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Der Tote im Canal Saint-Martin

Wider Erwarten fand sich Sturni schnell ein in seine neue Lebenssituation, ja er genoss sie sogar zunehmend. Ein Leben frei von Leistungsdruck. Auch der Abstand zu seiner aktuellen familiären Situation in Straßburg tat ihm gut. So hatte er Zeit, seine eben vollzogene Scheidung in Ruhe zu verarbeiten und es mit seinem neuen Glück langsam angehen zu lassen.

In den ersten Wochen setzte er sich freitagnachmittags, häufig auch schon mittags, in den TGV nach Straßburg und verbrachte fast jedes Wochenende mit Margaux und Christian. Sein Sohn lag ihm damit in den Ohren, dass er auch einmal zu ihm nach Paris kommen wolle, mit Margaux … und mit grand-mère. Oma? Hatte er richtig gehört? Seine Mutter … in Paris? Das fehlte ihm gerade noch. Margaux und er versuchten, Christians Wunsch geflissentlich zu übergehen und ihn vom Thema abzulenken. Christian konnte ihn jederzeit in Paris besuchen, aber nicht mit seiner Mutter …

Wenn Christian das Wochenende bei seiner Mutter verbrachte, kam Margaux nach Paris, und sie besichtigten die berühmten Sehenswürdigkeiten der Stadt, den Louvre, die Kirche Sacré-Cœur auf dem Montmartre, das Museum für moderne Kunst Centre Georges Pompidou und natürlich, den Eiffelturm. Er musste sich eingestehen, dass er durch seine extreme Fixierung auf das Elsass einiges verpasst hatte. Vielleicht war es die Angst vor dem Unbekannten, die ihn davon abgehalten hatte, über den Tellerrand zu blicken und etwas Neues zu entdecken. Natürlich würde er es Bouget gegenüber nie zugeben, aber sein Direktor hatte ihm mit dieser zeitweiligen Versetzung die Augen geöffnet: Paris war tatsächlich eine der schönsten Städte der Welt.

Sein Liebesleben kam in der engen Zelle im siebten Stock allerdings nicht so richtig in Fahrt. Während gleich nebenan Olivia Spaß mit diversen Liebhabern hatte, herrschte bei ihnen Flaute. Es lag nicht an Margaux, sie kannte keine Tabus. Antoine war die Situation peinlich, er schätzte seine Privatsphäre, war ziemlich prüde. Bei der Vorstellung, dass Olivia und die beiden unbekannten Mitbewohner jeden noch so leisen Ton von ihrem Liebesspiel mithören konnten, kam er einfach nicht in Stimmung. So quetschten sie sich zu zweit auf seine neunzig Zentimeter breite Matratze und versuchten, bei den tropischen Temperaturen etwas Schlaf zu finden, während Olivia nur wenige Zentimeter weiter die Puppen tanzen ließ.

***

Unter der Woche verabredete er sich regelmäßig mit Olivia zum Joggen im Jardin du Luxembourg. Langsam kam er wieder in Form, seine Pfunde schmolzen dahin wie ein Eis von Berthillon unter der Pariser Augustsonne. Wenn es kein morgendliches Fitnessprogramm im jardin gab, stand er erst spät auf, frühstückte in einem Café auf dem Weg zur Arbeit, schob eine lange Mittagspause ein und ging früh in den Feierabend. Während der Arbeit schmökerte er lustlos in den unzähligen Akten, machte sich einige Notizen, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich suchen sollte. Um wirklich voranzukommen, hätte er vorher Bilanzbuchhaltung und Ingenieurswissenschaften studieren sollen, am besten gleich Atomphysik. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen.

Bei den wöchentlichen Teambesprechungen stellte er fest, dass es seinem Vorgesetzten und seinen Kollegen nicht anders erging. Niemand hatte bei den durchgearbeiteten Akten irgendeine Unregelmäßigkeit feststellen können. Allen war klar, dass der Abschlussbericht der Ermittlergruppe darauf hinauslaufen würde, dass man kein Fehlverhalten seitens der Konzerne und kein Versäumnis der Atomaufsichtsbehörde habe feststellen können. Eine carte blanche – ein Blankoscheck – für ein »Weiter wie bisher« also. Wenn er sich bei den Besprechungen der kleinen équipe – des Teams – unter seinen Kollegen umsah, dann hatte er den Eindruck, als ob der Arbeitsauftrag an diese »Eliteeinheit« genau so lautete. Irgendwie war es ihm egal, es war ohnehin nicht sein Metier.

