»Ah, Monsieur Sturni. Sie sind ja pünktlicher als die deutschen Maurer! Ich bin Iven Droumaguet, Leiter der Spezialeinheit corruption industrie nucléaire. Seien Sie herzlich willkommen in unserem kleinen Team!«
»Enchanté – angenehm!«
Antoines Interimsvorgesetzter schüttelte ihm kräftig die Hand. Er hatte sich um halb zehn an seinem neuen Arbeitsplatz am Quai des Orfèvres eingefunden. Um diese humane Uhrzeit war Pünktlichkeit keine große Kunst. Trotzdem war er, abgesehen von seinem neuen Vorgesetzten, der Erste im Büro.
»Normalerweise komme ich montagmorgens erst etwas später zur Arbeit. Meine Vorzimmerdame hat Sie wohl um diese nachtschlafende Zeit eingeladen, ohne es vorher mit mir abzustimmen. Tant pis pour nous – Pech für uns!«
Droumaguet grinste und gähnte dann erst einmal ausgiebig. Er spielte seinem neuen Mitarbeiter wahrlich keinen übertriebenen Arbeitseifer vor.
Sturni hatte schlecht geschlafen. Die billige Kaltschaummatratze und der stählerne Lattenrost ohne Federung sorgten dafür, dass sein Rücken schmerzte. Er war total verspannt. Außerdem vertrug er Höhenluft nicht so gut. Nur zaghaft hatte er gestern aus dem schrägen kleinen Fester im siebten Stock geschaut. Dabei war der herrliche Ausblick noch das Beste an seiner Absteige. Man konnte von dort den gesamten Jardin du Luxembourg überblicken. Dummerweise war er nicht schwindelfrei, also hielt er sich fern von dem Fensterchen, was bei der Zimmergröße gar nicht so einfach war.
Ohne Frühstück und mit einem dem libanesischen Rotwein geschuldeten Brummschädel quälte er sich die steilen Stufen hinunter. Mit beiden Händen klammerte er sich dabei am Geländer fest; diese enge Wendeltreppe war die Hölle für Menschen mit Akrophobie.
Schon am frühen Morgen war es drückend heiß in der Metropole; Mitte August erstickte Paris unter einer Dunstglocke von Autoabgasen. Schweißüberströmt erreichte er die Rue Saint-Jacques und schlenderte gemütlich in Richtung Île de la Cité. In einer Millionenstadt wie Paris war es ein Luxus, zu Fuß zur Arbeit gehen zu können. Über die Lage seiner Wohnung konnte er sich wahrlich nicht beschweren. Noch lieber wäre ihm aber anstatt seines chambre de bonne eines der Edelapartments in einem der unteren sechs Stockwerke gewesen. Leise verfluchte er die Verwaltung der direction centrale de la police judiciaire, die ihm diesen Schlamassel eingebrockt hatte.
Sein Fußweg zur Arbeit war allerdings ein Traum. Die schmale Straße, die direkt zur Seine hinunterführte, beherbergte eine Vielzahl von netten Bars, Cafés und Restaurants. An der Straßenkreuzung Rue Soufflot nahm er an einem Bistrotisch in einem der Cafés Platz, um sich mit einem starken doppelten express und Croissants mit Butter und Marmelade mental auf seine neue Aufgabe vorzubereiten. Er zog eine seiner filterlosen Gauloises aus der himmelblauen Schachtel und zündete sie in aller Ruhe an. Antoine war früh dran, hatte alle Zeit der Welt.
Auf seinem portable prüfte er, ob es neue Nachrichten von Margaux oder Christian gab, was nicht der Fall war. Die beiden schienen ja bestens ohne ihn zurechtzukommen. Er nutzte die freie Zeit, um noch ein wenig im Netz zu surfen und sich über die Umgebung zu informieren. Bei seinem neuen Wohnort handelte es sich um eine der ältesten Straßen in Paris. Schon die Römer hatten sie als südliche Ausfallstraße aus der Stadt angelegt. Die Rue Saint-Jacques führte an der Université Paris-Sorbonne vorbei, und das studentische Flair war überall zu spüren. Rechter Hand lag das Panthéon, in dem berühmte französische Dichter und Denker der letzten Jahrhunderte begraben waren.
