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Ankunft in Paris

Der zweite Teil seiner Reise war nicht weniger abenteuerlich als seine Überfahrt über das Mittelmeer nach Europa. Abdel trampte, fuhr auf Güterzügen, sparte seine wenigen Euros. Die Grenze zwischen Spanien und Frankreich überquerte er zu Fuß, über die Pyrenäen, sicherheitshalber.

Als ihn ein Lkw-Fahrer am Boulevard Périphérique an der Haltestelle Porte de Clignancourt in Paris absetzte, kaufte er sich einfach ein Ticket für die Metro, stieg ein und mitten in der Innenstadt bei Cité wieder aus. So einfach konnte das Leben in Paris also sein. Von dort aus waren es nur wenige Schritte, und er stand auf dem großen Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame, mitten im Herzen von Paris.

Abdel befand sich in einem emotionalen Ausnahmezustand. Welche Mühen hatte er in Kauf genommen, um hierherzukommen! Er hatte gehungert, gefroren, wäre fast verdurstet und hatte seine Lungen mit giftigen Pestiziden geschädigt. Einer seiner engsten Freunde war auf der langen Reise ums Leben gekommen, ein anderer war in einem Meer aus Gewächshäusern in Andalusien gestrandet. Nur er, Abdel, war stark genug gewesen …

Er setzte sich auf eine der Bänke gegenüber der Kathedrale und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Der Hafen von Marbella war nur eine Zwischenstation gewesen, ihr eigentliches Ziel war dieser Platz im Herzen von Paris. Auf der großen Freifläche tummelten sich Touristen aus aller Welt, Chinesen, Amerikaner, Japaner, Inder. Sie hatten Zeit und Geld, aßen Eis, lachten und zankten sich, fotografierten. Was für ein Prunk, was für ein Luxus. Nichts davon hatte Abdel jemals kennengelernt, außer Zeit, davon hatten er und seine Freunde jede Menge gehabt. Als er beim besten Willen nicht mehr wusste, wie er sie totschlagen sollte – die Zeit –, machte er sich auf den Weg nach Europa.

Eis, zumindest ein Eis wollte Abdel sich jetzt gönnen nach all den Strapazen; anschließend würde er seinen Cousin kontaktieren. Er trottete von der Île de la Cité zur Île Saint-Louis auf der Suche nach einer Eisdiele. Irgendwann wurde er fündig. Eine lange Schlange zeigte ihm an, dass es hier gutes Eis geben musste. Berthillon stand in alten Schriftzeichen auf der hölzernen Fassade über der Eingangstür. Als er endlich an der Reihe war, zögerte er, denn die verschiedenen Eissorten sahen einfach zu verlockend aus. Außerdem konnte er nicht lesen, was auf kleinen Täfelchen vor den Bottichen stand. Er hatte nur rudimentär Französisch lesen und schreiben gelernt.

Die Verkäuferin sah ihn freundlich lächelnd und abwartend an. Hinter ihm in der Schlange begannen sie zu drängeln; er musste sich entscheiden und wählte Orange und Violett, Farben, die ihn beide an seine Heimat erinnerten.

»Fünf Euro«, sagte die hübsche junge Verkäuferin und lächelte ihn weiter an, als wäre dieser astronomische Betrag das Selbstverständlichste auf der Welt für zwei kleine Kugeln Eis.

»Comment?«

»Cinq Euro, s’il vous plaît – fünf Euro, bitte«, wiederholte sie etwas lauter, davon ausgehend, Abdel habe sie akustisch nicht richtig verstanden.

Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er überlegte, ob er einfach davonlaufen sollte … Fünf Euro für zwei Kugeln Eis, das durfte ja wohl nicht wahr sein! Zähneknirschend holte er einige Geldscheine aus seiner Tasche, sein ganzes Vermögen, und reichte dem Mädchen fünf Euro. Er wollte sein neues Leben nicht gleich mit einer geprellten Zeche beginnen.

Das Eis war vorzüglich. Die orangefarbene Kugel schmeckte nach seiner Heimat, nach Orangen. Den anderen Geschmack – Lavendel, wie ihm die hübsche Verkäuferin bestätigte, als er auf die Farbe zeigte – kannte er nicht. Sei’s drum, dachte er sich, bald würde er einen Job haben und die fünf ausgegebenen Euro locker wieder reinholen.

Er flanierte zurück auf den Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame, setzte sich wieder auf eine Bank und sah dem Treiben noch etwas zu. Jeden Moment wollte er auskosten. Die Zukunft gehörte ihm. Wer so weit gekommen war, der würde auch hier erfolgreich sein – wie sein Cousin Faruk vor vielen Jahren.

Irgendwann zückte er sein portable und wählte die Nummer seines Cousins.

»Faruk, hier ist Abdel. Ich bin in Paris und sitze vor der Kathedrale Notre-Dame.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Vielleicht hätte er seinem Cousin doch früher Bescheid sagen sollen, dass er auf dem Weg nach Paris war. Abdel wurde unruhig, er hatte so große Hoffnungen in Faruk gesetzt. Ohne seine Hilfe würde er es sehr schwer haben, hier Fuß zu fassen.

»Deine Eltern haben mir gesagt, dass du von zu Hause getürmt bist. Sie machen sich große Sorgen um dich.«

»Ich rufe sie an, noch heute.«

»Was willst du von mir?«

»Ich brauche deine Hilfe!«

»Das hatte ich befürchtet.«

Faruk seufzte am anderen Ende der Leitung. Da wusste Abdel, dass er gewonnen hatte. Sein Cousin würde ihm helfen.

»Komm zu mir, Rue de Charronne, im elften Arrondissement, Metrostation Alexandre Dumas. Du kannst für einige Tage hier wohnen, und ich werde dir weiterhelfen.«

Abdel jubelte innerlich und vollführte einen kleinen Freudentanz mitten auf der Place Jean-Paul II. Auf seine Familie war immer noch Verlass. Sein Kalkül war aufgegangen, Faruk war die Eintrittskarte in sein neues Leben.