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Einmal im Leben auf dem Eiffelturm

Schon in der Metro auf dem Weg zur Gare de l’Est hatte Antoine ein ganz mulmiges Gefühl. Familie war noch nie seine Stärke gewesen. Ein gemeinsames Wochenende mit seiner Mutter, seinem Sohn und der von seiner Mutter verachteten neuen Freundin überforderte ihn emotional, bevor es überhaupt begonnen hatte.

In der Bahn poppten die WhatsApp-Nachrichten im Minutentakt auf seinem portable auf. Seine Mutter lebte zwar in vielerlei Hinsicht hinter dem Mond, doch hatte sie sich kürzlich ein eigenes Smartphone zugelegt, um seinen Bruder samt Familie damit auf Trab zu halten. Mit ihrem Enkelkind Christian stand sie gleichfalls in regem Kontakt. Er selbst wurde von ihr weitgehend verschont. Das schien sich nun zu ändern:

 

Nachricht Clothilde:

»Ich gehe davon aus, dass ihr mir ein ruhiges Hotelzimmer mit gehobenem Standard reserviert habt. Du weißt schließlich, wie schlecht ich bei Stadtlärm schlafen kann.«

Richtig, bei ihren seltenen Besuchen in Straßburg hatte sie ihm die Hölle heißgemacht, wenn man von ihrem Hotelzimmer nachts auch nur den Motor eines einzigen Autos oder Motorrads hören konnte. Zum Glück gab es das Hôtel des Princes im Quartier de l‘Orangerie, da war es nachts mucksmäuschenstill.

 

Nachricht Christian:

»Ich möchte unbedingt mit den Achterbahnen im Disneyland Paris fahren. Die sind noch viel besser als die im Europa-Park.«

Sturni erinnerte sich schmerzlich an ihr letztes Achterbahnabenteuer im Europa-Park. Allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihm der Magen um …

 

Nachricht Margaux:

»Wir müssen jetzt sehr, sehr stark sein. Wenn wir dieses Wochenende überstehen und dann immer noch ein Paar sind, dann schuldest du mir was.«

Nachricht Christian:

»Oma nervt! Ich möchte auf jeden Fall ein eigenes Zimmer. Bin doch kein Baby mehr!«

Nachricht Clothilde:

»Hast du Tickets für den Eiffelturm reserviert? Sonst muss man wohl lange anstehen. Es war immer mein sehnlichster Wunsch, einmal in meinem Leben auf dem Eiffelturm zu stehen. Nur deshalb wage ich diese gefährliche Reise.«

Obwohl Clothilde Sturni in erster Linie Elsässerin war – die französische Staatsbürgerschaft spielte eine eher untergeordnete Rolle in ihrem Leben –, fühlte sie sich doch so weit als Französin, dass sie einmal im Leben auf dem Eiffelturm stehen wollte.

 

Nachricht Margaux:

»Das mit der Familiengründung sollten wir uns vielleicht doch noch mal überlegen …«

Nachricht Clothilde:

»Übrigens, deine neue maîtresse kleidet sich, als wolle sie nachher noch auf der Place Pigalle anschaffen gehen. Warum schickst du sie nicht ins Moulin Rouge, und wir gehen zu dritt auf den Eiffelturm? Weshalb hast du nicht besser auf Caroline aufgepasst? Das hast du jetzt davon …«

Sturni hatte genug. Er schaltete sein portable auf stumm und steckte es in die Tasche. In wenigen Minuten würde er seine Lieben am Bahnsteig in Empfang nehmen, und das vorhersehbare Unheil würde seinen Lauf nehmen.

***

Auf die Minute pünktlich war er am Bahnsteig und positionierte sich an dem Gleisabschnitt, an dem seine Familie aussteigen würde. Während er bei seiner eigenen Ankunft in Paris als Allerletzter – am liebsten wäre er einfach sitzen geblieben und zurück nach Straßburg gefahren – den TGV verlassen hatte, fiel Christian ihm in die Arme, kaum dass die Tür sich geöffnet hatte.

