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Gestrandet in Almeria

Er stand an einer riesigen Straßenkreuzung und starrte auf den Zettel des Arztes aus Malaga. Hier musste es sein. Bei der Adresse in Almeria handelte es sich nicht um ein Wohnhaus, sondern um einen großen Kreisverkehr. Abdel durchschaute sofort, wie das System funktionierte. Dutzende junge Männer aus Zentral-, West- und Nordafrika lungerten hier herum. Immer wieder hielten Lieferwagen kurz an, die Männer stürmten auf den Wagen zu und sprangen hinein. Nie fanden alle einen Platz, immer kamen einige zu kurz, mussten weiter warten.

Sie konnten sich nicht sofort in die Gruppe der Arbeitssuchenden einreihen. Djamal war viel zu schwach, sie benötigten zunächst ein Dach über dem Kopf. Er musste sich bestimmt noch einige Tage auskurieren, um wieder zu Kräften zu kommen. Abdel war verzweifelt. Wie sollte er seinen Freund wieder aufpäppeln, mit gerade einmal dreißig Euro in der Tasche?

Zum Glück fanden Sie einen Algerier, der bereit war, ihnen zu helfen. Der junge Mann hatte heute keinen Arbeitsauftrag erhalten und kehrte mit ihnen zurück in seine Wohnung. Zumindest nannte er seine Behausung so. Es handelte sich um einige lose zusammengenagelte Holzpaletten, die mit Plastikfolien überzogen waren; das Plastik stammte aus dem Gewächshausmeer rund um Almeria. Der Mann hieß Farid, wie ihr verstorbener Freund.

Als Abdel seinen Namen hörte, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er brach zusammen, heulte wie ein kleines Kind. In was für einem Albtraum waren sie hier bloß gelandet? Nach fünfzehn Minuten hatte er keine Kraft mehr. Er hörte auf zu weinen, hatte sich wieder unter Kontrolle. Jetzt galt es, stark zu bleiben. Djamal war noch längst nicht über den Berg, ohne ihn hatte er keine Chance.

Gemeinsam mit ihrem neuen Freund Farid nagelte er eine weitere Bretterhütte zusammen und überzog sie mit Plastikfolie. Eine Matratze hatten sie nicht, sie würden ihre erste Nacht auf dem harten Lehmboden verbringen müssen. Farid stellte Djamal seine alte Matratze zur Verfügung, als er merkte, wie schlecht es ihm immer noch ging. Er war ihr Retter in der Not. Djamal war immer noch blass und sehr schwach; es war an der Zeit, dass er einige Tage Ruhe fand.

Abdel hatte einen Cousin, der schon lange in Paris lebte. Cousin Faruk hatte es nach vielen Jahren illegalen Aufenthalts erreicht, eine der heiß begehrten permis de séjour permanent, eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, zu ergattern; sie war die Eintrittskarte in ein menschenwürdiges Leben in Frankreich. Faruk war selbstständig und Betreiber eines kleinen Tante-Emma-Ladens, eines arabe du coin, mit Öffnungszeiten von morgens um sechs bis spät in die Nacht hinein, wie man sie noch häufig in Paris fand. Sein Cousin würde ihm bestimmt weiterhelfen, wenn er sich Hilfe suchend an ihn wandte. War der Zeitpunkt jetzt schon gekommen, ihn zu kontaktieren und um Hilfe zu bitten? Abdel zögerte. Noch war er nicht so weit. Er wollte es unbedingt aus eigener Kraft bis nach Paris schaffen, wollte nach seiner Ankunft auf dem Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame die Sonne genießen und anschließend ein neues Leben beginnen. Erst am Ziel würde er sich von Faruk helfen lassen.

Natürlich gab es kein fließendes Wasser und auch keine sanitären Anlagen in der Nähe ihrer neuen Behausung. Abdel hatte Angst, dass Djamal unter diesen Bedingungen nicht gesund werden würde. Jeder kleine Infekt konnte ihn bei seinem aktuellen Zustand das Leben kosten.

Am nächsten Morgen machte sich Abdel mit Farid auf den Weg zum Kreisverkehr; sie wollten versuchen, Arbeit für einen Tag zu finden. Die fünf Kilometer legten sie mit Farids klapprigem Fahrrad zurück, wobei Abdel auf dem Gepäckträger saß.

Sie hatten Glück, fanden Platz in einem der Lieferwagen, die in aller Herrgottsfrühe im Kreisverkehr auf dem Seitenrand anhielten, die menschliche Fracht aufluden und sie in die Gewächshäuser brachten. Die Polizei war in Sichtweite, schien das allseits bekannte Geschäftsmodell aber zu tolerieren.

In Algerien hatte Abdel als Koch gearbeitet, Kochen war seine große Leidenschaft. Er war nicht zimperlich, hatte die verschiedensten Jobs ausgeübt, auch als Erntehelfer hatte er sich schon versucht.