Umso erfreulicher gestalteten sich seine Abende. Nach Dienstschluss zeigte Olivia ihm Paris, abseits der typischen Touristenattraktionen. Ein Kontrastprogramm zu den Standardsehenswürdigkeiten, die er am Wochenende mit Margaux besuchte. Sie führte ihn durch die unterirdischen catacombes de Paris, die der résistance im Zweiten Weltkrieg als Unterschlupf vor den Nazis gedient hatten; sie fuhr mit ihm auf Rollerskates über die promenade plantée, eine stillgelegte und inzwischen begrünte Eisenbahnstrecke, die von der Bastille in Richtung Bois de Vincennes durch das 12. Arrondissement führte, und besuchte mit ihm ihren Lieblingswochenmarkt auf dem Boulevard de Charonne – ein wahrer Genuss, völlig frei von Touristen. Der absolute Höhepunkt war eine private Führung der Kunsthistorikerin durch die Kathedrale Notre-Dame.

»Ganz schön morsches Gebälk hier oben. Hoffentlich nehmen die es hier mit den Brandschutzbestimmungen genau und haben ein gutes Notfallkonzept.«

»Der Beamte sieht mal wieder nur die Risiken und hat kein Auge für die Schönheit dieses Juwels des Abendlandes.«

Olivia musste schmunzeln. Sie hatte extra für ihn ihre Kontakte spielen lassen, und sie bekamen Zutritt in Bereiche des Dachstuhls der Kathedrale, die eigentlich für die Öffentlichkeit gesperrt waren.

Sturni kam ernsthaft ins Grübeln, ob es dieses Meisterwerk des Mittelalters nicht doch mit dem Straßburger Münster aufnehmen konnte.

***

»Heute zeige ich dir mein Lieblingsresto!«

Solche Ansagen von Olivia per SMS liebte er, während er lustlos seine Akten wälzte. Irgendein Sachbearbeiter der autorité de sûreté nucléaire, der Atomaufsichtsbehörde, hatte in verschiedenen Vermerken auf Sicherheitsmängel in französischen Atomkraftwerken hingewiesen. Er hatte vermutet, dass die vielen sicherheitsrelevanten Vorfälle auf qualitativ unzureichende Bau- und Ersatzteile zurückzuführen seien, die den hohen Sicherheitsanforderungen nicht genügten. Der Sachbearbeiter ging davon aus, dass dahinter eine Methode steht, dass Korruption in großem Stil betrieben wird. Schlechte Bauteile würden zu hohen Preisen verkauft, und die Preisdifferenz werde von einigen Managern der Konzerne eingestrichen. Beweise dafür gingen aus den Dokumenten nicht hervor. Folgerichtig wurde seine Forderung, der Vermutung gezielt nachzugehen, von seinen Vorgesetzten abgelehnt. Irgendwann wurde der querulatorische Mitarbeiter versetzt und durfte sich, obwohl Ingenieur mit Spezialisierung Atomtechnologie, nur noch mit organisatorischen Fragen beschäftigen, erhielt keinen Zugang mehr zu potenziell sensiblen Dokumenten, war kaltgestellt. Wen interessierte das alles? Er verschwendete nur seine kostbare Zeit …

Er war Olivia dankbar, dass sie sich seiner annahm. Schließlich konnte sie sich, im Gegensatz zu ihm, über soziale Kontakte in Paris wahrlich nicht beklagen. Wahrscheinlich genoss auch sie es, einen platonischen Freund gewonnen zu haben. Ihre sonstigen Männerbekanntschaften beschränkten sich auf akrobatische Liebesstellungen über den Dächern von Paris, die ihr sonst nicht viel bedeuteten.

»Quand et où – wann und wo?«, antwortete Sturni.

»La Tonnellerie, Quai de Valmy am Canal Saint-Martin, 20 Uhr. Du wirst es lieben!«

»Ça marche – in Ordnung!«

Er war froh, seine Abende nicht in seinem lieblosen Kabuff verbringen zu müssen. Dank Olivia sah er Gesichter der Stadt, die er sonst niemals innerhalb von drei Monaten hätte kennenlernen können. Jeder Tipp von ihr war eine Offenbarung. Jenseits der touristischen Massenaufläufe bot Paris unendlich viele verborgene Schätze. Millionen von Touristen jährlich konnten nicht ganz falschliegen, dabei kannten sie das wahre Gesicht der Stadt – abseits von Eiffelturm und Champs-Élysées – überhaupt nicht.