Zumindest sein siebenjähriger Sohn war bester Laune. Weniger erfreulich war der Anblick der beiden nach ihm folgenden Gestalten. Er schaute in zwei versteinerte Mienen, als Margaux und Clothilde aus dem Zug stiegen.

Clothilde hatte allen Ernstes ihre elsässische Tracht für ihre Reise nach Paris angezogen. Selbst die traditionelle schwarze Haube schmückte ihr inzwischen ergrautes Haar, das sie zu einem Dutt hochgesteckt trug. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, eine kleine Trikolore an ihre Haube zu heften; schließlich machte sie einen Ausflug nach Frankreich und wusste, was sich gehörte …

Allein der Anblick der beiden wichtigsten Frauen in seinem Leben zeigte ihm, dass es zwischen ihnen niemals funktionieren konnte. Margaux trug ein figurbetontes Top und einen mini-jupe – Minirock –, jeweils in knalligen Farben. Beides brachte ihre Rundungen aus seiner Sicht sehr vorteilhaft zur Geltung. Nicht nur seine Mutter, auch Margaux hatte sich für ihren Ausflug in die Hauptstadt herausgeputzt. Sie war noch mal beim Friseur gewesen und hatte sich die Spitzen ihrer blondierten Haare grün färben lassen.

Zugegeben, Margaux wirkte neben den elfenhaften Pariserinnen in ihren knappen Kleidchen vielleicht etwas voluptuös; böse Zungen würden vielleicht sogar die Begriffe derb und billig verwenden. Im Gegensatz zu den hochnäsigen Pariserinnen, die einen nicht mal mit dem Allerwertesten anschauten, wenn man sie nicht im Lamborghini ins Plaza Athénée ausführte, war Margaux jedoch völlig unprätentiös, ehrlich und überhaupt nicht anspruchsvoll, was materielle Dinge betraf. Das liebte er so an ihr.

Seine Freundin lächelte gequält, als sie den TGV verließ, und gab ihm einen verhaltenen Kuss auf die Wange. Sturni hatte schon stürmischere Begrüßungen von ihr erlebt. Wenn das mal gut ging!

Margaux und er hatten für grand-mère und Christian ein Hotelzimmer ganz in ihrer Nähe gebucht. Bei den Pariser Preisen war verständlicherweise kein Fünfsternehotel drin. Die Hotelzimmer in Paris waren bekanntermaßen größere Kaninchenställe, wollte man nicht Hunderte Euros pro Nacht investieren. Ihm war von vornherein klar, dass Clothilde das Hotel nicht goutieren würde. Selbst wenn er fünfhundert Euro für ein Zimmer ausgegeben hätte, hätte sie immer noch etwas daran auszusetzen gehabt. Paris war nun mal nicht das Elsass, und so stand er von Anfang an auf verlorenem Posten. Also sparte er sich das Geld, schließlich war er Elsässer …

Sein Sohn blickte gequält drein, als er erfuhr, dass er sich das Hotelzimmer mit seiner Oma würde teilen müssen. Er liebte seine Großmutter heiß und innig, aber so weit ging die Zuneigung dann doch wieder nicht. Unmöglich konnten sie ihn jedoch mit auf sein chambre de bonne nehmen. Zu dritt würden sie niemals Platz darin finden.

Margaux und Sturni verabschiedeten sich schnell nach der Ankunft im Hotel und überließen Christian den Fängen seiner Großmutter. Ein gemeinsames Abendessen war nicht notwendig und von Clothilde auch gar nicht erwünscht. Sie hatte in Ribeauvillé große Mengen Baeckeoffe zubereitet und in Tupperschüsseln abgefüllt. Man konnte ja nie wissen …

In der kleinen Brasserie La Bonbonnière, gleich bei ihm um die Ecke, ließen sie sich nieder und bestellten erst einmal zwei Gläser Wein. Es galt, eine Strategie für die nächsten zwei Tage zu entwickeln, mit der ihre Beziehung keinen Schaden nahm.

