Der letzte Tag ihres gemeinsamen Wochenendes in Paris versprach ein Heimspiel zu werden: Disneyland Paris, Popcorn, Achterbahn, ein zufriedener Christian und eine zumindest abgelenkte grand-mère, dachte Sturni. Nach dem perfekten Tag im Disneyland wollte er seine Familie direkt an der Gare de l'Est in den TGV nach Straßburg setzen, dann hätte er erst einmal wieder seine Ruhe und könnte sich voll und ganz auf seinen Mordfall konzentrieren. Doch es kam alles anders als gedacht.
Bereits im RER A nach Marne-la-Vallée begann das inzwischen vertraute Spiel. Alle glotzten angestrengt auf ihre Smartphones. Sekunden später blinkte die erste Nachricht auf seinem portable auf:
Nachricht Clothilde:
»Was ist denn mit Christian los? Er will nichts essen, redet kaum ein Wort und wollte auch von meinen elsässischen Schlafliedern nichts wissen. Dabei hat er die früher so gemocht. Wie konntest du Caroline nur so vernachlässigen, dass sie dich wegen eines anderen verlassen hat. Ihr habt eine Verantwortung gegenüber eurem Sohn, den ihr durch eure Trennung sträflich im Stich gelassen habt. On ne fait pas ça – so etwas macht man nicht! Und dann hast du dich auch noch auf diese leichtlebige coureuse, dieses Flittchen, eingelassen …«
Nachricht Christian:
»Das war das letzte Mal, dass ich mit grand-mère in einem Zimmer übernachtet habe. Sie behandelt mich wie ein Baby … Du musst mit mir jede Achterbahn im Disneyland fahren, um das wiedergutzumachen.«
Clothilde schien noch nicht mitbekommen zu haben, dass ihr Enkel inzwischen sieben Jahre alt war und »LaLeLu« auf Elsässisch vielleicht nicht mehr die gewünschte Wirkung hatte.
Nachricht Margaux?
… Funkstille …
Weshalb starrte sie dann so angestrengt auf ihr Handy, und mit wem schrieb sie sich eine Nachricht nach der anderen? Gab es bereits jemand anderen in Straßburg und ihr commissaire war schon wieder abgemeldet? Bei Margaux’ Vorleben würde ihn das nicht wundern. Wahrscheinlich hatte er die durchschnittliche Halbwertszeit als ihr Liebhaber bereits überschritten. Von »Liebhaber« konnte derzeit ja ohnehin nicht die Rede sein …
Im Freizeitpark angekommen, schöpfte er für einen kurzen Moment Hoffnung, dass das Wochenende doch noch gut ausgehen würde. Sein Sohn war ganz aufgekratzt, hielt den Plan des Parks in der Hand und markierte sich alle Achterbahnen, die er mit seinem Vater fahren wollte.
Clothilde und Margaux hatten zumindest ihre mobilen Endgeräte in ihre Handtaschen gesteckt – eine schwarze Tasche aus Leder mit aufgesticktem Folkloremuster und ein giftgrünes Plastiktäschchen –, sodass von seiner Mutter keine neuen Vorwürfe per WhatsApp zu erwarten waren, und Margaux hatte den regen Austausch mit dem mutmaßlichen neuen Liebhaber vorerst eingestellt.
Sturni bezahlte schweren Herzens den horrenden Eintrittspreis, und Christian zog sie in Richtung Achterbahn. Casey Junior und Big Thunder Mountain wurden gleich von der Liste gestrichen, da Christian sie viel zu langweilig fand. Ihm dagegen hätten die Bahnen für kleinere Kinder völlig genügt. Zwar war er inzwischen wieder ganz gut in Form, doch bei dem Gedanken, dass er nun eine Achterbahn nach der anderen würde fahren müssen, drehte sich ihm der Magen um.
»Ce n’est plus la France ici – das hier ist nicht mehr Frankreich! Wie konnten sie nur so einen Schund auf französischem Boden zulassen?«
Clothilde machte aus ihrem Herzen mal wieder keine Mördergrube. An jeder Ecke wummerte irgendeine Disneyland-Musik, das hier war tatsächlich eine amerikanische Enklave auf heiligem französischem Boden.