Er nahm sich vor, das Beste aus seiner Zeit in Paris zu machen. Die drei Monate würden vergehen wie im Flug. Außerdem musste selbst er als eingefleischter Straßburger zugeben, dass er es wesentlich schlimmer hätte treffen können. Obwohl er sich gerade im Herzen der Metropole befand, strahlte Paris im südlichen Teil des 5. Arrondissements eine fast schon kleinstädtische Ruhe aus. Es musste am Sommermonat August liegen; viele Läden waren geschlossen, halb Paris machte Urlaub an einer der französischen Küsten, und die Touristen aus aller Welt knubbelten sich um die bekannten Sehenswürdigkeiten. In der Rue Saint-Jacques hingegen war es ruhig wie in seinem Straßburger Stadtteil Krutenau im November …
La Rentrée, die Rückkehr der Franzosen aus ihren endlos langen Sommerferien, stand kurz bevor, und schon in wenigen Tagen würde Paris wieder in große Hektik verfallen. Man hatte ein Gefühl von Ruhe vor dem Sturm. Sturni musste sich eingestehen, dass er sich hier wohlfühlte, und wunderte sich über sich selbst, er, das elsässische Landei, in einer Weltstadt …
Nachdem er seine dritte clope – Kippe – ausgedrückt und seinen zweiten express in einem Zug ausgetrunken hatte, begab er sich in aller Ruhe auf die Île de la Cité. Beim Überqueren der Pont Cardinal Lustiger hatte er rechter Hand einen traumhaften Blick auf die Kathedrale Notre-Dame de Paris. Wer würde ihn nicht um einen solchen Arbeitsplatz beneiden? Er dachte an Bougets Worte. Sollte sein verhasster Vorgesetzter doch recht behalten? Nie war Sturni über das Elsass hinausgekommen, nie hatte er über den Tellerrand geblickt. Vielleicht war es ja tatsächlich an der Zeit, neue Horizonte zu entdecken. Warum nicht in der Stadt der Liebe, die nach gängiger Auffassung als die schönste der Welt galt …?
Dummerweise saß seine neue Liebe in Straßburg und wartete dort auf ihn. Hoffentlich … Margaux war kein Kind von Traurigkeit, und er hoffte inständig, dass ihr junges Glück die drei Monate Trennung unbeschadet überstehen würde. Bei Margaux’ Männerverschleiß wäre das ein Wunder. Wenn ihre Beziehung in dieser Zeit hielt, dann meinte sie es wirklich ernst mit ihm. Vielleicht war die räumliche Trennung ja eine Chance für sie beide.
Sturni hatte sich nach anfänglichem Zögern heiß in seine Sekretärin verliebt, die erst vor wenigen Tagen vollzogene Scheidung steckte ihm aber immer noch in den Knochen. Caroline war bereits im fünften Monat schwanger und mit Vollgas ins zweite Glück gestartet. Konnte er hingegen seiner neuen, etwas leichtlebigen Freundin vertrauen? On verra – man würde sehen …
Hinter der Brücke wandte er sich nach links und bummelte zum Quai des Orfèvres. Die direction de la police judiciaire war in einem imposanten Gebäude untergebracht, rundum gesichert mit Überwachungskameras. Wie hatte Bouget es nur geschafft, ihn in einer solchen Eliteeinheit unterzubringen? Antoine Sturni, den kleinen Kriminalhauptkommissar aus Straßburg. Bouget schien in Paris tatsächlich bestens vernetzt zu sein.
»Ich zeige Ihnen Ihr neues Büro. Sie haben einen Blick direkt auf die Seine und die traumhaften Häuserfassaden an der rive gauche – das südlich gelegene Ufer der Seine.«
Das frühe Aufstehen hatte seinem neuen Direktor nicht die Laune verdorben.
