Sturni war elektrisiert. Bereits um halb acht erschien er im Büro. Bis zum Eintreffen seiner Kollegen würden noch Stunden vergehen. Selbst die wackelige Wendeltreppe verursachte ihm heute Morgen keine Schwindelgefühle. Beschwingt eilte er die Treppenstufen hinunter, obwohl das instabile Metallgerüst bedenklich schwankte. An einem normalen Tag wäre er dabei vor Angst fast in Ohnmacht gefallen. Doch heute war kein normaler Tag! Er hatte einen neuen Mordfall zu lösen, war endlich wieder in seinem Element …
Na ja, eigentlich war das Gilbert Kleitz’ Aufgabe. Doch irgendwie saß auch er mit im Boot. Schließlich hatte er den Namen des Ermordeten in seinen Aktenbergen gelesen. Es war demnach möglich, dass eine Verbindung zwischen dem Mord und seinen aktuellen Ermittlungen bestand. Was für eine glückliche Wendung des Schicksals!
Auf dem Weg zur Arbeit begnügte er sich mit einem schnellen petit noir, einem starken Espresso, am Tresen. Dazu gab es eine filterlose Gauloise, das war alles. Er ließ sich ein pain au chocolat einpacken und hastete los in Richtung seiner Arbeitsstelle, diesmal ohne einen Blick auf die berühmten Sehenswürdigkeiten links und rechts seines Fußwegs zu werfen. Die Todesursache der im Pantheon bestatteten Berühmtheiten – zumindest die offizielle Version – stand ja bereits fest, da konnte er ohnehin nichts mehr ausrichten. Per Mobiltelefon meldete er sich bei Margaux. Zum Glück war sie schon erreichbar und bei der Arbeit.
»Antoine, um diese Uhrzeit? Tout va bien chez toi – alles in Ordnung bei dir? Hast du schlecht geschlafen?«
Er hielt sich nicht lange mit dem Austausch von Höflichkeitsfloskeln auf.
»Edouard Wanzecki. Ich benötige alles über ihn. Kannst du das für mich machen?«
»Naturellement. Worum geht es?«
»Er wurde ermordet!«
»Ich dachte, du beschäftigst dich in Paris mit irgendwelchen sinnlosen Bilanzfälschungen …«
»Ich erzähle dir später alles in Ruhe. Es ist wichtig und eilig.«
Margaux kannte ihn gut genug. Wenn Sturni in einem Mordfall ermittelte, dann war er wie ausgewechselt, hatte Scheuklappen und nahm seine Umgebung nur noch rudimentär wahr. Sie wusste, dass es sinnlos war, ihm weitere Fragen zu stellen.
»Je m’en occupe immédiatement – ich kümmere mich sofort darum.«
»Merci! Ach ja, er hat bei der autorité de sûreté nucléaire gearbeitet.«
Kaum im Büro angekommen, schnappte er sich die Akte, in der er gestern nur lustlos und oberflächlich geschmökert hatte. Dann durchsuchte er seinen kompletten Aktenbestand, ob es noch weitere Unterlagen von Wanzecki gab, was nicht der Fall war. Die Dokumente las er ein zweites Mal, doch jetzt mit voller Konzentration. Schließlich galt es einen Mord aufzuklären, auch wenn Wanzecki dadurch nicht wieder zum Leben erweckt werden würde. Beim erneuten Lesen der Akte fotografierte er jede Seite ab, man konnte ja nie wissen. Dieses Dossier war der einzige Anhaltspunkt, den er hatte.
Wanzecki bekleidete eine niedere Position bei der französischen Atomaufsichtsbehörde. Er war zuständig für Sicherheitsüberprüfungen der Atomkraftwerke in Frankreich. Vor Ort begutachtete er die Mängel und erstellte Sicherheitsanalysen zu den achtundfünfzig Reaktorblöcken in neunzehn Kernkraftwerken im ganzen Land. Ein hoch qualifizierter Experte, aber ohne eigene Entscheidungsgewalt.
