutz stellten.

Mitten in der Nacht, bei sternenklarem Himmel und Vollmond, tat sich vor ihnen die karge Küste von Fuerteventura auf, die erste Station auf ihrer langen Reise nach Paris. Sie hatten ihr Ziel in letzter Minute erreicht. Die Wasservorräte waren zu Ende, und einen weiteren Tag unter der glühenden nordafrikanischen Sonne hätten einige von ihnen nicht überstanden. Noch in der Nacht gingen sie bei ruhigem Seegang in einer abgelegenen Bucht vor Anker; keine Polizei erwartete sie.

Bei ihrer waghalsigen Überfahrt hatten sie im Nachhinein mehr Glück als Verstand gehabt. Viele andere vor ihnen waren bei dem gleichen Versuch gescheitert, ihre kleinen Boote waren bei heftigem Seegang gesunken, und die wenigen, die es an Land schafften, wurden häufig von den Behörden aufgegriffen und in ihre Heimatländer zurückgeschickt.

Kaum war die kleine Gruppe an Land, verstreuten sich ihre Mitglieder in alle Winde, lösten sich in Luft auf. Jeder war ab jetzt auf sich allein gestellt, kämpfte seinen eigenen Kampf.