»Deine Mutter hasst mich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie mich auf der Fahrt nach Paris behandelt hat. Als sei ich das letzte Flittchen …«

Das konnte er sich sehr wohl vorstellen. Er kannte seine Mutter. Nun lobte sie Caroline über den grünen Klee, aber als er ihr damals mitgeteilt hatte, dass er sie heiraten werde, hatte sie kein gutes Haar an ihr gelassen. Caroline war ja nicht einmal Elsässerin, also für eine Heirat völlig ungeeignet.

Die Aussage mit dem Flittchen hätte Sturni bis vor Kurzem glatt unterschrieben. Margaux hatte ein sehr abwechslungsreiches Liebesleben, bevor sie mit ihm zusammengekommen war. Doch nun kannte er sie besser und wusste, dass ihre leichtlebige Seite nur ein Teil von ihr war.

 

Nachricht Clothilde:

»Sag mal, geht es dem Jungen nicht gut? Er ist doch nicht etwa krank? Er sollt ebbs aessa und weigert sich!!«

Nachricht Christian:

»So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich wollte mit euch ein super Wochenende im Disneyland Paris verbringen … Grand-mère drangsaliert mich mit ihrem kalten Baeckeoffe und beschwert sich, dass wir keine Küchenzeile im Hotelzimmer haben. Außerdem würde sie gerne ein Bad nehmen, und es gibt nur eine Dusche.«

Entspannung wollte bei ihm nicht so richtig aufkommen, auch wenn der leichte Côtes du Rhône ganz hervorragend mundete.

»Es ist ja nur ein Wochenende. Jahrelang hat sie sich nicht einmal nach Straßburg getraut, und nun kommt sie mich in Paris besuchen. Damit konnte wirklich niemand rechnen. Sie hat sich stark verändert seit Vaters Tod.«

Ihnen war der Appetit vergangen, und so begnügten sie sich mit dem Rotwein. Schon bald beglich er die Rechnung, und sie begaben sich in Richtung chambre de bonne.

Bereits auf dem Flur war zu hören, dass Olivia neue Gymnastikübungen mit dem amerikanischen Fitnesstrainer ausprobierte, der in letzter Zeit häufiger bei ihr zu Gast war. Und dabei hieß es immer, die Franzosen seien laut beim Sex … Wie üblich herrschte in den anderen beiden Zimmern Grabesstille.

Margaux und Sturni waren erst seit wenigen Wochen offiziell ein Paar … und schon hatte sie die erste sexuelle Krise ereilt. Erotik kam bei diesen schwierigen Rahmenbedingungen beim besten Willen nicht auf. Dabei war es in erster Linie die körperliche Anziehungskraft, die sie zusammengebracht hatte. Die ersten Wochen ihrer Beziehung, als noch gar nicht klar war, ob aus ihnen überhaupt ein Paar werden würde, waren ziemlich aufregend verlaufen. Nun musste sich zeigen, ob ihr Verhältnis aus mehr bestand und auch erste Spannungen aushalten konnte – wenn eine Konfrontation mit Clothilde Sturni überhaupt noch die Bezeichnung »erste Spannungen« verdiente. In der Sprache seiner aktuellen Ermittlungen wäre der Begriff »durch einen elsässischen Tsunami ausgelöster Super-GAU« wohl angemessener.

Wortlos zwängten sie sich auf seine für zwei Personen viel zu enge Matratze, wobei jeder darum kämpfte, nicht vom klapprigen Bettgestell zu fallen. Er erlebte eine unruhige Nacht, fand kaum in den Schlaf.

*

Am nächsten Morgen holten sie Clothilde und Christian schon früh ab. An ausschlafen war auf dieser Pritsche ohnehin nicht zu denken. Schnell nahmen sie ein petit déjeuner in einem der Cafés am Jardin du Luxembourg ein, bevor sie sich auf den Weg zum Eiffelturm machten. Espresso, Croissants und ein Glas Orangensaft waren natürlich weit entfernt vom deftigen elsässischen Frühstück, das Clothilde aus Ribeauvillé gewohnt war, was sie wortreich zum Ausdruck brachte.