Mehrfach hatte er laut den vorliegenden Dokumenten auf schwerwiegende Sicherheitsmängel in den Kraftwerken hingewiesen. Aufgrund seines relativ niedrigen Rangs bei der Behörde hatte er jedoch nicht die Kompetenz, die Schließung eines Meilers selbst anzuordnen. Nicht einmal eine unangekündigte Inspektion konnte er ohne das Einverständnis seiner Vorgesetzten vornehmen. So gut wie immer wurde er von seinen Oberen ausgebremst, die seine Bedenken herunterspielten und die Meiler am Netz ließen.
Als er seinen Vorgesetzten zu unangenehm wurde und sogar drohte, seine Bedenken entgegen der Dienstanweisung öffentlich zu machen, wurde er kurzerhand gegen seinen Willen versetzt. Auf seiner neuen Stelle hatte er keinen Zugang mehr zu sicherheitsrelevanten Informationen.
Wanzecki war ein kleines Rädchen im Getriebe einer großen Maschinerie. Hatte sein gewaltsamer Tod tatsächlich etwas mit dem Dossier zu tun, das Sturni vor sich liegen hatte? Er konnte es sich kaum vorstellen, dafür war er einfach zu unbedeutend. Andererseits handelte es sich um schwerwiegende Bedenken, auf die der Experte wieder und wieder hingewiesen hatte. Außerdem war es die einzige Spur, die ihm im Moment blieb. Er würde sie also weiterverfolgen.
Als die ersten Kollegen eintrudelten, entschloss er sich dazu, Gilbert Kleitz anzurufen. Er hatte sich dagegen entschieden, seinen Vorgesetzten und seine Kollegen über den Mord zu unterrichten. Zunächst wollte er selbst herausfinden, ob es einen Zusammenhang gab, bevor er irgendjemanden einweihte. Außerdem war er sich gar nicht so sicher, ob »Ergebnisse« überhaupt erwünscht waren.
»Gilbert, hast du einen Moment für mich?«
»Eigentlich nicht. Eine Minute vielleicht. Was kann ich für dich tun?«
»Ich muss dich sprechen.«
»Ich stecke mitten in einem neuen Mordfall. Tut mir leid, aber ich habe gerade einfach keine Zeit, um über alte Zeiten zu plaudern.«
»Genau deshalb melde ich mich. Ich muss mit dir über den Fall reden, persönlich und unter vier Augen. Nicht am Telefon!«
Ein kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Er konnte Gilbert gut verstehen. Wäre er der ermittelnde commissaire, dann würde es ihm genauso gehen. Es gab jetzt tausend andere Dinge zu erledigen, Spurensicherung, Presseanfragen, Rapport beim Direktor, er kannte das Lied – on connait la chanson.
»Zwanzig Uhr, Bistrot du Peintre, Avenue Ledru-Rollin. Ich wohne da gleich um die Ecke. Ich habe maximal eine Stunde.«
»Merci.«
Kleitz hatte bereits aufgelegt. Gilbert besaß das gleiche Gespür für Mordfälle wie er selbst, war ähnlich fanatisch bei seiner Arbeit. Obwohl er ihn seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte, vertraute er ihm. Er würde ihn, anders als seine Kollegen, gleich in seinen Verdacht einweihen. Jahrelange gemeinsame Erfahrungen auf der Polizeischule verbanden sie. Über die Kolleginnen und Kollegen in seinem aktuellen Team wusste er nichts, außer dass sie genauso wenig für ihren derzeitigen Job geeignet und qualifiziert waren wie er selbst …
Um nicht durch übermäßigen Arbeitseifer aufzufallen, machte sich Sturni, wie üblich, gegen halb zwölf zu einer ausgedehnten Mittagspause auf. Anstatt, ebenfalls wie üblich, das lebhafte Treiben im Stadtzentrum zu verfolgen, hing er diesmal seinen düsteren Gedanken nach. Wie konnte er in der Angelegenheit weiterkommen? Wer hatte Wanzecki auf so bestialische Weise ermordet? Wurde er gefoltert, bevor man ihn in den Kanal geworfen hatte? Was für ein furchtbares Verbrechen, und das an so einem romantischen Ort. Sofern der Mord überhaupt dort stattgefunden hatte. Er bezweifelte es.
