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Momente des Glücks

Sein Cousin lebte mit seiner Frau und den vier Kindern in einer kleinen Wohnung von gerade einmal sechzig Quadratmetern. Eigentlich gab es keinen Platz für ihn, doch die Familie rückte enger zusammen, und er konnte für einige Zeit auf einer Matratze im Flur schlafen. Immer wenn nachts jemand auf die Toilette musste, stieg er oder sie über den schlafenden Abdel hinweg. Ihn störte das nicht. Nach allem, was er durchgemacht hatte, war das für ihn das Paradies. Er liebte die Kinder seines Cousins, und sie vergötterten ihn, weckten ihn morgens, um mit ihm zu spielen, bevor sie in ihre crèche, ihre Kindergrippe, oder ihre école maternelle, ihren Kindergarten, gebracht wurden.

Für einige Zeit konnte er bei seinem Verwandten im kleinen arabe du coin am Boulevard de Charonne aushelfen, Kisten schleppen, Regale ein- und aussortieren und so weiter. Faruk hatte auch einen eigenen Marktstand, zweimal die Woche auf dem Boulevard de Charonne. Abdel liebte die Markttage, bei denen er bei Auf-, Abbau und Verkauf mithalf. Zwischen den Metrostationen Philippe Auguste und Alexandre Dumas reihten sich die arabischen und nordafrikanischen Marktstände aneinander, während jenseits der Rue de Bagnolet die alteingesessenen Pariser Betreiber ihre Delikatessen feilboten. Die Gerüche auf der nordafrikanischen Seite des Marktes erinnerten ihn an seine Heimat: frische Minze, Zitrusfrüchte, verschiedenste Gemüsesorten … Er genoss diese Tage und die damit verbundenen Erinnerungen, ohne dabei wehmütig zu werden.

Es waren wenige Wochen des Glücks für Abdel, doch schon bald nahm Faruk ihn beiseite: »Abdel, wir müssen reden. Ich habe dich bei mir aufgenommen und habe dir für eine Übergangszeit Arbeit angeboten. Jetzt ist es an der Zeit, dass du auf eigenen Beinen stehst. Meine Frau hat sich schon bei mir beschwert.«

Abdel verstand, er hatte die Gastfreundschaft seines Cousins überstrapaziert.

»Ich werde dir helfen, ein Zimmer zu suchen und einen anderen Job zu finden. Du bist doch gelernter Koch, da findest du in Paris immer etwas. Die Nachfrage in den Restaurants und Bistros ist so groß, dass viele nicht nach den Papieren fragen.«

»Danke für alles, was du für mich getan hast.«

»Du darfst auf keinen Fall in eine der gefährlichen banlieues ziehen. In den bezahlbaren Vororten gerätst du nur auf die schiefe Bahn. Ich helfe dir bei der Suche, auch wenn du dir nur ein winziges Kämmerchen leisten kannst. Deine Adresse in Paris wird mit darüber entscheiden, ob du einen Job findest und ob du irgendwann einmal eine Chance auf einen legalen Aufenthalt in Frankreich bekommst.«

So geschah es. Über Faruk konnte er ein winziges Zimmerchen in einem guten quartier anmieten. Er bürgte für ihn, und der Vermieter fragte nicht nach seinem Aufenthaltsstatus.

Ein Restaurantbetreiber, den Faruk regelmäßig mit Lebensmitteln versorgte, suchte eine Aushilfe in der Küche. Das war Abdels Chance. Es störte ihn nicht, dass er weit unter seinem Niveau beschäftigt wurde. Hatten es nicht schon andere vor ihm vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht?

Als ein Koch in dem Restaurant kurzfristig ausfiel, witterte Abdel seine Chance. Er durfte einspringen, und sein patron erkannte, nicht zuletzt dank des überschwänglichen Lobes der Restaurantgäste, was für ein Juwel er in seiner Küche als Hilfskraft beschäftigte. Von da an durfte Abdel regelmäßig kochen, und sein Chef erhöhte sein Gehalt, sodass er ein einigermaßen akzeptables Auskommen hatte.

Er konnte sogar ein wenig Geld zur Seite legen und seine Familie in Algerien unterstützen, ganz so, wie er es sich vorgenommen hatte.

Wäre er nicht illegal im Land gewesen und müsste er nicht an jeder Metrostation, bei jedem Einkauf fürchten, von der Polizei kontrolliert, aufgegriffen und in Abschiebehaft genommen zu werden, dann hätte er jetzt sein Ziel erreicht.

Abdel versuchte, sich nicht allzu viele Gedanken um seinen Status zu machen; er lebte von Tag zu Tag. Im Gegensatz zu vielen anderen Migranten hatte er Glück gehabt. Sein Leben war besser, als es daheim gewesen war. Viele Illegale bereuten ihre Reise, da sie in Paris, umgeben von Reichtum und Luxus, keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben bekamen.

An einem seiner wenigen freien Tage gönnte er sich den Besuch des Eiffelturms. Davon hatte er lange geträumt. Die Aussicht von dort oben musste einmalig sein. Zu Fuß bis auf die zweite Etage, das war günstiger als der Aufzug, und dann mit dem zweiten Aufzug bis ganz nach oben. Auf der Spitze des Turms fühlte er sich zum ersten Mal seit seiner Ankunft wirklich frei und glücklich, für einen kurzen Moment zumindest. Er reizte ihn aus, solange es nur ging, lief als einer der letzten wieder hinunter auf das Champ de Mars, wo ihn die Alltagssorgen schnell wieder einholten.