Grand-mère hatte in ihrem Reiseführer gelesen, dass man früh aufstehen müsse, wenn man es bis ganz nach oben schaffen wolle, weil der Besucherandrang für den Eiffelturm enorm sei. Sturni hatte dummerweise – entgegen Clothildes ausdrücklicher Anweisung – vergessen, Tickets vorab online zu bestellen. Deshalb mussten sie sich in die lange Warteschlange einreihen, um überhaupt an ihre Tickets zu kommen, was von Clothilde missbilligend, aber ohne weitere Kommentare zur Kenntnis genommen wurde. Zu groß war ihre Vorfreude, einmal in ihrem Leben ganz oben auf dem Eiffelturm stehen zu dürfen. Zur Feier des Tages trug sie erneut Tracht samt Kopfbedeckung mit Trikolore.

Einige amerikanische Touristen älteren Semesters waren so beeindruckt von ihrer tenue – der traditionellen elsässischen Tracht –, dass sie ihr einige Dollarscheine zustecken wollten. Sie nahmen wohl an, dass Clothilde vom Pariser Fremdenverkehrsamt bezahlt wurde, um den Touristen aus aller Welt die endlos lange Wartezeit am Eiffelturm zu versüßen. Zu wissen, dass es sich bei ihrem costume folklorique um eine elsässische und keine französische Tracht handelte, konnte man von den wohlwollenden amerikanischen Senioren wahrlich nicht erwarten. Entrüstet wies Clothilde das freundliche Angebot der älteren amerikanischen Herrschaften von sich. Da hatte sie wohl etwas missverstanden …

»Diese Ausländer haben kein Benehmen. Wenn das dein Großvater wüsste. Ich auf meine alten Tage in Paris. Er wollte ja nie reisen. Die sonntäglichen Ausflüge nach Kaysersberg oder Riquewihr waren ihm ein Gräuel. Die Weinmesse in Colmar war natürlich ein Muss für ihn, aber er nahm die Reise nur einmal im Jahr und mit großem Widerwillen auf sich.«

Christian spielte gelangweilt mit seinem portable und schenkte grand-mère keine Beachtung. Clothilde war ganz aus dem Häuschen, so hatte ihr Sohn sie noch nie erlebt. Tatsächlich hatte sie sich seit dem Tod seines Vaters, der vor zwei Jahren bei der Arbeit auf einem seiner Weinberge verstorben war, deutlich verändert. War Clothilde etwa nur wegen seines Vaters ein Leben lang ein Landei geblieben und wollte auf ihre alten Tage noch die große, weite Welt entdecken? Bei dem Gedanken stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Er sah sich schon jedes Wochenende bei Kaffee und Kuchen mit Clothilde, Margaux und Christian in seiner kleinen Wohnung am Quai des Pêcheurs in Straßburg sitzen. Nein, nein, so weit durfte es auf keinen Fall kommen.

Misstrauisch beäugte Clothilde die vielen fahrenden Händler, die ihr trotz strahlendem Sonnenschein Regenschirme, singende Stofftierchen und sonstigen nutzlosen Nippes anboten.

»Können sich diese Neger nicht eine sinnvollere Beschäftigung suchen?«

Margaux fiel die Kinnlade herunter.

»Diese Zambos lungern den ganzen Tag in der Sonne herum und betrügen hart arbeitende Franzosen und zahlende Gäste aus aller Welt.«

Hatte Clothilde Sturni gerade allen Ernstes den Begriff »Zambo« verwendet? Ihre belle-mère in spe war also nicht nur eine elsässische Matrone, sondern auch eine militante Rassistin. Wahrscheinlich wählte sie sogar die Nationalisten.

Margaux hob an, um ihr zu erwidern, dass diese armen Menschen vermutlich über keine Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich verfügten und deshalb gar keine Chance auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hatten. Demnach waren sie also gezwungen, sich irgendwie über Wasser zu halten.