»Sie wissen, dass ich Leiter der Mordkommission in Straßburg bin? Mit Betrug, Korruption, Finanzfragen und der Atomindustrie habe ich mich bisher noch nicht vertieft befasst.«
Sturni hatte immer noch Bedenken, welchen Beitrag er in dieser Spezialeinheit leisten sollte. Er war einfach nicht vom Fach.
»Mein lieber Herr Sturni, in meinem vorherigen Leben war ich Polizeidirektor in Rennes in der Bretagne. Ich gehe in sechs Monaten in den wohlverdienten Ruhestand. Das sind meine letzten Monate im Amt, und glauben Sie mir, ich habe wirklich keine Ahnung, weshalb man mich für die Leitung dieser Spezialeinheit ausgewählt hat. Machen Sie sich also keine Sorgen und genießen Sie Ihre Zeit in der schönsten Stadt der Welt. Ich zumindest mache es so. Mit meiner kargen Pension werde ich mir ein Leben in Paris nicht leisten können, und es war schon immer mein Traum, für einige Zeit hier zu leben. Schön, dass er kurz vor meinem Ruhestand noch in Erfüllung geht.«
Droumaguet war ihm auf Anhieb sympathisch. Er erinnerte ihn stark an Bougets Vorgänger, seinen väterlichen Freund Adrien Schmidiger: kräftig, etwas untersetzt und mit einem riesigen Schnauzbart ausgestattet. Überhaupt bestanden viele Ähnlichkeiten zwischen Elsässern und Bretonen. Beide hielten eine gesunde Distanz zum von Paris dominierten Zentralstaat und versuchten, ihre Sprache und ihre Kultur nach Kräften zu bewahren. Droumaguet strahlte eine große Ruhe und Zufriedenheit aus, ganz anders als sein aalglatter und karrieregeiler Direktor in Straßburg. Es beruhigte ihn, dass auch Droumaguet ein erfahrener Polizist, aber kein Experte für Wirtschaftsdelikte war. Nicht einmal über technischen Sachverstand in Sachen Atomenergie schien er zu verfügen. Sie würden ihm hier schon nicht den Kopf herunterreißen. Er würde, wie immer, sein Bestes geben und sich ansonsten eine schöne Zeit in Paris machen, chambre de bonne hin oder her.
Sein Büro war zwar klein, aber er genoss in der Tat einen herrlichen Blick auf die andere Seite der Seine. Leider war bereits alles mit Akten vollgestopft. Damit würde er sich in den nächsten Monaten wohl beschäftigen müssen. Auf seinem Schreibtisch wartete ein mit Dokumenten gefüllter Umschlag auf ihn.
»Ich habe eine kurze Einführung in die Thematik für Sie erstellen lassen. Wie Sie vielleicht schon erfahren haben, gibt es eine freischaffende und ziemlich hartnäckige Journalistin, die sich die Machenschaften der französischen Atomindustrie vorgenommen hat. Sie treibt die Konzerne, Behörden und Politik mit immer neuen Enthüllungen vor sich her.«
Droumaguet drückte ihm zwei Blätter mit Bild und Lebenslauf der Journalistin in die Hand.
»Zoé Le Coq! Sie ist der Albtraum der französischen Atomkonzerne, und auch der Politiker und Behörden, die mit der Industrie zu tun haben.«
Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Eine bildhübsche junge Frau, dunkle, fast schon schwarze, lange Haare, ein wacher, intelligenter Gesichtsausdruck, der Humor verriet.
