Ihren Zweitjob als nounou hatte Saba gerade mal wieder verloren, da der Familienvater und Hausherr ihr an die Wäsche wollte, als sie gerade die Wäsche seiner Kinder wusch. Saba war so schnell sie konnte getürmt, auf Nimmerwiedersehen, mit zwei noch ausstehenden Gehaltszahlungen, die sie ebenfalls niemals sehen würde. Weder konnte sie ihren Gehaltsanspruch einklagen, es gab keinen Arbeitsvertrag, noch konnte sie die Belästigung bei der Polizei anzeigen, sie war illegal im Land.
Ohne Zweitjob konnte sie ihre Familie im Senegal nicht unterstützen, würde selbst kaum über die Runden kommen. Sie war auf das Geld als Kindermädchen angewiesen; als Putzfrau konnte man in Paris – selbst mit Papieren – nicht überleben. Mit jeder negativen Erfahrung – und davon gab es inzwischen ziemlich viele – wuchs ihre Wut auf die sogenannte Pariser classe supérieure, die Oberschicht, die zwar reich, aber moralisch häufig völlig verkommen war. Die Kinder dieser Familien taten ihr leid, zumindest so lange, bis sie selbst anfingen, ihren erfolgsverwöhnten Eltern nachzueifern, einer génération pourri gâté bis ins Mark, verwöhnt und verzogen. Diese Menschen lebten in einem anderen Universum. Das Einzige, was Saba mit ihnen gemein hatte, war, dass sie alle in Paris lebten, sie ganz oben und Saba ganz unten – fast ganz unten.
Da sie nun ihre Nachmittage freihatte, beschloss sie, eine Bekannte zu besuchen, die nicht fast ganz unten, sondern ganz unten lebte. Eine neue Anstellung als nounou würde sich schon wieder finden.
Mit dem RER A fuhr sie von La Défense nach Châtelet – Les Halles, stieg dann aber nicht, wie sonst, um in die RER B nach Süden, in ihr schönes, sicheres quartier an der rive gauche, sondern nahm die Metro nach Nordosten bis zur Haltestelle Stalingrad.
Fatou war erst vor wenigen Tagen in Paris angekommen. Saba kannte sie noch aus ihrem Dorf im Senegal, hatte aber schon viele Jahre keinen Kontakt mehr zu ihr. Irgendwie musste sie an ihre Nummer gekommen sein, hatte sich vor zwei Tagen bei ihr gemeldet und sie um Hilfe gebeten. Sie fühlte sich ihr gegenüber verpflichtet. Noch gut erinnerte sie sich daran, wie schwer ihr damals der Beginn ihres neuen Lebens in Paris gefallen war. Als Landsleute mussten sie in dieser Welt zusammenhalten, wo man zwar ihre Arbeitskraft ausnutzte, sie selbst aber nicht wollte. Schließlich kam Fatou sogar aus dem gleichen Dorf, und ihre Familien waren gut bekannt, so etwas verband.
Sie hatte ihr mitgeteilt, dass sie in einem kleinen Zelt unter der Hochbahn zwischen den Metrostationen Stalingrad und Jaurès wohne.
»Fatou, où es-tu – wo bist du?«
Als Saba die Metrostation verlassen hatte, war sie schockiert. Unter der Hochbahn stand nicht ein Zelt, sondern eine ganze Ansammlung. Wie sollte sie Fatou hier bloß finden? Am Telefon ließ sie sich die Stelle und das kleine Zelt genau beschreiben.
Eigentlich mochte Saba diese Gegend. An ihren wenigen freien Tagen war sie ab und zu hier gewesen, hatte sich mit einer Decke am Quai de la Seine an das Bassin de la Villette gesetzt, die Sonne genossen. Das kostete nichts und war trotzdem wunderschön. Südlich des Bassins führte der Canal Saint-Martin in Richtung Seine, Bilderbuchparis für Touristen …
Es dauerte lange, bis sie Fatou endlich gefunden hatte. Ihr Anblick beschämte sie. Es war Jahre her, dass Saba in Paris angekommen war. Sie hatte die Zeit als sehr hart in Erinnerung, doch Fatou hatte es noch deutlich schlechter erwischt. Sie umarmten sich, obwohl Fatou inzwischen eine Fremde für sie war.