Antoine sah das nächste Unwetter auf sich zukommen. In letzter Sekunde hielt Margaux inne und ließ es gut sein. Sie sahen sich an und verdrehten die Augen. Gestern Abend hatten sie sich vorgenommen, dass sie nicht die Contenance verlieren würden, was auch immer Clothilde Sturni im Schilde führen mochte. Eine echte Herausforderung für die heißblütige, linksliberal angehauchte Margaux. Seine Mutter würde sie auf eine harte Probe stellen, so viel stand fest.

Nach fast zwei Stunden konnten sie endlich die heiß ersehnten Tickets erwerben. Doch das war erst die Hälfte der Miete. Jetzt galt es, sich in die nächste Schlange einzureihen, die zum ersten Aufzug führte, der sie dann auf die zweite Ebene des Eiffelturms bringen würde. Bis zur zweiten Ebene hätte man auch laufen können. Clothildes akute Ischiasbeschwerden verhinderten diesen viel schöneren und angesichts der langen Schlange auch schnelleren Aufstieg.

Von der zweiten Ebene aus sollte es dann mit einem weiteren Aufzug bis ganz nach oben gehen. Clothildes Miene verfinsterte sich zusehends. Es war heiß, und sie hatte Durst. Schließlich ließ sie sich sogar dazu hinreißen, einem der farbigen Händler eine Flasche Wasser für drei Euro abzukaufen. Natürlich nicht ohne ihm halsabschneiderisches Geschäftsgebaren vorzuwerfen, nachdem er wieder außer Hörweite war.

»Dieser zentralafrikanische Kroppakopf knöpft mir tatsächlich drei Euro für ein elsässisches Wasser ab, das ich daheim umsonst aus dem Wasserhahn bekomme; quel culot – so eine Frechheit!«

Sturni und Margaux sahen sich nur wortlos an. Durchhalten war angesagt. Er verfluchte sich, dass er nicht wenigstens vorab die Tickets besorgt hatte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit konnten sie endlich den ersten Aufzug besteigen, der sie in Windeseile auf die zweite Ebene des Eiffelturms brachte. Im Aufzug hob sich Clothildes Stimmung wieder so weit, dass sie wohlgemut ein elsässisches Volkslied zum Besten gab, was von den im Aufzug mitfahrenden Touristen wohlwollend beklatscht wurde. Die angebotenen amerikanischen Dollars, chinesischen Renminbis und indischen Rupien lehnte sie wieder dankend ab.

 

Nachricht Christian:

»Grand-mère geht wirklich gar nicht mehr.«

Nicht so gut kam ihr Verhalten bei ihrem Enkelkind an. Christian zwängte sich in eine Ecke des Aufzugs, möglichst weit entfernt von seiner Großmutter, und blickte konzentriert auf sein portable. Die Zeit, in der grand-mère die Allergrößte gewesen war, ging zu Ende.

Zu Clothildes großer Enttäuschung konnten sie, nachdem sie das zweite Stockwerk erreicht hatten, nicht sofort zur Spitze des Eiffelturms weiterfahren. Die nächste Warteschlange stand ihnen bevor, mindestens genauso lang wie die beiden zuvor.

Irgendwie gerieten sie in der file d'attente – der Warteschlange – zwischen eine indische und eine chinesische Reisegruppe. Die Touristen aus Südasien und Fernost konnten es kaum erwarten, die Topsehenswürdigkeit ihrer Pauschalreise »Europa in einer Woche« zu erleben. Genauso erging es Clothilde. Zunehmend nervös trat sie von einem Bein auf das andere. Sie musste auf die Toilette und bekam vom langen Stehen Rückenschmerzen.

Irgendwann entschloss sie sich dazu, aktiv anzustehen. Schließlich stand ihr als Elsässerin eine bevorzugte Behandlung zu, dachte sie zumindest. Dabei hatte sie ihre Rechnung ohne die aufgeregten Inder und Chinesen gemacht, die um die halbe Welt gereist waren, um diesen Moment europäischer Hochkultur zu erleben.

