Prolog

Zoé hatte es sich in einer dunklen Ecke des kleinen Bistros am Canal Saint-Martin gemütlich gemacht und wartete auf ihren Informanten. Ihre beiden Wachhunde hatte sie ausgetrickst. Auf den unterirdischen Geheimausgang aus der palastartigen Villa ihrer Familie im 3. Arrondissement waren die beiden Dummköpfe bis heute nicht gekommen. Seelenruhig warteten sie rauchend vor dem Anwesen ihrer Eltern; anscheinend gingen sie davon aus, dass sie sich einen netten Abend zu Hause mit ihrer Familie machte.

Für ihre konspirativen Treffen nutzte sie immer dieses Restaurant, nicht ihr zweites Wohnzimmer in der Avenue de Montaigne, in dem sie bekannt war wie ein bunter Hund. Sie schätzte die Anonymität dieses Ortes. Das Bistro wurde in erster Linie von den Anwohnern des Viertels besucht; auch einige Touristen verirrten sich ab und an hierher, aber das störte sie nicht. Niemand aus ihrer sozialen Schicht, keiner ihrer Medienleute würde jemals hier aufkreuzen, das war ihr wichtig.

Sie bestellte sich einen weiteren Aperol Spritz, rauchte eine Gauloise und arbeitete auf ihrem iPad. Er hatte ängstlich geklungen, am Telefon. Ob er überhaupt kommen würde? Viele ihrer Kontaktleute machten in letzter Minute einen Rückzieher. Es war ihr tägliches Brot, schließlich war sie bei ihrer Arbeit auf Informanten wie diesen angewiesen. Menschen mit Insiderinformationen, die ihr Gewissen erleichtern wollten, ohne selbst belangt zu werden. Und ihre Informanten konnten sicher sein, dass sie allein sich öffentlich exponierte und alle Risiken auf sich nahm.

Zoé hatte ihn nicht kommen hören. Plötzlich stand er vor ihr. Klar, ihr Gesicht war in ganz Frankreich bekannt.

Der Mann stellte seine abgewetzte Aktentasche auf den Boden, nahm eine speckige Baskenmütze aus Leder vom Kopf und setzte sich unaufgefordert an ihren Tisch. Die aufmerksame Kellnerin war sofort zu Stelle.

»Einen Picon Bière bitte!«

Die Bedienung sah ihn verständnislos an, wollte sich aber keine Blöße geben und verschwand in Richtung Tresen, um den Kollegen am Ausschank zu fragen, was für ein sonderbares Getränk der verschrobene Gast bestellt hatte.

Picon Bière? Zoé lachte still in sich hinein. Gab es das überhaupt noch? Vielleicht im Elsass, in der Provinz, aber doch nicht in der Hauptstadt …

Eine graue Maus saß ihr gegenüber, der schillernden Journalistin, dem extrovertierten Star eines von sich eingenommenen Milieus. Der Mann musste um die fünfzig sein, wirkte aber viel älter mit seiner Halbglatze. Seine Haltung, seine Kleidung und sein ganzes Auftreten ließen eher auf einen Greis schließen. Den ergrauten Haarkranz hatte er sich lang wachsen lassen und über die glatt polierte Kopfhaut gekämmt. Die Frisur saß nicht mehr, nachdem er seine Mütze abgenommen hatte. Die langen Haare standen wild in alle Richtungen ab.

Obwohl es warm war, trug er einen karierten Pullover über seinem dunkelgrauen Hemd, das am Kragen ausgefranst war. Das zerknitterte Jackett hätte sie sich bei den Temperaturen geschenkt, von Qualität und Zustand des Kleidungsstücks ganz zu schweigen. Dieser Mann hatte zu Hause keine Frau, die sich um ein Minimum an Körperhygiene ihres Gatten kümmerte und auf seinen Stil achtete …

»Was haben Sie für mich?«

Zoé hielt sich nicht lange mit dem Austausch von Höflichkeiten auf, dafür fehlte ihr die Zeit. Genauso hatte sie sich ihr Gegenüber vorgestellt, ein biederer Beamter …

Umständlich öffnete er seine Aktentasche und holte einen dicken Umschlag heraus, der an den Kanten aufgerissen war. Ängstlich sah er sich dabei um, als befürchte er, beobachtet zu werden. Wenn hier jemand beobachtet wurde, dann Zoé. Sie war der Star, nicht dieser unscheinbare Staatsdiener. Madame Le Coq kannte keine Angst, hatte ähnliche Situationen schon hundertmal erlebt.

»In dem Umschlag befinden sich unveröffentlichte Gutachten, die ich in den letzten Jahren angefertigt habe.«

Zoé hatte sich vor dem Treffen über ihn erkundigt. Ein schrulliger Geselle mit einem genialen Verstand. Man durfte ihn nicht unterschätzen. Dieser Informant war wichtig für sie, vielleicht der wichtigste von allen. Zoé war selbst nicht auf den Kopf gefallen, aber nach allem, was sie über ihren Gesprächspartner in Erfahrung hatte bringen können – viel war es nicht –, schien ihr dieser Mann auf seinem Gebiet haushoch überlegen zu sein.

»Ich muss Ihnen nicht groß erklären, was in meinen Analysen steht. Sie werden alles verstehen, die Konsequenzen, vor allem die Gefahr, der wir ausgesetzt sind.«

»Sie wissen, dass ich meinen Informanten absolute Diskretion zusichere. Ihr Name wird nirgendwo erwähnt werden, und ich werde nichts veröffentlichen, was auf Sie persönlich zurückgeführt werden könnte.«

»Ich weiß, sonst wäre ich nicht hier.«

Wortlos stand er auf und verließ das Bistro, ohne sich zu verabschieden. Sein Picon Bière war noch nicht serviert worden. Wahrscheinlich suchte die Kellnerin verzweifelt im Keller nach einer verstaubten Flasche des Orangenlikörs, den schon seit Jahren niemand mehr bestellt hatte.

Zoé musste schmunzeln. Was für ein schräger Kauz! Kaum zu glauben, dass niemand an ihrer grande école in allen Jahrgängen besser abgeschnitten hatte als dieser Kerl. Gespannt öffnete sie den Umschlag und begann zu lesen.

Den Mann, der auf der anderen Seite des Kanals hinter einem Baum stand und sie fotografierte, sah sie nicht.