Alles, was er bisher als Anhaltspunkt hatte, war eine Akte über einen renitenten kleinen Beamten, die nicht viel hergab. Wenn Gilbert Kleitz ihn nicht über die Ermittlungen der Kripo auf dem Laufenden hielt, würde er keine Fortschritte machen. Er hoffte auf dessen alte Verbundenheit.
Sturni war inzwischen gedankenverloren über den Pont d’Arcole gelaufen, weiter über die Place de l’Hôtel de Ville am altehrwürdigen Rathaus der Stadt vorbei. Gerade hatte er keinen Blick für das wunderschöne Hôtel de Ville, das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von der französischen résistance besetzt worden war, noch bevor die Alliierten Paris einnahmen. Hinter dem Rathaus hielt er sich rechts, bummelte die Rue de Rivoli hinunter und bog dann in die Rue Vieille du Temple in das Quartier du Marais ein, bis er vor dem Café Les Philosophes stand, in dem er sich in letzter Zeit häufig schon in seiner Mittagspause ein bière pression von Kronenbourg gegönnt hatte. Sein Lieblingsbier, das Juliette aus der kleinen Regionalbrauerei aus Uberach in der Nähe von Straßburg, hatte es leider noch nicht auf die Karte der hippen Cafés und Bars im Marais geschafft. Er würde Margaux darum bitten, ihm beim nächsten Besuch einige Flaschen davon mitzubringen.
Über seinem Bier sinnierte er darüber, welche Schritte er als Nächstes unternehmen sollte. Wenn er in dem Fall weiterkommen wollte, dann musste er einen Experten zu dem Thema befragen; er musste verstehen, welche Mängel und Risiken Edouard Wanzecki aufgedeckt und vergeblich gegenüber seinen Vorgesetzten angemahnt hatte … Zoé Le Coq! Warum war er nicht gleich auf sie gekommen? Und warum hatte bisher noch niemand in ihrer Ermittlertruppe diese Frau direkt befragt?
Das Team, dem er angehörte, war ja nur gegründet worden, weil Le Coq die Regierung über ihren Blog so sehr unter Druck gesetzt hatte, dass sie sich zum Handeln gezwungen sah. In ihren wöchentlichen Besprechungen war ihr Name ab und an gefallen, aber eher beiläufig und abfällig, so als wäre sie der Feind und nicht die Quelle, die für ihre Ermittlungen letztendlich verantwortlich war.
Sie würde ihm bestimmt Auskunft geben können, ob an seinem Verdacht etwas dran sein könnte. Die Frage war nur, wie er an diese Frau herankommen sollte. Le Coq war in Frankreich zu einer gewissen Berühmtheit gelangt; sie würde sich kaum mit einem x-beliebigen Polizeibeamten treffen, auch wenn er der Spezialeinheit angehörte, die derzeit ihren Anschuldigungen nachging. Vielleicht auch gerade deshalb nicht …
Durfte er das überhaupt, sie einfach kontaktieren, ohne es vorher mit seinem Vorgesetzten abzustimmen? Sturni schob den Gedanken beiseite. Solche Fragen hatten ihn noch nie gekümmert. Viele seiner Mordfälle wären unaufgeklärt geblieben, wenn er jeden seiner – manchmal unkonventionellen – Schritte mit Bouget oder gar dem Präfekten abgestimmt hätte.
Im Les Philosophes gab es freies WLAN, und so schaute er sich in aller Ruhe den Blog von Le Coq an. Auch auf diese Idee schien noch niemand seiner Kollegen gekommen zu sein. Bei dem Gedanken bekam er ein schlechtes Gewissen. Er hatte sich stümperhaft verhalten. So groß war sein Desinteresse an seinem aktuellen Job. Eigentlich passte das nicht zu seinem Berufsethos. Es bedurfte eines Mordfalls, um seine Ermittlerinstinkte wieder erwachen zu lassen. Über den Blog konnte man Le Coq tatsächlich kontaktieren, und sie schien auch immer umgehend und selbst zu antworten. Zumindest stand unter den Antworten immer ihr Kürzel: Cq.