»Über ihren Blog informiert sie im Internet ständig über Vorkommnisse bei den französischen Atomkonzernen. Sie muss gute Quellen haben und hat schon einige schwerwiegende Pannen aufgedeckt, die von den Konzernen und sogar von der Atomaufsichtsbehörde, der autorité de sûreté nucléaire, als eher harmlos deklariert wurden.«
Die Atomindustrie war Teil der französischen DNA, die Basis der Stromversorgung des Landes. Die Politik setzte auch weiterhin massiv auf diese umstrittene Methode der Energiegewinnung. Kaum ein Monat verging, in dem nicht ein hochrangiger Politiker versicherte, die französischen Atommeiler seien die sichersten der Welt. Der Blog von Zoé Le Coq sprach eine andere Sprache …
»Le Coq ist das personifizierte schlechte Gewissen der Nation. Es ist immer das gleiche Muster, gegen das sie ankämpft. Erst alles abstreiten, dann, wenn die Beweislast zu erdrückend wird, scheibchenweise informieren und dabei die Risiken für die Bevölkerung herunterspielen und verharmlosen.«
Sturni kannte das Spiel nur zu gut. Der älteste und pannenanfälligste Atommeiler Frankreichs stand dummerweise im Elsass, nur wenige Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt. Die Franzosen standen ihren Atomreaktoren relativ indifferent gegenüber, viele waren sogar stolz auf sie. Billiger Strom aus der Steckdose war ihnen wichtiger als die Angst vor einem möglichen atomaren Super-GAU, der in Frankreich ohnehin völlig ausgeschlossen war. Schließlich lebte man nicht in der Ukraine oder in Japan, sondern im gelobten Land der Grande Nation …
Mutigen Journalisten wie Le Coq war es zu verdanken, dass sich die Stimmung in der französischen Bevölkerung nach und nach änderte. Fast im Alleingang hatte sie einen solch großen öffentlichen Druck aufgebaut, dass die Regierung sich dazu genötigt sah, hart durchzugreifen und den Anschuldigungen Le Coqs auf den Grund zu gehen, und zwar mit einer schlagkräftigen Ermittlertruppe.
»Ich stelle Ihnen noch die übrigen Mitglieder des Teams vor, und dann überlasse ich Sie dem Aktenstudium.«
Es war inzwischen halb elf, und die kleine Einheit war eingetrudelt. Aus ganz Frankreich hatte man Polizeibeamte für dieses Team zusammengestellt, allesamt sympathische gestandene Beamte. Nur Experten für Wirtschaftskriminalität und Beamte mit technischem Sachverstand im Bereich Atomenergie waren nicht darunter, sondern ein weiterer Kriminalkommissar aus Bordeaux, ein IT-Fachmann aus Marseille – immerhin –, eine junge Inspektorin von der Spurensicherung in Toulouse ….
Nachdem sie ihren kleinen Rundgang beendet und wieder Sturnis Büro erreicht hatten, überließ Droumaguet ihn seinem Schicksal. Lustlos blätterte er in dem Dossier, das Droumaguet für ihn vorbereitet hatte.
Am meisten interessierte ihn noch der Lebenslauf von Zoé Le Coq. Was für eine Frau! Sie hatte zwei Hochschulabschlüsse am Institut d'études politiques de Paris – der berühmten »Sciences Po« – und an der École nationale supérieure des mines de Paris erworben. Zwei Diplome an französischen Kaderschmieden, die eine für Politik und Verwaltung, die andere für Ingenieure, das musste ihr erst einmal jemand nachmachen.
Im Anschluss an ihre beiden Studienabschlüsse hatte sie sogar noch ein elitäres Aufbaustudium draufgesattelt, das sie für höchste Ämter im technischen Bereich qualifizierte, sei es in Politik, Verwaltung oder Wirtschaft. Nur die Besten der Besten erhielten Zugang zu diesem Programm.
Da sie unabhängig bleiben wollte, entschied sie sich nach dem Studium trotz attraktiver Angebote aus Industrie und Staatsdienst für ein Leben als freie Journalistin. Unabhängigkeit und Freiheit schienen ihr das höchste Gut zu sein. Sie konnte es sich leisten, denn ihre Mutter stammte aus einem alten französischen Adelsgeschlecht, und ihr Vater war ein steinreicher Verleger, der sie immer dazu animiert hatte, frei, unabhängig und unbequem zu sein. Le Coq hatte keine Scheu davor, sich mit den Großen in Politik und Wirtschaft anzulegen; für sie war es geradezu eine Herausforderung, die Missstände in der französischen Gesellschaft und in der Politik gnadenlos anzuprangern. Seit einiger Zeit hatte sie es auf die französische Atomindustrie abgesehen, ihr aktuelles Projekt sozusagen.