Clothildes Drängelversuche wurden von einem korpulenten Chinesen und einem etwas schmächtigeren, aber keinen Deut weniger selbstbewussten Inder rüde abgeblockt. Doch so leicht ließ sich grand-mère nicht ausbremsen. Sie wurde fuchsteufelswild.

»Fer m’r a Plaisiar, mach Platz!«

Der Inder wackelte heftig mit dem Kopf und versperrte Clothilde den Weg. Clothilde hatte seine Kopfbewegungen wohl missverstanden und als Zustimmung gewertet. Umso heftiger versuchte sie nun, ihn zur Seite zu drücken.

»Mach, dass da v’rschwinsch, od’r ich känn mi nimm – mach, dass du verschwindest, oder ich vergesse mich!«

Clothilde wollte sich zwischen dem Inder und dem Chinesen hindurchschieben. Wenn sie sich aufregte, verfiel sie sofort ins Elsässische. Bestes Diplomatenfranzösisch hätte ihr in dieser vertrackten Situation aber auch nicht weitergeholfen.

Immer heftiger wackelte der Inder mit dem Kopf und erwiderte etwas auf Englisch, mit starkem indischem Akzent, was Clothilde nur noch mehr in Rage brachte. Mangels gemeinsamer sprachlicher Basis musste der Disput mit Händen und Füßen einer Lösung zugeführt werden.

Nun schaltete sich der Chinese ein, der eine dicke Spiegelreflexkamera um den Hals hängen hatte und eine teure Rolex am Handgelenk trug. Er versperrte ihr bewusst die letzte Lücke, durch die sie sich gerade hindurchdrängeln wollte.

Sturni, der etwas abseits gestanden hatte, bemerkte jetzt erst das Gerangel. Er versuchte, zu seiner Mutter vorzudringen, um größeres Unheil zu verhindern. Wenn maman einmal in Rage war, dann war sie nicht mehr zu bremsen. Schon so manches Weinfest in Ribeauvillé mussten sie unfreiwillig verlassen, weil Clothilde sich ungerecht behandelt gefühlt und eine Keilerei angefangen hatte.

Gegen die asiatische Phalanx – die neuen Herren auf dem Pariser Touristenmarkt – und deren zahlenmäßige Übermacht gab es allerdings kein Durchkommen für Clothilde. Der Chinese und der Inder gestikulierten nun beide heftig und redeten wild auf sie ein – ein hoffnungsloses Unterfangen. Antoine befürchtete, dass er sie nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, um Schlimmeres zu verhindern, und so nahm das Unheil seinen Lauf.

»Ich lang d’r eini, dü Mollakopf!«

Sie zückte ihren Regenschirm, den sie vorausschauenderweise dem »Neger« zusammen mit der Wasserflasche unter lautem Protest über den überhöhten Preis abgekauft hatte. Wahrscheinlich hatte sie schon beim Kauf den Hintergedanken gehabt, ihren Anspruch, auf die Spitze des Eiffelturms zu kommen, notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Herzhaft briet sie dem selbstbewussten Chinesen eine über. Der etwas schmächtigere Inder versuchte, seinem Leidensgenossen zu Hilfe zu eilen.

»Halt d’Gosch, dü Aarschloch, schünsch hoi i d’r eini!«

Der völlig perplexe Inder bekam nun ebenfalls sein Fett weg, und Clothilde drosch munter mit ihrem Schirm auf die beiden ein, bis er auf dem Kopf des Inders zerbarst. Das Produkt – Made in China – war qualitativ nicht auf solch extreme Belastungen ausgelegt.

Irgendwann wurde es dem Aufsichtspersonal, das etwas Ordnung in die Menschenmassen bringen sollte, zu bunt. Sie griffen sich grand-mère aus der Menge – kurz bevor Sturni sie erreicht hatte – und geleiteten sie gegen ihren massiven Widerstand zum Aufzug. Leider nicht zum Fahrstuhl nach oben, sondern zurück auf Los – nach unten.

