Da ihr der Weg mit dem Flugzeug wegen der strengen Kontrollen verwehrt war, reiste Saba per Schiff, Zug und Autostopp an ihr Fernziel – Paris. Niemand erwartete sie dort. Keine Verwandten, keine Freunde konnten ihr den Start in ihr neues Leben erleichtern.
Eine freundliche ältere Dame hatte sie per Anhalter bis ins Zentrum der Stadt mitgenommen. Wäre doch nur ihre gesamte Reise so unproblematisch verlaufen. Saba wollte möglichst schnell vergessen, was sie in den letzten Wochen alles erlitten hatte. Nun stand sie etwas verloren vor der Kathedrale Notre-Dame, ließ sich mit dem Strom der Touristen über die Île de la Cité und die Île Saint-Louis treiben. Beim Blick auf den Preis für eine Kugel Eis an einer Eisdiele auf der Île Saint-Louis, vor der eine lange Schlange stand, wurde ihr schlecht. Die Reise von den Kanaren nach Paris hatte ihre ganzen Ersparnisse aufgefressen. Ihr Geld reichte noch wenige Tage, sie musste schnell einen Job und eine Bleibe finden. Eine Kugel Eis, die man fast mit Gold hätte aufwiegen können, konnte sie sich nicht leisten.
Saba war klar, dass sie sich an einem entscheidenden Punkt auf ihrem langen Weg befand. Sie durfte jetzt nicht auf die schiefe Bahn kommen. Gerüchteweise hatte sie von jungen Westafrikanerinnen gehört, die nach ihrer Ankunft in Paris in die falschen Hände gerieten und dann im Bois de Boulogne für Geld ihren Körper verkaufen mussten. Niemals würde sie sich dafür hergeben.
Über das Internet hatte sie von der groupe d'information et de soutien des immigrées, kurz Gisti, erfahren. Die Einrichtung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Migranten ohne Papiere zu unterstützen. Es war die richtige Entscheidung, dort anzurufen. Zumindest bekam sie von Gisti Adressen vermittelt, die ihr bei ihren ersten Schritten in Paris weiterhalfen.
Etwas später nahm sich ein privates Hilfskomitee Pariser Bürgerinnen und Bürger ihrer an, verschaffte ihr eine vorläufige Bleibe. Saba konnte ihr Glück kaum fassen. Viele hatten weniger Unterstützung, gerieten in Abhängigkeitsverhältnisse, aus denen sie nicht mehr herauskamen. Schnell lernte sie das schöne und das hässliche Gesicht dieser Stadt kennen, die so viele in ihren Bann zog, ein Magnet für Migranten aus der frankofonen Welt, Luxustempel und große Spielwiese für die verwöhnten Wohlstandsmenschen aus den Industriestaaten.
Blieb nur noch das Problem mit dem Job. Sie musste so schnell wie möglich Geld verdienen, für sich selbst – und für ihre Eltern. Der Markt für illegale Beschäftigung in Paris war riesig, ohne die Migranten würde hier nichts laufen. Die Gastronomie hätte nicht genügend Köche und Kellner, die Bürotürme in La Défence, die Hotelzimmer aller Kategorien und die Luxuswohnungen der Pariser bobos würden nicht gereinigt, und die Familien im 16. Arrondissement hätten nicht genügend nounous für ihre verzogenen Gören. Selbst auf dem Bau wurden massenhaft Illegale beschäftigt.
Saba blieb vorerst bei ihren gewohnten Tätigkeiten und begann als Putzfrau, wieder vermittelt über eine halbseidene Zeitarbeitsfirma, die eine kreative Lösung für ihren illegalen Status fand. Steuern musste sie natürlich bezahlen, fehlende Aufenthaltsgenehmigung hin oder her. So bigott war diese Klassengesellschaft, auf deren unterster Stufe sie stand. Nachmittags verdingte sie sich zusätzlich als nounou bei reichen Familien. Ohne einen Zweitjob hätte sie niemals ihre Eltern im Senegal unterstützen können, die finanziell mehr denn je von ihr abhingen, seitdem ihr Vater vor einem Jahr einen Arbeitsunfall erlitten hatte. Das Geld als Putzhilfe reichte nicht, um in Paris – selbst mit ihren bescheidenen Ansprüchen – über die Runden zu kommen.
Schwieriger als einen Job war es, eine Bleibe zu finden. Mit viel Glück konnte sie ein winziges Zimmerchen unter dem Dach eines der großbürgerlichen Häuser ergattern. Der Raum war so klein, dass er nicht einmal den gesetzlichen Mindestanforderungen für eine Wohnung in Paris entsprach, demnach eigentlich gar nicht vermietet werden durfte. Diesem für sie glücklichen Umstand hatte sie es zu verdanken, dass sie überhaupt an ein eigenes Zimmer in dieser Stadt herankam, in der Wohnraum bereits für Franzosen Mangelware war. Der Eigentümer vermietete illegal an eine Illegale und ließ sich die Miete monatlich in bar ausbezahlen.
Um vier Uhr morgens stand sie auf, fuhr mit der ersten Metro vor die Tore von Paris und reinigte Büros. Mittags oder am frühen Nachmittag, während die französischen Angestellten dank ihrer 35-Stunden-Woche schon nach Hause fuhren, begann sie ihren Zweitjob und verdingte sich als Kindermädchen bei einer der wohlhabenden Familien im 16. Arrondissement, nahe der Avenue Foch. Erst spät am Abend, manchmal auch erst nachts, kehrte sie mit der U-Bahn zurück, stieg hundemüde die Treppen zu ihrem kleinen Zimmerchen hinauf und fiel ins Bett.
Trotz der harten Arbeit war Saba nicht unglücklich. Sie hatte Paris erreicht. Sie war nicht, wie so viele, irgendwo auf halber Strecke gestrandet oder gar gescheitert. Sie verfügte über ein Zimmer, hatte einen Job, konnte sogar ihre Eltern im Senegal unterstützen.
Irgendwann würde sie hier groß rauskommen, den Traum vom Laufsteg auf der Pariser Modewoche hatte sie immer noch nicht aufgegeben. Doch dafür benötigte sie eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis, sonst würden ihr die Türen des glitzernden, schillernden Paris für immer verschlossen bleiben …