Konnte er ihr einfach auf dem Blog eine Nachricht hinterlassen? Besser nicht! Alle Welt könnte mitlesen. Sämtliche Kommunikation erschien direkt auf ihrer Webseite. Wenn es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Mord an Wanzecki und seinem Dossier gab, dann war das kein Mord im Affekt oder aus Eifersucht. Dann hatte er in ein Wespennest gestochen, und die Ermittlungen würden große Wellen schlagen. Schon wieder! Hatte er das nicht erst bei seinem letzten Fall mit Dr. Hasselfeld erlebt, dem ermordeten Kabinettschef des Präsidenten der Europäischen Kommission? Die französische Atomindustrie war eines der mächtigsten Kartelle in Frankreich, außerdem bestand eine extreme Vernetzung zwischen der Politik und der Branche. Er musste also vorsichtig sein.
Der Mord an Dr. Hasselfeld im EU-Milieu hatte ihm alles abverlangt, auch wenn es sich letzten Endes doch um ein Tötungsdelikt aus privaten Motiven gehandelt hatte, deren Ursache mehr als zwanzig Jahre zurücklag. Natürlich konnte er auch einfach die Finger von der Geschichte lassen, die Aufklärung des Mordes war schließlich Gilbert Kleitz’ Aufgabe, und das Dossier Wanzecki gab – isoliert betrachtet – keinen Anlass, weitere Ermittlungen im Bereich der Atomkonzerne anzustellen. Schließlich wurden seine Anschuldigungen von seinen eigenen Vorgesetzten als haltlos angesehen.
Ihm war klar, dass er nun nicht mehr von dem Fall würde lassen können. Er hatte Feuer gefangen und würde nicht ruhen, bevor er nicht herausgefunden hatte, wer hinter diesem gemeinen Mord steckte.
Sein alter Freund Cédric Zeller fiel ihm ein, der ihm beim Mordfall an Dr. Hasselfeld so wertvolle Tipps gegeben hatte. Er war ein bekannter Journalist, wenn auch nicht so berühmt wie Le Coq und in einem ganz anderen Bereich tätig: Er kümmerte sich um europäische Fragen in Brüssel. Vielleicht konnte er ihm weiterhelfen, eventuell kannte er Le Coq sogar persönlich. Er suchte die Nummer in seinem Handy und drückte auf anrufen.
»Antoine! Hast du einen neuen Toten, bei dem du meine Hilfe brauchst?«
Zeller schaffte es immer wieder, ihn in eine peinliche Situation zu bringen. Sturni räusperte sich und lachte verlegen ins Telefon.
»Ich kann dir einfach nichts vormachen. Mea culpa, ich hätte mich nach dem Hasselfeld-Fall früher bei dir melden sollen.«
»Du wirst dich nicht mehr ändern, und ich mag dich trotzdem. Ich bin froh, dass wir wieder Kontakt haben, und wenn es nur über deine Mordfälle ist. Schieß los, was kann ich für dich tun?«
»Zoé Le Coq, kennst du sie?«
Ein kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Wie kommst du darauf?«
»Ah, oui, das hatte ich dir ja noch gar nicht erzählt. Mein Direktor hat mich für drei Monate nach Paris zwangsversetzt. Ich gehöre hier einer Ermittlergruppe an, die strafbares Verhalten bei französischen Atomkonzernen und deren Zulieferern überprüfen soll.«
Ein schallendes Lachen am Ende der Leitung.