Antoine, Margaux und Christian blieb nichts anderes übrig, als die Schlange zu verlassen und Clothilde beizustehen. Unmöglich konnten sie maman in diesem schweren Moment alleine lassen, das hätte sie ihnen nie verziehen. Nun bekamen sie endlich die von Clothilde so lautstark eingeforderte Sonderbehandlung und wurden in einen Aufzug gedrängt. Binnen weniger Minuten befanden sie sich auf dem Champ de Mars. Grand-mère war außer sich.

»Sʼhand nitamol nit Buschur gseit – Sie hatten mich nicht einmal gegrüßt.«

Selbstverständlich trug Clothilde – nach eigener Wahrnehmung – keinerlei Schuld an der Auseinandersetzung. Die Herren hatten einfach keinen Respekt vor einer älteren Dame, die einmal im Leben auf dem Eiffelturm stehen wollte. Für sie, und damit für den Rest der Familie, war der Tag gelaufen.

Antoine versuchte noch zu retten, was nicht mehr zu retten war. Sie unternahmen einen ausgedehnten Spaziergang vom Eiffelturm am südlichen Seineufer entlang in Richtung Quartier Latin. Das Wetter war traumhaft, die Uferpromenade bot viele Attraktionen für Einheimische und Touristen. Selbst einen kleinen botanischen Garten hatte man auf einer künstlichen Insel am Rande der Seine angelegt. Nichts von alldem konnte Clothildes Stimmung heben.

Er unternahm einen letzten Anlauf, und sie setzten sich in ein schönes Café direkt am Ufer der Seine. Es war hoffnungslos. Weder die traumhafte Lage noch Getränke oder Essen waren seiner Mutter genehm. Christian wurde zunehmend quengelig. Das Einzige, was seinen Sohn noch über Wasser hielt, war die Aussicht auf den morgigen Besuch von Disneyland Paris. Irgendwann hatte Antoine genug. Er brachte seine Mutter und seinen Sohn zurück ins Hotel und zog sich mit Margaux zurück. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen Christian, aber die ganze Situation überforderte ihn einfach.

***

Seine guten Vorsätze, die Contenance nicht zu verlieren, was auch immer dieses Wochenende geschehen würde, zerronnen im Nu, als sie abends in seinem chambre de bonne ankamen. Bei Olivia und ihrem heutigen Sparringspartner ging es schon wieder lautstark zur Sache. An den Austausch von Zärtlichkeiten zwischen Margaux und ihm war nicht zu denken, nicht nach so einem Tag. Nachdem sie sich entkleidet und auf seine Pritsche, die den Namen Bett nicht verdiente, gezwängt hatten, platzte Margaux der Kragen.

»Keine Minute länger halte ich das aus. Entweder deine Mutter oder ich, du musst dich entscheiden!«

Das hatte er befürchtet. Margaux hatte so viel in sich hineingefressen, dass es nun einem Wasserfall gleich aus ihr heraussprudelte. Sie schrie ihren Frust so laut heraus, dass selbst Olivia und ihr aktueller Gespiele kurz innehielten und lauschten.

Ihm war die Situation peinlich, und er versuchte, seine Freundin zu beschwichtigen. Das Problem war nur, dass es nichts zu beschwichtigen gab. Seine Mutter war unmöglich, und er wusste es. Margaux beruhigte sich erst wieder, nachdem sie ihren ganzen Ärger bei ihm abgeladen hatte. Sie drehte ihm auf der engen Pritsche den üppigen Allerwertesten zu und schlief ein. Da seine Matratze nur neunzig Zentimeter breit war und Margaux ihm bewusst keinen Platz darauf gelassen hatte, schnappte er sich sein Kissen und legte sich neben das Bettgestell auf den harten Holzboden.

Nur noch einen Tag durchhalten, dachte er bei sich und verfiel in einen unruhigen Schlaf. Über all dem Familien- und Beziehungsstress hatte er den Mordfall Wanzecki fast vergessen.