Nachdem er mit Le Coqs Lebenslauf fertig war, nahm er sich ein weiteres Dossier mit einer Einführung in die Strukturen der französischen Atomindustrie vor. Besonders pikant in diesem hochsensiblen Industriezweig war die enge Vernetzung zwischen Staat und Industrie. Die Konzerne gehörten mehrheitlich dem Staat. Spitzenkräfte aus Industrie und Politik wechselten munter zwischen den Führungspositionen in den Konzernen und Ministerien hin und her. Vor diesem Hintergrund erschien eine unabhängige Atomaufsicht nicht besonders glaubwürdig. Die großen Konzerne waren die chouchous – die Schoßhündchen – der französischen Politik, das war allgemein bekannt.
Den Rest des Dossiers kannte er im Großen und Ganzen aus den Medien. Die Konzerne waren nicht zimperlich, und das in jeder Hinsicht. Es gab Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit dem Erwerb und Betreiben afrikanischer Uranminen. Zulieferbetriebe der Industriegiganten sollten minderwertige Ersatzteile verkauft haben, die höheren Gewinnmargen sollten angeblich in die privaten Kassen von Managern geflossen sein; man munkelte auch über Schmiergeldzahlungen an hochrangige Politiker et cetera …
Das Muster war dabei immer das Gleiche. Investigative Journalisten, mit Le Coq als Gallionsfigur, und die Anti-AKW-Bewegung in Frankreich deckten immer neue Skandale auf. Die Politik reagierte, versprach Ermittlungen und leitete diese ein. Es wurde ermittelt und dann, zumeist aus Mangel an Beweisen oder sonstigen dubiosen Gründen … keine Anklage erhoben.
Die Einrichtung der kleinen »Eliteeinheit«, deren Teil er sein durfte, stellte lediglich einen weiteren Befreiungsschlag der Politik dar. Man wollte der Öffentlichkeit zeigen, dass man sämtlichen Anschuldigungen konsequent nachging. Komischerweise stellten sich die Anschuldigungen der Anti-AKW-Leute dann immer als haltlos heraus …
Punkt zwölf Uhr ließ Sturni das kleine Dossier auf den Schreibtisch fallen und machte sich auf zu einer ausgedehnten Mittagspause. Es war einfach schwachsinnig, ihn in diese Sonderermittlereinheit zu schicken. Sein Metier waren Mord und Totschlag, er verstand etwas von Gewaltverbrechen, aber bezüglich des eben Gelesenen war er blutiger Laie, und dabei war das Dossier, in dem er geblättert hatte, Droumaguets Kurzzusammenfassung für Dummies!
Er flanierte über den großen Platz, an der Kathedrale Notre-Dame vorbei. Während Paris in seinem Stadtteil wie ausgestorben wirkte, war vor der Kathedrale die Hölle los. Touristen aus aller Welt tummelten sich hier, darunter viele Chinesen und Inder. Er überquerte den Pont Saint-Louis und bummelte die Rue Île Saint-Louis en Île hinab. Margaux, die Paris viel besser kannte als er, hatte ihm vor seiner Abreise erzählt, dass es bei Berthillon das beste Eis der Stadt gebe. Sie wollte ihm wohl Mut machen, als er ihr vollkommen geknickt erzählte, dass Bouget ihn nach Paris schicken würde.
An der langen Menschenschlange vor der kleinen Eisdiele erkannte er, dass er sein Ziel erreicht hatte. Als er an der Reihe war, staunte er nicht schlecht: 2,50 Euro für eine Kugel Eis, das waren gesalzene Preise – Paris eben. Da er während seiner Abordnungszeit eine üppige Zulage erhalten würde, kümmerte ihn der Preis nicht sonderlich, und er bestellte sich gleich vier Kugeln. Margaux’ Geheimtipp war Gold wert, das Eis konnte es locker mit dem von Chez Franchi im Parc de l'Orangerie in Straßburg aufnehmen.