»Du, in Paris? Ich fasse es nicht. Hast du auch an deinen Reisepass gedacht?«
Den Witz hatte er irgendwo schon mal gehört. Allerdings war es für seine Mutter Clothilde kein Witz, sondern bitterer Ernst …
»Habe schon von der neuen Einheit gehört, am Rande einer Ratssitzung in Brüssel, bei der es um Energieversorgungssicherheit in der EU ging. Der zuständige französische Minister hat mit seinem tschechischen Pendant über Le Coqs Vorwürfe gesprochen, über angebliche Korruption in der französischen Atomindustrie. Die Regierung werde eine hochrangige Sondereinheit der Polizei einsetzen, um den Anschuldigungen Le Coqs konsequent nachzugehen. Derzeit würden aus ganz Frankreich die größten Versager – er verwendete tatsächlich den Begriff bande de nazes – im Polizeidienst zusammengesucht, aus der sich die Ermittlereinheit dann zusammensetzen werde. Diese ›Eliteeinheit‹ werde den Anschuldigungen mit aller Härte des französischen Gesetzes nachgehen. Du bist demnach Teil dieser bande de nazes, gratuliere!«
Am anderen Ende der Leitung brach Cédric Zeller fast weg vor Lachen. Sturni hatte einen Kloß im Hals. Bougets vermeintliche Wohltat erschien plötzlich in einem ganz anderen Licht. Er, der Leiter der Straßburger Mordkommission und glorreiche Ermittler in einer Vielzahl von hochkomplexen Mordfällen, einer der größten minables der französischen Polizei? Das würde Bouget ihm büßen … Wenn es in der Atomindustrie irgendetwas aufzuklären gab, dann würde er es jetzt herausfinden, allein um es seinem Chef heimzuzahlen. Immerhin bestätigte Zellers Geschichte seinen Verdacht. Die Ermittlereinheit wurde nicht eingerichtet, um aufzuräumen, im Gegenteil …
»Antoine, bist du noch dran?«
»Oui, naturellement.«
Sturni bejahte gequält.
»Wo war ich stehen geblieben? Ach ja – la petite blague – der kleine Witz sorgte für großes Gelächter bei den anwesenden Ministern, die allesamt aus Staaten kommen, in denen die Atomindustrie noch vehement verteidigt wird.«
»Dann kennst du Le Coq also?«
Antoine hatte sich inzwischen wieder im Griff.
»Ob ich sie kenne? Klar kenne ich sie. Diese Frau ist eine Wucht, hochintelligent, durchsetzungsstark, unabhängig, reich … und dazu noch bildhübsch. Vor zwei Jahren war ich für eine kurze Zeit mit ihr liiert. Es hat nicht geklappt zwischen uns. Zwei von ihrer Arbeit besessene Alphatiere als Partner, das konnte einfach nicht gut gehen. Wir haben uns aber im Guten getrennt, sind immer noch befreundet.«
»Ich muss sie sprechen, persönlich.«
»Dann frag sie doch einfach. Du kannst sie jederzeit über ihren Blog kontaktieren.«
»Das ist nicht so einfach. Es gab einen Mordfall, bei dem sie mir vielleicht weiterhelfen kann.«
»Einen Mordfall? Bei deinen Ermittlungen in Paris, bei der größten Versagertruppe der französischen Polizei? Tu rigoles – du machst Witze?«
»Pas du tout, nicht im Geringsten. Ich erzähle dir alles einmal in Ruhe, aber nicht am Telefon. Kannst du mir nun weiterhelfen oder nicht?«
»Zoé ist in letzter Zeit sehr vorsichtig geworden. Es ist vielleicht wirklich besser, dass du mich kontaktiert und sie nicht über ihren Blog angeschrieben hast. Seitdem sie sich mit der französischen Atomindustrie anlegt, hat sie sich viele Feinde gemacht. Sie hat anonyme Morddrohungen erhalten und steht derzeit sogar unter Polizeischutz. Ich werde sie anrufen und dir ein Gespräch mit ihr vermitteln. Sie vertraut mir, immer noch.«
»Merci, du bist mir, wie immer, eine große Stütze.«
»Toujours avec plaisir – es ist mir immer ein Vergnügen, ich melde mich. À bientôt mon pote – auf bald, mein Freund!«
Sturni legte einen Zehneuroschein auf den Tresen, stand auf und ging die Rue Vieille du Temple tiefer ins 3. Arrondissement, das Quartier du Marais, hinein. Obwohl er sich erst wenige Wochen in Paris aufhielt, hatte er schon feste Gewohnheiten entwickelt, ging seine Lieblingswege, speiste in seinen Lieblingsrestaurants, fühlte sich fast schon wie ein Einheimischer. Wer hätte das gedacht? Das Landei Antoine Sturni mutierte innerhalb weniger Wochen zum Pariser Weltbürger …
Er bog nach rechts in die Rue des Rosiers ein und stellte sich bei Chez Hanna in die Schlange, um sich eine Falafel auf die Faust zu besorgen. Der ausgiebige Spaziergang und die zwei Kronenbourg hatten ihn hungrig gemacht. Noch bestand kein Grund zur Eile. Er hatte so gut wie nichts in der Hand. Zunächst benötigte er die Ermittlungsergebnisse von Kleitz, dann musste er mit Zoé Le Coq sprechen. Erst danach konnte er beurteilen, ob er in seinem Fall weiterkommen würde.