Margaux war aufgrund der Provokationen ihrer angehenden Schwiegermutter auf Krawall gebürstet. Sie ging von einem der vielen Shops zum nächsten und kaufte sich massenhaft Nippes und Klamotten, je knalliger, desto besser.
»Clothilde, was hältst du von dem T-Shirt in Pink mit Disneyland Paris als Aufschrift? Das muss ich unbedingt haben.«
Sie ließ es sich nicht nehmen, die Neuerwerbung gleich anzuprobieren. Clothilde fiel fast in Ohnmacht, als Margaux ihr enges Top mitten in der Menschenmenge auszog und durch ihr neues pinkfarbenes Shirt ersetzte. Die beiden Damen schenkten sich wirklich nichts …
Sturni schaute auf die Uhr. Noch etwas mehr als vier Stunden musste er durchhalten, dann würde er seine Familie in den TGV setzen und erst mal tief durchatmen.
Von seinem Sohn ließ er sich in Richtung Rock 'n' Roller Coaster ziehen: hohe Beschleunigung, Loopings, alles, was sein Sohn toll fand und seinen Vater in Angst und Schrecken versetzte.
Clothilde lehnte aus Altersgründen und wegen ihrer Ischiasbeschwerden dankend ab, und so hoffte er auf einen schönen Moment mit seiner Freundin und seinem Sohn. Dafür nahm er die drohenden Schwindelgefühle gern in Kauf.
Er schärfte Christian noch ein, dass er gut auf sein nagelneues portable aufpassen und es sicher in seiner Tasche verstauen solle. Die Achterbahn setzte sich in Bewegung, und Christian kreischte vor Begeisterung. Auch Margaux liebte den Nervenkitzel. Nur Sturni wurde immer stiller, da er wusste, was nun kommen würde. Dennoch empfand er einen kurzen Glücksmoment, bevor ihm schließlich doch übel wurde. Er war mit seinen Lieben zusammen, und sie waren glücklich, das zählte.
Die Fahrt nahm er nur durch einen nebligen Schleier wahr. Während Margaux und Christian neben ihm einen Adrenalinkick nach dem anderen hatten, kämpfte er mit seinem Mageninhalt. Er war heilfroh, als die höllische Fahrt endlich vorbei war und sie die Achterbahn verlassen konnten.
»Wo ist mein portable?«
Sturni hatte wohl nicht richtig gehört. Hatte er seinem Sohn nicht deutlich eingeschärft, dass er gut auf sein nagelneues Gerät aufpassen sollte, für das Caroline und er ein kleines Vermögen investiert hatten?
»Ich muss es in der Achterbahn verloren haben. Wir müssen es suchen!«
Christian schien das Smartphone tatsächlich bei einem der Loopings aus der Tasche gefallen zu sein. Sturni sah seine Felle davonschwimmen. Der kurze Glücksmoment war passé – vorbei.
Sein Sohn brach in Tränen aus. Monatelang hatte er sich dieses Gerät gewünscht, und nun war es weg. Nachdem sie Clothilde wieder eingesammelt hatten, die gerade eine menschliche Mickey Mouse wegen ihres unfranzösischen Auftritts maßregelte, begaben sie sich auf die Suche nach dem Fundbüro.
»Wurde bei Ihnen vielleicht ein goldfarbenes portable abgegeben?«
Er hatte wenig Hoffnung. Sollte das Wochenende aber nicht total im Eimer sein, dann musste das Smartphone unbedingt wieder auftauchen … und auch noch funktionieren.
»Aber natürlich, bitte warten Sie einen Moment. Soeben wurde ein auf Ihre Beschreibung passendes Handy bei einer der Achterbahnen gefunden.« Für einen kurzen Moment schöpfte Sturni Hoffnung. Sollte ein Wunder geschehen sein? Hatte man tatsächlich Christians portable gefunden und abgegeben?