Nach dem Mordfall an Dr. Hasselfeld hatte er ordentlich abgespeckt. Außerdem stand ihm in den nächsten drei Monaten regelmäßiger Ausdauersport in Form von Treppensteigen in luftiger Höhe bevor. Er konnte sich die Riesenportion Eis also ohne schlechtes Gewissen erlauben …
Entspannt begab er sich zurück an seinen Arbeitsplatz. Er wollte nicht gleich an seinem ersten Arbeitstag einen schlechten Eindruck wegen einer überzogenen Mittagspause hinterlassen. Die Sorge war unbegründet. Seine Abteilung war noch komplett verwaist, als er ins Büro zurückkehrte.
Lustlos nahm sich Antoine den ersten dicken Aktenordner vor, nachdem er Droumaguets Begrüßungsdossier gelesen hatte. Der Ordner enthielt massenhaft Abrechnungen und Bilanzen, doch er verstand nur Bahnhof. Es handelte sich wohl um Jahresabschlussbilanzen der verdächtigen Konzerne, die er auf Unstimmigkeiten überprüfen sollte. Comment? Verfügte die öffentliche Hand über keine gelernten Wirtschaftsprüfer, die etwas mit diesen Zahlenreihen hätten anfangen können?
»Commissaire Sturni, darf ich kurz reinkommen?«
Ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht lugte durch die leicht geöffnete Tür seines Büros.
»Louann Guézennec, ich bin die Sekretärin von Direktor Droumaguet.«
Er hatte sie wohl aus Rennes mitgebracht. Bretonen und Elsässer waren in der Ermittlereinheit also überproportional vertreten. Das war bestimmt kein Fehler.
»Ich bringe Ihnen noch Ihren neuen Dienstausweis samt Begleitschreiben. Als Mitglied der Spezialeinheit sind Sie mit umfassenden Befugnissen ausgestattet. Man muss Ihnen mit diesen Dokumenten Zugang zu allen Atomkraftwerken Frankreichs gewähren, wenn es für Ihre Ermittlungen notwendig ist. Das Schreiben ist vom Minister höchstpersönlich unterzeichnet. Es wird Ihnen Tür und Tor öffnen, wann immer Sie es für notwendig erachten.«
»Ich wollte mir schon immer mal so ein Kernkraftwerk von innen anschauen.«
Die rothaarige Bretonin lächelte ihn gewinnend an.
»Da wären Sie der Erste. Bisher hat noch niemand im Team von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.«
Sie legte ihm Ausweis und Begleitschreiben auf den Schreibtisch und war im nächsten Augenblick wieder verschwunden.
Sturni steckte seinen neuen Ausweis und das Schreiben ein und beugte sich wieder über seine Unterlagen. In einem anderen Ordner gab es massenhaft Rechnungen, die Zulieferbetriebe einem Konzern gestellt hatten. Es handelte sich um Ersatzteile für Reaktordruckbehälter, die der Zulieferer an den Konzern inklusive Montageleistungen verkauft hatte. Hier sollte er wohl überprüfen, ob es Ungereimtheiten bei dem verwendeten Material und bei der ordnungsgemäßen Montage gab. Wäre dafür nicht ein Ingenieur oder Atomphysiker besser geeignet, und sollte man sich die potenziellen Material- und Montagefehler nicht besser vor Ort anschauen? Selbst wenn er mit seinem tollen Ausweis samt Begleitschreiben eine Vor-Ort-Besichtigung machen würde, wie sollte er ohne besondere Fachkenntnisse erkennen, ob das Material ungeeignet oder mangelhaft montiert war?