Ihr komplettes Hab und Gut hatte sie in einem kleinen grünen Iglu-Zelt verstaut. Viel war es nicht. Sie wirkte müde, ausgezehrt. Man sah ihr an, dass sie die Reise bis hierher an ihre Grenzen gebracht hatte, dass sie Schlimmes erlebt haben musste.
»Viens – komm, ich lade dich auf einen café ein. Wir spazieren ein wenig den Canal Saint-Martin hinunter, da kenne ich ein nettes Bistro, La Tonnellerie, du bist mein Gast.«
Fatou freute sich über die willkommene Abwechslung und sagte gerne zu.
»Qu'est-ce que tu fais là – was machst du da?«
Sie hatte begonnen, ihre Zeltstangen herauszunehmen und ihr Zelt im wahrsten Sinne des Wortes abzubrechen.
»Ich kann es mir nicht leisten, meine Sachen hierzulassen. Das ist alles, was ich besitze.«
Saba wurde bewusst, dass sie unter den Illegalen inzwischen eine privilegierte Stellung einnahm. Schon lange war sie nicht mehr »ganz unten«, hatte ein eigenes Zimmerchen in einem guten Stadtteil, einen, häufig sogar zwei Jobs und verfügte über ein eigenes Einkommen.
Man musste nur einige Hundert Meter gehen, und die kleine Zeltstadt, die sie soeben gesehen hatte, kam ihr vor wie aus einer anderen Welt, der romantische Canal Saint-Martin, kleine Fußgängerbrücken mit verliebten Paaren darauf, nette Cafés links und rechts des Kanalufers, das schöne Gesicht von Paris.
Erst zweimal hatte sie es sich gegönnt, in der Tonnellerie Platz zu nehmen und einen café zu bestellen. Normalerweise drehte sie jeden Cent zweimal um, schickte ihr ganzes Geld an ihre Eltern in den Senegal. Der Anblick von Fatou erregte jedoch so großes Mitleid in ihr, dass sie sich entschloss, ihr wenigstens für einige Stunden die wundervolle Seite von Paris zu zeigen, die ihr Hoffnung machen sollte.
»Wie ist es dir ergangen, raconte – erzähl?«
Fatous Reise war noch viel beschwerlicher gewesen als ihre eigene damals. Sie hatte viel durchgemacht, wäre fast gestorben. Sie erhoffte sich Hilfe von Saba.
Gerne hätte sie Fatou mit zu sich nach Hause genommen, sie von der Straße geholt, doch es ging nicht. Ihr kleines Kämmerchen war einfach zu winzig für zwei Personen. Außerdem lebte sie nicht ganz allein, hatte drei Mitbewohner, die sie allerdings nicht wirklich kannte. Ihr Vermieter hatte ihr ausdrücklich untersagt, Begleitung mit aufs Zimmer zu nehmen. Die Adresse in bester Pariser Lage war das Wichtigste für sie, wichtiger als ihre Jobs, die kamen und gingen. Keinesfalls konnte sie es sich leisten, von ihrem Vermieter rausgeschmissen zu werden.
Saba gab ihr einige Kontaktadressen, die ihr damals weitergeholfen hatten, in der Hoffnung, dass die Organisationen noch aktiv waren und nicht kapituliert hatten vor dem nicht abreißenden Strom illegaler Migranten, die sich Paris zum Ziel auserkoren hatten.
Sie beglich die Rechnung von ihren geringen Ersparnissen und drückte Fatou noch einige Euros in die Hand, mehr konnte sie nicht für sie tun.
Danach begleitete sie sie zurück. Als sie ihren angestammten Zeltplatz am Place de la Bataille de Stalingrad erreichten, waren alle Zelte verschwunden, die unter der oberirdischen Linie der Metrostrecke gestanden hatten. Die Polizei hatte den Platz zwischenzeitlich geräumt, wieder einmal. Einige Polizisten standen noch herum und gaben acht, dass nicht gleich wieder neue Zelte aufgestellt wurden. Fatou würde sich heute Nacht einen anderen Ort suchen müssen, um ihr Zelt aufzuschlagen, weiter draußen, unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung.
Saba umarmte Fatou und nahm die Metro zurück in ihren Stadtteil der gauche caviar, der »Kaviar-Linken«, der nur wenige Kilometer von diesem traurigen Ort entfernt war. In der Metro weinte sie stille Tränen, fühlte sich hilflos und allein, hatte Heimweh, nach ihrer Familie, nach ihrer Heimat, nach ihrem Dorf im Senegal.