***

Am Canal Saint-Martin angekommen, sah er Olivia in Begleitung von zwei Freundinnen schon von Weitem. Sturni war gespannt. Wenn es sich um Olivias Lieblingsrestaurant handelte, musste es schon etwas ganz Besonderes sein.

Sie hatten sich den schönsten Platz gesichert, mit herrlichem Blick auf den von Platanen gesäumten Kanal; Bistrotische und -stühle, ein lauschiger Sommerabend, ein gediegenes Abendessen am Wasser, drei hübsche Begleiterinnen inklusive – Paris vom Feinsten …

Sturni begrüßte Olivia und ihre Freundinnen und machte es sich auf dem vierten Bistrostuhl bequem. Er zündete sich eine Zigarette an, sog den Rauch tief in seine Lungen ein. So ließ es sich aushalten. Vergessen war die vergeudete Zeit während der Arbeit.

Das Leben nahm doch sonderbare Wendungen. Im letzten Sommer war er am Boden zerstört. Er hatte seinen Kummer in Alkohol ertränkt, nicht mehr ein noch aus gewusst. Nur elsässisches Pflichtbewusstsein und die Liebe zu seinem Sohn Christian hielten ihn damals über Wasser.

Jetzt war er glücklich geschieden, verstand sich prächtig mit seiner Ex-Frau, hatte sich neu verliebt und saß mit drei Grazien bei einem guten Glas Wein an einem lauen Sommerabend am Canal Saint-Martin, einem der hippsten Orte für eingefleischte Pariser.

»Wein ist Poesie in Flaschen, santé! Das Zitat wird einem meiner Vorfahren zugeschrieben.«

Olivia war nie verlegen um einen kessen Spruch. Wenn es irgendwo etwas zu feiern gab, war sie ganz vorne mit dabei. Und wenn der Anlass zum Feiern ausblieb, dann erfand sie eben einen.

Mit der Tonnellerie hatte sie nicht zu viel versprochen. Paris war ja berühmt für seine unzähligen stilvollen Restaurants, auch wenn Sturni sie für hoffnungslos überteuert und mit der Restauration in Straßburg nicht annähernd vergleichbar hielt. La Tonnellerie aber war außergewöhnlich, das sah man auf den ersten Blick.

Das kleine Bistro befand sich noch in seinem Originalzustand, genau so, wie es Ende des neunzehnten Jahrhunderts eingerichtet worden war. Geschwungene Holzornamente fassten den komplett verglasten Eingangsbereich ein. Trotz Belle-Époque-Stil wirkte das Ganze nicht überladen, sondern modern und zeitgemäß.

Der Boden der Tonnellerie bestand aus Mosaikfliesen. Das Interieur war komplett mit dunkelbraunem Nussbaumholz verkleidet. Große geschwungene Spiegel zierten die Wände, und an den Decken konnte man noch, wenn auch etwas verblichen, die Originalmalereien aus der Belle Époque erkennen. Das Zentrum des kleinen Restaurants bildete eine lange Theke, um die sich die Tische gruppierten. Zum Glück war »Le fabuleux destin d'Amélie Poulain – Die Fabelhafte Welt der Amelie« nicht in diesem Restaurant gedreht worden, sonst wäre das kleine resto von pilgernden Cineasten überrannt worden.

Sturni schloss sich seinen adretten Begleiterinnen an und bestellte zum von rouge noch ein Glas Ricard – einen Anisschnaps – auf Eis als apéro. In aller Ruhe studierte er die Speisekarte. Die wenigen Tagesgerichte waren von Hand mit Kreide auf eine alte Tafel geschrieben worden, die am Eingang des Restaurants hing.

Sturni genoss die angenehme Gesellschaft. Olivias Freundinnen waren, wie sie selbst, Kunsthistorikerinnen. Sie unterhielten sich über ihre aktuellen Studien. Eine ihrer Freundinnen erzählte ihm, dass sie sich gerade intensiv mit der Geschichte des Straßburger Münsters befasse. Angeblich berge das Münster ein uraltes Geheimnis, das sie unbedingt lüften wolle. Eigentlich hätte Sturni diese Geschichte brennend interessiert, hielt er das Straßburger Münster doch für das Kronjuwel des westlichen Kulturkreises. Doch er war von Wein, Ricard, der Abendsonne und der Langeweile im Büro so ermattet, dass er es vorzog, sich auf seinen Stuhl zu lümmeln und einfach den Moment zu genießen.