Olivia hatte ihm erzählt, dass die Rue des Rosiers vor dem Terroranschlag im Bataclan-Theater eine der belebtesten Straßen in Paris gewesen war. Hier pochte das Herz der jüdischen Gemeinde von Paris, hier fanden sich viele koschere Restaurants, Lebensmittelläden und sonstige Geschäfte. Seit den Terroranschlägen mieden viele Touristen die Straße aus Angst, dass es auch hier zu Attentaten kommen könnte. Es war eine Schande …
Antoine biss herzhaft in seine Falafel und begab sich langsam wieder in Richtung Île de la Cité. Sein Handy summte. Margaux hatte ihm eine E-Mail mit vielen Infos zu Wanzecki gesendet. Sie war einfach großartig.
Er würde die Unterlagen zu Wanzecki in aller Ruhe im Büro durchgehen. Außerdem musste er sich über Le Coq schlaumachen. Es war nicht notwendig, Margaux mit Recherchen zu beauftragen, man fand jede Menge über sie im Internet. Sie war eine öffentliche Person, ein Star.
Im Büro angekommen, druckte er sich Margaux’ Unterlagen aus und machte sich an die Lektüre: Edouard Wanzecki war das Kind einer polnischen Einwandererfamilie. Seine Eltern waren während des Kalten Krieges aus Polen geflüchtet und hatten Zuflucht in Nordfrankreich gesucht. In Lille hatten sie in der Textilindustrie ein bescheidenes Auskommen gefunden, bevor diese den Bach hinunterging. Danach versuchten sie sich in der Gastronomie, ebenfalls ohne Erfolg. Die polnische Akademikerfamilie bekam in Frankreich keinen Fuß in die Tür. Wanzecki stammte aus bettelarmen Verhältnissen, war jedoch hochintelligent und hatte das Glück, in der Schule auf einen Lehrer zu treffen, der sich seiner annahm und ihn förderte.
Wie Margaux nur immer an diese Informationen kam? So etwas fand man nicht einfach im Netz. Ihre Recherchetricks behielt sie für sich und machte sich dadurch unabkömmlich für ihn. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, Berufliches und Privates immer strikt zu trennen, aber es war nun mal passiert, er hatte sich in seine Sekretärin verliebt …
Wanzecki war mit einer ausgesprochenen mathematischen und technischen Begabung ausgestattet. Da er von seinem Elternhaus finanziell nichts zu erwarten hatte, konnte er dank der schulischen Förderung ein Stipendium an der weltberühmten école nationale supérieure des mines ergattern. Dort bildete Frankreich bis heute seine technische Elite aus. Die Uni lag ganz in der Nähe seines chambre de bonne, direkt neben dem Jardin du Luxembourg, wie er auf Google Maps feststellte.
Wanzecki befasste sich während seines Ingenieurstudiums schwerpunktmäßig mit der Energiewirtschaft und spezialisierte sich später auf den Bereich Atomenergie. Er graduierte als Bester seines Jahrgangs. Obwohl brillant, galt er während seiner Studienzeit als Außenseiter. Seine Kommilitonen stammten allesamt aus gutem Hause, kamen aus einer anderen Welt. Sie nahmen ihn nie auf in ihren Kreis, obwohl er der Primus unter ihnen war.