Was ihn nun erwartete, hatte er in seiner Heimat jedoch noch nie erlebt. In den riesigen Gewächshäusern arbeiteten sie ohne Atemschutz bei fast fünfzig Grad Celsius. Pestizide und sonstige Giftstoffe wurden versprüht, ohne dass die Arbeiter die geringste Chance hatten, sich davor zu schützen. Am Abend erhielten sie ihr Geld in bar ausbezahlt, immer weniger als der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn, aber was sollten sie machen? Sie konnten sich nirgendwo beschweren. Taten sie es doch, so mussten sie fürchten, aufgegriffen und abgeschoben zu werden. Manchmal erhielten sie überhaupt keinen Lohn, wurden einfach vom jeweiligen Gutsherrn davongejagt …

Glücklicherweise besserte sich Djamals Gesundheitszustand schneller als erwartet, und er kam bald wieder zu Kräften. Ohne Farid hätte er es nicht geschafft, seine gammelige Matratze verschaffte ihm für einige Tage die dringend benötigte Ruhe. Dank Farids Netzwerk erhielt er Medikamente von einer gemeinnützigen Hilfsorganisation, selbst ein Arzt untersuchte ihn – diesmal kostenfrei – und bescheinigte ihm, dass er auf dem Weg der Besserung sei. Abdel fiel ein Stein vom Herzen.

Nach wenigen Tagen reihte sich auch Djamal in das Heer der Tagelöhner ein. Da sie nur ein Fahrrad hatten, rannte Abdel die fünf Kilometer neben ihnen her und überließ Djamal den Sitz auf dem Gepäckträger. Manchmal fuhr er auf der Fahrradstange mit, wenn er morgens noch völlig übermüdet war und seine Beine ihn nicht tragen wollten. Zu dritt saßen sie dann auf dem klapprigen Rad, und Farid musste kräftig in die Pedale treten, damit sie überhaupt vorwärtskamen.

Immer noch widerstand er der Versuchung, Faruk in Paris zu kontaktieren. Er wollte sich bei ihm melden, sobald er dort angekommen war. Ganz so wie sein Cousin damals, der auch keine Hilfe in Anspruch genommen hatte.

Die harte Arbeit zehrte an ihren Kräften. Mörderische Hitze und körperliche Anstrengung hätten sie noch ausgehalten, das waren sie von zu Hause gewohnt; wirklich schlimm war jedoch der Umgang mit den Pestiziden, denen sie schutzlos ausgesetzt waren. Wurde ein neues Unkrautvernichtungsmittel in den Gewächshäusern versprüht, husteten sie manchmal die ganze Nacht hindurch, bekamen kaum noch Luft. Am nächsten Morgen ging es wieder in die gleiche Hölle, und sie waren froh, wenn der jeweilige Spritzzyklus zu Ende war.

Es war schwer, bei dem mickrigen Lohn etwas zur Seite zu legen, aber nach einigen Monaten war es so weit. Die wenigen gesparten Euros würden ihn bis nach Paris bringen. Es war an der Zeit, weiterzuziehen.

Am abendlichen Lagerfeuer sprach er Djamal an, ob er mitkomme. Er hatte sich verändert in den letzten Monaten. Körperlich war er wieder der Alte, doch seine Psyche hatte schwer gelitten. Er war in sich gekehrt, sprach kaum ein Wort, wenn sie abends gemeinsam ihre karge Mahlzeit zu sich nahmen.

»Ich komme nicht mit nach Paris.«

Djamal sprach aus, was Abdel bereits vermutet hatte. Er selbst war entkräftet, aber sein Wille war ungebrochen. Er hatte seinen Traum von einem besseren Leben in Europa noch nicht aufgegeben. Sein Freund hingegen schien völlig zermürbt und desillusioniert.

»Was willst du dann machen? Das ist doch kein Leben hier.«

»Genauso sehe ich es auch. Das ist wirklich kein Leben, und in Paris wird es uns nicht anders ergehen. Das ist nicht unser Kontinent. Wir werden in Europa nie eine Chance bekommen. Die Welt der Schönen und Reichen gehört anderen. Sieh es doch ein!«

Djamal hatte also aufgegeben. Wie so viele, die auf ihrem Weg nach Europa irgendwo strandeten. Er musste sich von ihm lossagen, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden. Noch hatte er genügend Kampfgeist in sich, um weiterzureisen, doch wie lange noch?

»Ich bleibe noch etwas hier, bis ich genügend Geld zusammengespart habe, und dann kehre ich zurück nach Algerien. Ich sehe hier keine Zukunft für mich.«

Wahrscheinlich war es besser so für seinen Freund aus Kindertagen. Er umarmte ihn und verabschiedete sich von Farid, der ihnen so treu geholfen hatte. Ob er die beiden jemals wiedersehen würde? Das Leben als illegaler Migrant war voll von Abschieden, es war nicht der erste und es würde nicht der letzte sein.

Am nächsten Morgen machte er sich lange vor Sonnenaufgang auf den Weg in die Stadt seiner Träume.