Er war wie selbstverständlich ein Teil des kleinen Grüppchens, ohne dass von ihm erwartet worden wäre, sich an der Konversation zu beteiligen. Er rauchte eine clope nach der anderen, nippte an seinem Ricard, wartete auf seine moules frites – Miesmuscheln mit Pommes frites – und sog die Atmosphäre in sich auf.

Direkt vor ihnen pumpten Kanalarbeiter das Wasser in einem Becken des Canal Saint-Martin ab, das durch große Schleusentore vom Rest des Kanals abgetrennt war. Offensichtlich sollte etwas daran repariert werden. Er musste unbedingt mit Margaux hierherkommen. Dieser Ort war so romantisch. Das würde sie mit ihrem letzten, etwas verkorksten Besuch versöhnen.

Direkt vor den Tischen und Stühlen im Außenbereich der Tonnellerie führte eine geschwungene Fußgängerbrücke über den Kanal, auf der sich Liebespaare tummelten und Selfies mit ihren Handykameras schossen.

Olivia bemerkte, wie er versonnen den Kanalarbeitern bei der Arbeit zusah.

»Anfang letzten Jahres wurde der ganze Kanal abgelassen. Alle Jubeljahre ist eine Grundreinigung notwendig. Ich habe das événement – das Ereignis – mit einer alten Analogkamera und Schwarz-Weiß-Fotos festgehalten. Damals war alles Mögliche ans Tageslicht gekommen: Fahrräder, Motorroller, sogar Waffen und alte Goldmünzen. Die Komplettreinigung des Kanals ist immer ein großes Event, bei dem alle Anwohner des zehnten Arrondissements auf den Beinen sind.«

Ihr Kauderwelsch aus amerikanischem Englisch und Französisch belustigte ihn. Olivia war eine talentierte Fotografin. Sie hatte ihm einige ihrer Bilder gezeigt, und er war begeistert gewesen.

»Da wäre ich gerne dabei gewesen. Ich kenne ja noch nicht viel von Paris, aber dieser Ort hier gehört definitiv zu meinen Lieblingsplätzen.«

Beiläufig schaute er dem Treiben am Kanal zu, als seine moules frites serviert wurden. Das Wasser im Becken vor ihnen war inzwischen fast ganz abgepumpt. Heißhungrig machte er sich über seine Muscheln her, brach die Schalen mit der Hand auf und fischte die Miesmuscheln mit einer bereits geleerten Muschelschale heraus. Das Gericht schmeckte vorzüglich. In Straßburg konnte man allenfalls in der Chaine d'Or so gute moules frites bekommen, die jeden Morgen von der Bretagne per TGV ins Elsass geliefert wurden.

Olivias französische Freundinnen hatten sich mit einem kleinen Salat begnügt – bei spindeldürren Pariserinnen auch nicht anders zu erwarten –, während Olivia sich ein mächtiges steak frites gönnte.

***

Er tunkte gerade ein Stück Baguette in die Weißweinsoße seiner moules, als plötzlich vom Kanal her lautes Geschrei zu hören war und sich ein Menschenauflauf bildete. Die Kanalarbeiter hoben einen leblosen Körper vom Grund der Schleuse und legten ihn auf die Pflastersteine am Rand des Wassergrabens auf der anderen Kanalseite. Sturni war auf einmal hellwach. Wenn es sich um einen menschlichen Körper handelte, dann konnte es nur eine Leiche sein, die vom Grund des Kanals geborgen wurde. Bei ihm gingen alle Alarmsirenen an. Ein Toter im Canal Saint-Martin! Das musste er sich unbedingt aus der Nähe ansehen. Antoine war Mordermittler durch und durch, kein müder Aktenhengst, der nach Unregelmäßigkeiten in irgendwelchen Bilanzen suchte.

»Pardon, aber das muss ich mir genauer ansehen, ich bin Polizist.«

Eine Entschuldigung murmelnd, sprang er auf, wobei sein Bistrostuhl auf den Boden kippte, und rannte über die kleine Brücke auf die andere Seite des Kanals. Von Ferne sah er bereits eine Gruppe von Feuerwehrleuten – pompiers – heraneilen. Die nächste Feuerwache befand sich nur wenige Hundert Meter kanalaufwärts, sie mussten etwas von dem Tumult mitbekommen haben. Er drängte sich durch die Menschenmenge, die sich um den leblosen Körper gebildet hatte.