Nach zwei Stunden hatte er die Faxen dicke. Er war hier völlig deplatziert, aber das schien niemanden zu kümmern. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, in diese Abteilung zu kommen. Er würde das Beste aus der Situation machen und einen herrlichen Spätsommer und Herbst in Paris genießen. Um die französischen Atomkonzerne und deren Machenschaften sollten sich bitte schön Ermittler kümmern, die etwas davon verstanden. Da machte er nicht mit.
Er schickte Olivia, seiner einzigen Bezugsperson in Paris, eine WhatsApp-Nachricht:
»Lust auf Abendessen? Ich lade dich ein.«
Für ihre Doktorarbeit hatte Olivia die Erlaubnis erhalten, in den Archiven des Louvre zu stöbern. Sie war nur einen Katzensprung von ihm entfernt. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»17 Uhr, Picknick an der Spitze der Île de la Cité, Ecke Pont Neuf – Square du Vert-Galant. Ich bringe alles mit. Bis gleich.«
Das war die Antwort, auf die er gehofft hatte. Auf Google Maps suchte er nach besagtem Pont Neuf. Wie günstig, der Treffpunkt lag quasi vor der Haustür, er konnte ihn von seinem Fenster aus sehen.
Um kurz vor fünf ließ er seinen Stift fallen. Diesmal überraschte es ihn schon gar nicht mehr, dass die Büros seiner Kollegen bereits leer waren und die meisten Türen offen standen. Nicht nur sein neuer Chef, auch all seine Kolleginnen und Kollegen schienen ihre Entsendung an diese Spezialeinheit als einen längeren – sicherlich wohlverdienten – Urlaub anzusehen. Warum nicht auch er selbst?
Das Ganze kam ihm vor wie ein schlechter Witz. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass von dieser Ermittlergruppe überhaupt keine tollen Ergebnisse erwartet wurden. Vielleicht war ja genau das der Plan?
Als er das Gebäude verließ, prallte er gegen eine Mauer schwüler Hitze. Am Abend würde es bestimmt angenehmer werden. Er freute sich auf Olivias Gesellschaft, er mochte sie. Seine Mitbewohnerin war eine hochintelligente, attraktive Frau. Dennoch hatte er keine Hintergedanken bei dem Treffen. Sie übte keine sexuelle Anziehungskraft auf ihn aus, und umgekehrt schien es genauso zu sein.
In aller Ruhe spazierte er die wenigen Meter über die Île de la Cité und sah Olivia schon von Weitem. Direkt an der Spitze der Insel hatte sie unter einem schattigen Baum eine Picknickdecke ausgebreitet. Darauf warteten schon Rotwein, Baguette, Käse, Salami und frisches Obst auf ihn. Er begrüßte sie mit einem bise und setzte sich zu ihr.
Sie waren nicht allein an diesem exponierten Ort. Um sie herum saßen viele verliebte Pärchen, die genau die gleiche Idee gehabt hatten. Er stellte sich vor, wie es wäre, mit Margaux hier zu sitzen. Sie fehlte ihm. Er würde sie heute Abend noch anrufen.
»Wie war dein erster Arbeitstag?«
Olivia schenkte ihm einen Rotwein aus dem Languedoc ein, ein ordentlicher Tischwein, genau das Richtige für so ein Picknick.
»Sehr viel entspannter, als ich dachte. Um ehrlich zu sein, mir scheint die angebliche Spezialeinheit eine ganz schöne Gurkentruppe zu sein, mich selbst natürlich ausgenommen. Mit dieser Mannschaft werden wir den bösen Buben kaum auf die Schliche kommen.«
Olivia lachte. Er hatte den Eindruck, sie schon ewig zu kennen.
»Ist doch super. Dann machst du einfach Dienst nach Vorschrift und genießt die Zeit mit mir in der Stadt der Liebe. Ich zeige dir meine Stadt. Orte, die Millionen Touristen nie zu Gesicht bekommen werden.«
»War das ein unmoralisches Angebot?«
»Untersteh dich!«
Olivia hatte nach ihrer gestrigen Heimkehr noch Männerbesuch erhalten. Durch die dünnen Trennwände ihrer Hasenställe hörte man jedes Geräusch, mehr als Sturni gestern Abend lieb war. Olivia war also nicht allein.