Aufgrund seiner hervorragenden Leistungen wurde er nach seinem Studienabschluss in ein nur für angehende Führungskräfte vorgesehenes Aufbaustudium aufgenommen. Die Teilnahme an diesem prestigeträchtigen Ausbildungsgang sollte eigentlich endgültig seine Eintrittskarte für eine Spitzenposition im technischen Bereich eines Ministeriums oder in der Wirtschaft sein. Konsequent war danach sein Eintritt in die französische Atomaufsichtsbehörde. Zwei Jahre in dieser Fachbehörde, danach noch einige Jahre Berufserfahrung auf einer Stabsstelle eines Ministeriums, und anschließend eine hohe Führungsposition in der Verwaltung oder einem Staatskonzern, das wäre ein klassischer Werdegang für einen Absolventen gewesen.
Diese eigentlich vorgezeichnete Laufbahn wurde Wanzecki verwehrt. Bis zu seinem gewaltsamen Tod blieb er auf dem Niveau eines Referenten in der autorité de sûreté nucléaire stecken, während seine Kommilitonen von damals heute allesamt Spitzenpositionen in Ministerien bekleideten oder Managementfunktionen in französischen Staatskonzernen ausübten.
Wie kam es dazu? War Wanzecki zu unangepasst? Leistete er keine gute Arbeit, bewährte sich nicht auf seiner ersten Stelle? Oder war es vielleicht das soziale Netzwerk, der großbürgerliche Hintergrund, der ihm trotz seiner brillanten Leistungen immer gefehlt hatte? Er war ein Migrantenkind, genial, aber eben ohne den richtigen Stallgeruch. Offensichtlich hatte man ihn nie in den Klub aufgenommen, er profitierte nicht vom Karrierenetzwerk seiner Kaderschmiede.
Nachdem Antoine Margaux’ Zusammenfassung zu Wanzecki verinnerlicht hatte, nahm er sich Zoé Le Coq vor. Das war viel einfacher. Er gab ihren Namen bei Google ein und fand einige Tausend Treffer zu seiner Anfrage.
Was Le Coq und Wanzecki verband, war ihre weit überdurchschnittliche Intelligenz, beide waren hochbegabt. Ebenfalls gemeinsam hatten sie eine Ausbildung an französischen Elitehochschulen. Beide hatten das gleiche Aufbaustudium durchlaufen. Das war interessant. Kannten sich die beiden? Wohl kaum, Wanzecki und Le Coq trennten achtzehn Jahrgänge, und so eng verbunden war der Alumni-Klub dann wohl doch nicht.
Nach dem Abschluss standen Le Coq alle Türen offen. Sie erhielt Angebote für Karrieresprungbretter in Politik und Verwaltung sowie hoch dotierte Offerten aus der Wirtschaft. Le Coq lehnte alles ab und beschloss, als freiberufliche Journalistin zu arbeiten. Sie wollte unabhängig bleiben, die Öffentlichkeit aufrütteln: Umweltschutz, Korruption und seit einiger Zeit die Risiken und der Filz in der französischen Atomindustrie, das waren ihre Themen. Sie war eine investigative Journalistin par excellence, die von keiner Zeitung und von keinem Fernsehsender abhing.
Ihr wohlhabendes Elternhaus erlaubte ihr, völlig frei von finanziellen Zwängen zu arbeiten. Sie ließ sich von niemandem den Mund verbieten, vertrat kontroverse Ansichten und legte sich mit Gott und der Welt an. Le Coq hatte Hunderttausende Fans, die ihren Blog lasen, aber im Lauf der Jahre kamen eben auch immer mehr Feinde hinzu.
Auch das vereinte Wanzecki und Le Coq: Beide wollten für eine gerechte Sache kämpfen. Allerdings waren Wanzecki aufgrund seiner Tätigkeit als Beamter die Hände gebunden. Er hatte von seinen Vorgesetzten einen Maulkorb verpasst bekommen und war von allen sensiblen Informationen abgeschnitten worden. Le Coq hingegen schien überall ihre Quellen zu haben. Whistleblower, die selbst nicht öffentlich in Erscheinung treten wollten, wandten sich an sie. Sie hatte den Mut, heikle und unbequeme Positionen öffentlich zu machen, auch auf die Gefahr hin, angefeindet zu werden. Unbedingt musste er diese Frau sprechen. Wenn an seinem Verdacht irgendetwas dran war, dann würde sie ihm bestimmt weiterhelfen können.