»Kriminalpolizei, lassen Sie mich bitte durch!«

Sturni zückte seinen Dienstausweis und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Es war nicht ganz korrekt, sich außerhalb seines Dienstbezirks als zuständiger Kriminalkommissar auszugeben, doch hier war schließlich Gefahr im Verzug. Vielleicht lebte die Person, die gerade aus dem Wasser gezogen worden war, ja noch.

Er war der erste Funktionsträger am Fundort des leblosen Körpers, weder Polizei, die herannahenden Feuerwehrleute noch ein Krankenwagen waren bisher vor Ort.

Vor ihm lag tatsächlich ein Mann, komplett bekleidet mit Anzug, Hemd und Krawatte, Alter um die fünfzig. Der Mann war mausetot, so viel stand fest. Eine Wasserleiche, die schon mehrere Tage im Kanal gelegen haben musste. Keiner der anwesenden Kanalarbeiter oder Schaulustigen hatte den Versuch unternommen, den leblosen Körper zu reanimieren.

Auch er brachte es nicht übers Herz, obwohl es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre, zumindest so lange, bis ein Notarzt vor Ort war, um den Tod der Person festzustellen. Doch es wäre völlig zwecklos gewesen. Der Körper war bereits aufgedunsen; niemandem konnte zugemutet werden, an ihm noch Reanimationsversuche zu unternehmen.

Sturni untersuchte den Leichnam oberflächlich. Dieser Mann war keines natürlichen Todes gestorben, wahrscheinlich war er nicht einmal ertrunken. Beide Arme und Beine waren ihm gebrochen worden, auf so brutale Weise, dass die Körperteile in einer unnatürlichen Stellung verdreht waren. Trotz des aufgedunsenen Körpers erkannte Sturni ein großes Hämatom am Hals. Er musste sich beeilen. In wenigen Minuten würde die Polizei vor Ort eintreffen, und damit wäre er raus aus dem Geschehen.

Als er am Rumpf des Körpers angelangt war, fühlte er etwas Hartes, Schweres. Er knöpfte das Hemd des toten Mannes auf, musste dabei gegen die Übelkeit ankämpfen. Sturni klärte leidenschaftlich, ja fast schon fanatisch, Mordfälle auf, hasste jedoch Leichen. Er hatte schon Probleme damit, Blut zu sehen; eine aufgedunsene Wasserleiche gab ihm den Rest. Trotzdem kämpfte sein Berufsethos den Ekel nieder, und er machte mit schnellen Gesten weiter mit seiner Untersuchung. Um den Bauch trug der Tote einen schweren Gurt aus Blei, der ihn auf dem Grund des Kanals gehalten hatte. Nun bestand für ihn kein Zweifel mehr. Dieser Mann war bestialisch ermordet und dann auf dem Grund des Kanals versenkt worden.

In der Ferne hörte er die Sirenen des Krankenwagens und der Polizei. Die pompiers drängten sich schon durch die Menschenmenge, die ihn umgab. Er hatte nur noch wenige Sekunden für seine Untersuchung. In der Innentasche der Jacke des Toten fand er ein Portemonnaie. Schnell öffnete er es und durchsuchte den Inhalt. Es war kaum zu fassen. Im Geldbeutel befand sich die carte d'identité, der Personalausweis des Opfers. Er konnte noch einen kurzen Blick darauf werfen, als er gewaltsam von der Leiche weggezogen wurde.

»Finger weg von der Leiche! Sind Sie verrückt geworden?«

Die pompiers hatten ihn erreicht und zogen ihn auf der Stelle von der Leiche weg. Der Notarzt bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Mit seinem Dienstausweis hätte er noch wenige Minuten bis zum Eintreffen der Polizei herausschinden können, aber er beschloss, darauf zu verzichten, da es ihm einigen bürokratischen Ärger einbringen würde. Er hatte genug gesehen.

Als der Notarzt eingetroffen war, begann er routinemäßig seine Arbeit, untersuchte kurz die Wasserleiche und stellte offiziell den Tod fest. Sturni reihte sich in die große Gruppe der Schaulustigen ein, während die ersten uniformierten Polizisten erschienen. Kurze Zeit später hielt ein Zivilfahrzeug am Straßenrand, und die Beamten der Kripo sprangen heraus. Zu gerne wäre er jetzt an ihrer Stelle gewesen, hätte das Kommando geführt, den Tatort absperren lassen, die Spurensicherung gerufen. Stattdessen war er zur Untätigkeit verdammt.