»Tut mir leid, aber die Trennwände unserer Zimmerchen scheinen aus Pappe zu sein.«
»Paris ist voll von attraktiven Männern, und ich kann mich nur schwer auf einen beschränken. Mit der Lärmbelästigung wirst du die nächsten Monate leben müssen.«
Sie hatte ein gewinnendes schallendes Lachen und erinnerte ihn mit ihrer extrovertierten Art ein wenig an Margaux.
»Grabesstille hingegen in den anderen beiden Zimmern. Bist du sicher, dass sie tatsächlich bewohnt sind?«
»Das ist schon eigenartig in unserer kleinen WG. Die beiden anderen wirst du kaum einmal zu Gesicht bekommen, und wenn doch, dann sind sie ziemlich wortkarg.«
Olivia köpfte die zweite Flasche von rouge, und Sturni entspannte sich zunehmend. Was für ein wundervoller Ort. Die Sonne ging unter, und es wurde langsam etwas kühler. Um sie herum gab es kaum noch ein freies Plätzchen. Liebespaare teilten sich den engen Raum an der Spitze der Insel mit kleinen Grüppchen von Erasmus-Studenten, die laut scherzten und sich in einem Kauderwelsch aus Französisch, Englisch und ihrer jeweiligen Muttersprache unterhielten. Links und rechts fuhren die bateaux mouches an ihnen vorbei, die berühmten Pariser Ausflugsboote. Auch die ersten abendlichen Partyboote mit laut wummernden Bässen glitten gemächlich die Seine hinunter. Seine neue Mitbewohnerin erklärte ihm, was er vor sich sah.
»Diese Stadt ist der absolute Traum für Kunsthistoriker. Allenfalls Rom, Florenz und vielleicht noch Venedig können da mithalten. Vor dir, rechter Hand, siehst du den Louvre. In dessen Katakomben recherchiere ich gerade, eine Genehmigung dazu ist für einen Kunsthistoriker wie ein Sechser im Lotto. Etwas weiter vorne, auf der linken Seite, liegt das Musée d’Orsay mit berühmten Meisterwerken aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Jedes Gebäude, jeder Pflasterstein hier atmet Geschichte, teilweise haben sie Jahrhunderte überdauert. Die Stadt ist ein Gesamtkunstwerk.«
Olivia steckte ihn an mit ihrer Begeisterung für Paris. Er würde hier eine tolle Zeit verbringen. Bei der Arbeit würde er das Minimalprogramm abspulen. Niemand schien Ergebnisse von ihm zu erwarten, eine ganz neue Situation für Sturni. Bei der Lösung seiner Mordfälle stand er häufig unter einem enormen Druck. Bouget, der Präfekt, die Presse, alle saßen ihm dann im Nacken. Die zwei Wochen, in denen er den Mord am Kabinettschef des Präsidenten der Europäischen Kommission aufgeklärt hatte, gingen ihm immer noch nach. Wer hätte gedacht, dass er Bouget noch einmal dankbar sein würde für diese zeitweilige Versetzung, die sich zu einem ausgedehnten Urlaub entwickelte?
Erst kurz vor Mitternacht machten sie sich auf zu ihren chambres de bonnes. Inzwischen herrschte eine angenehme Temperatur, es war eine laue Sommernacht. Beschwingt stiegen sie die sieben Stockwerke auf der wackeligen Wendeltreppe hinauf. Nach zwei Flaschen Rotwein war Sturnis Höhenangst wie weggeblasen. Vor ihren Türen verabschiedete er sich mit einem bise von Olivia und sank zufrieden auf seine unbequeme Matratze. Diese Nacht bekam Olivia keinen Männerbesuch mehr, was für ein Segen!
Er versuchte noch, Margaux telefonisch zu erreichen. Sie ging aber nicht mehr ran, schlief vermutlich schon. Er sandte ihr noch ein texto, bevor er in einen tiefen und traumlosen Schlaf verfiel.