Nach einer kurzen Wartezeit kam die freundliche Servicemitarbeiterin des Fundbüros zurück und hielt tatsächlich Christians Handy in der Hand – platt gedrückt wie eine Flunder. Als er das völlig zerquetschte Gerät sah, wusste er, dass das Wochenende endgültig gelaufen war.
Sein Sohn war außer sich. Da half es auch nichts, dass er ihm versprach, das Mobiltelefon umgehend zu ersetzen.
»Was schenkt ihr dem Jungen in dem Alter auch schon ein portable. Er sollte besser mehr Zeit in Ribeauvillé in den Weinbergen verbringen.«
War ja klar, dass Clothilde ihm jetzt auch noch in den Rücken fallen musste. Dabei hatte sie das Geburtstagsgeschenk ausdrücklich begrüßt, um mit ihrem Enkel fortlaufend in Kontakt bleiben zu können.
Margaux sagte einfach gar nichts mehr. Völlig erschöpft saßen sie alle im RER, der sie zurück in die Stadt brachte. Nicht einmal Nachrichten erhielt er nun mehr. Alle drei starrten mit versteinerter Miene schweigend aus dem Fenster.
Er war heilfroh, als er seine Familie endlich wieder in den TGV setzen konnte. Liebevoll und – wie so häufig – mit einem schlechten Gewissen strich er seinem Sohn durchs verstrubelte Haar.
»Sobald ich wieder in Straßburg bin, kaufe ich dir ein neues Handy, das beste Modell, welches du ursprünglich haben wolltest.«
Christian zog ihn zu sich herab und flüsterte ihm ins Ohr. Er wollte nicht, dass seine Großmutter mithörte.
»Nach dem Wochenende ist das auch das Mindeste. Wenn ich dich das nächste Mal besuchen komme, dann nur noch mit Margaux.«
Sein Sohn hatte sich wieder gefangen, und die Aussicht auf das neueste Modell, das nur die Kinder aus bobo-Familien in seiner Schule besaßen, versöhnte ihn. Antoine würde mal wieder tief in die Tasche greifen müssen.
Clothilde überließ ihm noch die übrig gebliebenen Reste Baeckeoffe in Tupperschüsseln, bevor sie eilig den TGV in Richtung Elsass bestieg. Einen weiteren Besuch in Paris hatte er von maman nicht mehr zu befürchten. Ihr Ausflug in die große, weite Welt würde eine einmalige Aktion bleiben, was bestimmt besser für alle Beteiligten war.
Die Verabschiedung von Margaux war noch um einiges unterkühlter, als es die Begrüßung gewesen war. Sturni fürchtete ernsthaft um ihr junges Glück. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie aus Frust über ihr verkorkstes Wochenende bald das Weite, beziehungsweise die Arme des nächsten bon gars, des nächsten tollen Kerls, suchen würde.
Als er auf dem Rückweg zu seinem Dachzimmerchen in der Metro saß, musste er sich erst einmal sammeln und wieder auf seinen Fall konzentrieren. Die Arbeit würde ihm helfen, sich von seinen privaten Problemen abzulenken. Zumindest darin war er ein Meister. Schon immer hatte er sich in seine Arbeit gestürzt, wenn sein Privatleben ihn überforderte. Er war ein großer Verdrängungskünstler.
Nachricht Cédric Zeller:
»Du hast morgen ein rendez-vous mit Zoé Le Coq: Montag, 12.30 Uhr, im Restaurant Relais Plaza. Sie hat reserviert, du hättest dort keinen Platz bekommen! Du schuldest mir was. Es war nicht leicht, sie zu überzeugen.«
Das war die erste und einzige gute Nachricht des Tages. Er versuchte, sich daran hochzuziehen, dass er nächste Woche mit etwas Glück in seinem Fall weiterkommen würde. Warum wurde Edouard Wanzecki ermordet? Wer hatte ihn ermordet? Vielleicht konnte ihm Zoé Le Coq die Antworten auf seine Fragen liefern.