»Kriminalpolizei, halten Sie sich von der Leiche fern. Wir übernehmen jetzt!«

Die Stimme kam ihm bekannt vor. Die Uniformierten drängten die Schaulustigen, Sturni eingeschlossen, zur Seite und sperrten die Fläche rund um die Leiche großflächig mit einem Plastikband ab. Zwei, drei Polizisten in Zivil befanden sich neben dem Notarzt noch innerhalb des abgesperrten Bereichs, sonst niemand mehr. Woher kannte er diesen korpulenten Polizisten nur? Es musste sich um den commissaire handeln, zumindest war er es, der alle Anweisungen gab.

Dann fiel es ihm ein. Gilbert Kleitz! An die zwanzig Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Ein alter Bekannter von der Polizeischule. Kleitz, Elsässer wie er selbst, hatte es nach Paris verschlagen. Wie das Leben so spielt, trennten sich nach dem Diplom ihre Wege, obwohl sie während ihrer Ausbildungszeit gerne zusammen gebechert hatten. Gilbert hatte es – wie er selbst – zum commissaire gebracht. Das war seine Chance, an dem Fall dranzubleiben.

»Gilbert!«

Keine Antwort. Kleitz beugte sich über die Leiche und unterhielt sich mit seinen Inspektoren.

»Gilbert, c’est moi – ich bin’s, Antoine Sturni!«

Jetzt schaute Kleitz kurz auf, schien nachzudenken. Er gab seinen Inspektoren einige Anweisungen, dann richtete er sich auf und kam auf ihn zu. Einer seiner Inspektoren informierte inzwischen die Spurensicherung. Auch der Pariser Kripo schien sofort klar zu sein, dass hier kein Betrunkener zufälligerweise in den Kanal gefallen war.

»Antoine, wie lange ist es her, zwanzig Jahre?«

»Könnte hinkommen.«

»Der Zeitpunkt ist leider denkbar schlecht. Der Mann wurde ermordet. Ich bin im Einsatz. Ich bin der Leiter des zuständigen Morddezernats.«

Das trifft sich ja bestens, dachte er sich.

»Das verstehe ich. Kann ich dich bei Gelegenheit einmal sprechen? Es ist wichtig und hat mit der Leiche zu tun.«

Der Pariser Ermittler reichte ihm noch schnell seine Visitenkarte, dann hatte er sich schon wieder weggedreht und gab seinen Mitarbeitern weitere Anweisungen. Kleitz war ein Profi wie er selbst. Sturni platzte vor Neid. Zu gerne hätte er jetzt mit ihm getauscht.

Am Tatort gab es nichts mehr für ihn zu tun. Gilbert würde sich um alles kümmern. Nachdenklich überquerte er den Kanal, in dessen Becken sich nun kein Wasser mehr befand. Er barg ein schreckliches Geheimnis, das es nun zu lüften galt.

Olivia war mit ihren Begleiterinnen sitzen geblieben. Sehr vernünftig! Gaffer bei Mord- und sonstigen Unglücksfällen konnte er selbst nicht abhaben. Bei ihm war das natürlich anders, schließlich hatte er ein berufliches Interesse …

»Was ist passiert? Ist jemand in den Kanal gefallen und ertrunken?«

Olivia war trotz des Aufruhrs bester Laune. Mit ihren Begleiterinnen hatte sie sich noch eine Runde Cocktails bestellt.

»Nein, der Mann wurde ermordet.«

Plötzlich Stille am Bistrotisch vor ihm.

»Woher willst du das wissen?«

»Man hat ihm die Arme und Beine gebrochen, außerdem trägt er einen Bleigurt um den Rumpf. Jeder Laie kann sehen, dass der Mann ermordet wurde.«

»Das ist ja kaum zu fassen, direkt vor unserer Nase. Konntest du sonst noch etwas herausfinden?«

Olivia und ihre Freundinnen hingen nun gebannt an seinen Lippen.

»Ja, ich kenne diese Person.«

Nun war ihm endgültig die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner charmanten Begleiterinnen sicher.

»Nicht persönlich natürlich. Sein Name ist Edouard Wanzecki. Er arbeitete als Sachbearbeiter bei der französischen Atomaufsichtsbehörde. Noch vor wenigen Stunden habe ich ein Dossier von ihm studiert.«